Achtzehn
Entsetzt sah Tamani, wie Laurel hinfiel. Er untersuchte sie auf eine Verletzung, fand aber keine. »David«, sagte er, lief hektisch zum Kofferraum und rammte den Schlüssel ins Schloss. »Heb sie hoch und leg sie auf die Rückbank.«
»Wir sollten sie nicht bewegen«, widersprach David und ging neben ihr in die Hocke.
»Und was schlägst du vor?«, fragte Tamani, dessen Ärger wieder aufflammte. »Willst du etwa einen Krankenwagen rufen? Das Wichtigste ist jetzt, dass wir sