Neunundzwanzig
Feierst du Thanksgiving dieses Jahr bei deinem Vater?« , fragte Laurel David. Sie saßen mit Chelsea beim Mittagessen in der Cafeteria, weil ihr üblicher Platz nach dem nächtlichen Sturm ein Schlammloch war. Chelsea hatte sich beklagt, draußen wäre es zu kalt, was sogar Laurel verstehen konnte. Deshalb mussten sie sich heute mit dem Lärm und Gewühl abfinden.
»Schön wär’s«, antwortete David. »Dann würden wir nämlich tierisch viel beim Chinamann bestellen, abhängen und drei Tage Fußball gucken. Genauer gesagt, er würde Fußball gucken und ich für die Abschlussprüfungen lernen. Aber nein, meine Großeltern haben zu einem Familienfest nach Eureka geladen. Sie sind todsicher, dass sie dies Jahr sterben werden und wollen uns vorher alle noch mal sehen.«
»Sind sie euch damit nicht schon letztes Jahr Weihnachten gekommen?«, fragte Laurel.
»Und im Jahr davor. Dabei sind sie gar nicht mal so alt. Sie sind, lass mich lügen, vielleicht fünf Jahre älter als deine Eltern.«
Es war schön, wieder mit David zu reden. Laurel hatte sowohl Tamani als auch David gefragt, was bei der Nachhilfe passiert war, aber Tamani meinte, das wäre nur was für Jungs, und David wechselte stets geschickt das Thema. Offenbar hatten sie eine Vereinbarung getroffen, einen Waffenstillstand beschlossen oder irgendwas – was, konnte Laurel sich beim besten Willen nicht vorstellen –, jedenfalls verschonten sie sich seitdem mit bösen Blicken in den Gängen und grüßten sogar hin und wieder freundlich. Außerdem hatten sie aufgehört, sie zu einer Entscheidung zu drängen, aber das konnte Laurels Meinung nach nicht von Dauer sein.
»Trotzdem, ein freier Tag ist ein freier Tag«, sagte Laurel.
»Hallo? Mit tausend Verwandten im Haus? Da komme ich überhaupt nicht zum Lernen.«
»Ich glaube, du kapierst einfach nicht, was ›freier Tag‹ bedeutet.«
»Machst du Witze? Ich hinke so was von hinterher.«
»Ach, ja, du Einserkandidat!«
»Eins plus«, wurde sie gleichzeitig von David und Chelsea verbessert. Sie sahen sich an und mussten lachen. Als Laurel ihn mit hochgezogener Augenbraue anschaute, sagte er verlegen: »Wenn man so gut ist, kommt das schon mal vor.«
Laurel verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Was bist du doch für ein Perfektionist!«
»Jaja, aber du liebst mich«, sagte David. Dann hatte er wenigstens den Anstand, rot zu werden und sich dafür zu schämen, dass er ihr altes Geplänkel wieder aufgenommen hatte.
Doch Laurel lächelte nur und drückte seine Schulter. »Aber ja«, sagte sie heiter, »das stimmt.«
Einige Sekunden lang schwiegen sie alle, bis Chelsea schnaubte. »Alle gestört, oder was?«, fragte sie grinsend.
Glücklicherweise wählte Tamani diesen Augenblick, um sich Chelsea gegenüber an den Tisch zu setzen, mit Blick auf Ryan, der sich gerade für Tacos anstellte. »Hi«, sagte er leise.
»Wo ist Yuki?«, fragte Laurel. »Habe ich sie nicht heute Morgen schon gesehen?«
»Ja, sie sagte, Klea würde sie früh abholen. Ein paar zusätzliche freie Tage.«
»Und, ist immer noch nichts passiert, an der Hütte, meine ich?«, fragte Laurel. David und Chelsea schauten sich um, ob vielleicht jemand zuhörte, aber dann steckten sie alle die Köpfe zusammen, um zu hören, was Tamani dazu zu sagen hatte.
»Kein Geräusch, keine Bewegung, kein gar nichts. Allmählich glaube ich, die Orks sind geradewegs durch den Kreis und an der Hütte vorbei gelaufen.«
»Ihr seid immer noch nicht reingegangen?«, fragte Chelsea ungläubig. »Worauf wartet ihr denn noch?«
Typisch Chelsea, fragt direkt das Naheliegende, dachte Laurel mit einem Lächeln.
»Shar findet es wichtiger herauszufinden, was sie tun. Wenn wir die Hütte stürmen und sie umbringen, wissen wir auch nicht mehr als vorher.«
»Sie sind doch in einem geschlossenen Raum«, sagte David. »Könnte da nicht Laurels Schlafzaubertrank wirken?«
»Eigentlich schon«, stimmte Tamani ihm zu. »Und da sind wir am Kern des Problems. Nichts von dem, was wir in den letzten Monaten an diesen Orks ausprobiert haben, hat funktioniert, absolut gar nichts. Und deshalb sind wir ein wenig nervös, was das Stürmen der Hütte betrifft. Wer weiß, was uns da erwartet?«
»Hey, Leute«, grüßte Ryan und setzte sich mit seinem Tablett neben Chelsea.
Chelsea lächelte ihm mechanisch zu und tätschelte seine Schulter.
»Ihr habt über mich geredet, stimmt’s?«, fragte Ryan grinsend, weil keiner mehr etwas sagte.
»Ganz falsch«, sagte Chelsea übertrieben munter, »wir haben über Elfen geredet.« Sie grinste, als Tamani Ryan erschrocken ansah. »Ich habe Tam darüber ausgefragt. Schließlich kommt er aus Irland …«
»Also, eigentlich Schottland …«
» … da müsste er ja alles über Elfen und Magie und so weiter wissen. Jedenfalls mehr als wir.«
Tamanis Miene spiegelte eine Mischung aus Schock und Bewunderung wider. Laurel musste sich den Mund zuhalten, sonst wäre ihr die Sprite aus Mund und Nase wieder herausgekommen.
»Also, Chelsea, nur weil jemand aus Schottland kommt …«, begann Ryan.
»Psst«, schimpfte Chelsea. »Tam wollte uns gerade erzählen, wie die Feinde der Elfen möglicherweise immun gegen die Magie werden, die jahrhundertelang gewirkt hat.«
»Äh«, sagte Tamani. »Ich habe keinen Schimmer.«
»Super Antwort!« Ryan hob die Hand, um ihn abzuklatschen. Als Tamani ihn verständnislos ansah, legte er die Hand wieder auf den Tisch. »Ehrlich, wenn sie einmal anfängt, über Elfen zu reden, kommst du aus der Sache nicht mehr raus. Manchmal glaube ich, sie denkt, es gibt sie wirklich. Du musst dir mal ihr Zimmer ansehen.«
Diese Bemerkung brachte ihm einen eisigen Blick von Chelsea ein. »Drei Mal darfst du raten, wer sich mein Zimmer eine Weile nicht ansehen darf!«
»Und was macht ihr an Thanksgiving?«, fragte Laurel, um das Thema zu wechseln.
»Ich fahre zu meinen Großeltern«, sagte David noch einmal.
»Und ich gehe zu meiner Oma«, antwortete Chelsea. »Wenigstens muss ich dafür nicht wegfahren.«
»Die Familie meines Vaters kommt zu Besuch«, sagte Ryan.
Erst als alle Tamani ansahen, merkte Laurel, dass sie ihn mit dieser Frage in Verlegenheit brachte.
Uups.
»Bei uns wird das nicht groß gefeiert«, sagte Tamani lässig. »Wahrscheinlich werde ich einfach faulenzen.«
»Willst du an Thanksgiving zu mir kommen?«, fragte Laurel, als sie Tamani vorm Schultor einholte. Er ging ihr seit Tagen aus dem Weg, und sie wusste nicht, warum.
Er versteifte sich. »Echt?«
»Ja klar, warum nicht?« Die Einladung sollte locker flockig klingen. »Wir bekommen keinen Besuch. Yuki ist nicht da. Du würdest sowieso hinterm Haus rumlungern, oder nicht?« Sie kicherte nervös.
Doch Tamani hatte noch immer die Stirn in Falten gelegt. »Ich weiß nicht recht. Deine Eltern sind doch da.«
»Na und? Es ist ja nicht so, als würdet ihr euch nicht kennen.« Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie wissen sogar alles über ihren Küchenboden.«
Tamani stöhnte. »Erinnere mich nicht daran.«
Er kaute auf seiner Unterlippe. »Es fühlt sich komisch an«, sagte er schließlich. »Wegen deiner Eltern. Diese Menschen haben dich großgezogen, es ist irgendwie blöd.«
»Ist es blöd, weil sie meine Eltern sind oder weil sie Menschen sind?« Als Tamani nicht sofort antwortete, boxte sie ihn auf den Arm. »Raus mit der Sprache.«
»Beides. Okay, weil sie deine menschlichen Eltern sind. Es ist nur so, dass du eben keine Menscheneltern haben solltest. Eigentlich hättest du überhaupt keine Eltern.«
»Tja, dann gewöhne dich lieber daran, denn meine Eltern gehen nicht weg.«
»Das stimmt, aber … du«, sagte Tamani. »Irgendwann. Oder?«
»Ich habe nicht vor, bei meinen Eltern zu wohnen, bis ich über vierzig bin, das ist richtig.« Laurel wich ihm aus.
»Jaja, das meinte ich nicht. Du kommst doch nach Avalon zurück, oder nicht?«
Wenn er sie so direkt fragte, war es schwerer. Sie betrachtete sekundenlang ihre Hände. »Warum fragst du mich das jetzt?«
Tamani zuckte die Achseln. »Ich wollte dich das schon länger fragen. Es kommt mir vielleicht nur so vor, aber die Angelegenheiten der Menschen werden dir immer wichtiger. Ich hoffe, du vergisst nicht, wo du … hingehörst.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich dorthin gehöre«, sagte sie aufrichtig.
»Was soll das heißen, du weißt es nicht?«
»Ich weiß es wirklich nicht.« Laurel blieb dabei. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Was würdest du denn sonst machen?«
»Ich könnte zum Beispiel aufs College gehen.« Es hörte sich merkwürdig an, wenn sie es laut aussprach. Irgendwie hatte auch sie erwartet, dass sie eher zu Avalon tendieren würde, wenn David sie nicht mehr bestürmte, in der Menschenwelt zu bleiben. Doch die Trennung von ihm hatte ihr die Entscheidung nicht abgenommen, und sie musste sich überlegen, ob sie vielleicht gar nicht ihm oder ihren Eltern zuliebe aufs College ginge, sondern weil sie selbst es gerne wollte.
»Wieso denn? Dort können sie dir nichts Brauchbares beibringen.«
»Falsch«, konterte Laurel. »Ich kann dort nur nichts lernen, was du für brauchbar hältst. Ich bin aber nicht du, Tamani.«
»Jetzt im Ernst: Das würdest du wollen? Noch mehr Schule?«
»Kann schon sein.«
»Ich muss gestehen, für mich ist es das Schlimmste, den ganzen Tag im Klassenraum abzusitzen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum du das noch länger tun möchtest. Ich hasse es.«
»Aber in Avalon tue ich doch auch nichts anderes. Egal, wohin ich gehe, überall muss ich lernen.«
»Aber in Avalon lernst du etwas Nützliches. Nicht solchen Blödsinn wie Quadratwurzelberechnung! Wofür soll man das jemals brauchen?«
Laurel lachte. »Irgendwer wird schon etwas damit anfangen können.« Sie machte eine Pause. »Ich würde ja auch nicht Mathe studieren. Abgesehen davon finde ich jegliches Wissen nützlich.«
»Meinetwegen, aber …« Doch er sprach nicht weiter, und Laurel war erleichtert, dass sie das Thema nicht vertiefen mussten. »Ich verstehe es einfach nicht«, fuhr er dann doch fort. »Dieses menschliche Beharren auf Unterricht, das interessiert mich nicht die Bohne. Die Menschen, die finde ich interessant. Dich finde ich interessant. Sogar …« Er zögerte nur kurz. »Sogar deine Eltern sind interessant. So seltsam sie auch sind.« Tamani lächelte.
»Gut. Was ist jetzt mit Thanksgiving? Kommst du oder nicht?«
Er lächelte. »Du bist doch auch da, oder?«
»Selbstverständlich.«
»So lautet dann auch meine Antwort auf deine Frage.«
»Schön.« Laurel sah ihn nicht an. »Dann kann ich dir auch zeigen, was ich über das Pulver herausgefunden habe«, flüsterte sie.
»Du hast etwas herausgefunden?«, fragte Tamani und strich über ihren Handrücken.
»Viel ist es nicht«, sagte Laurel, verwirrt von dem sanften Druck seiner Finger. »Einiges könnte aber ganz interessant sein. Hoffentlich weiß ich bis Donnerstag mehr. Ich arbeite jeden Abend nach den Hausaufgaben daran.«
»Ich habe nie auch nur eine Sekunde an dir gezweifelt«, sagte Tamani und drückte liebevoll ihre Hand.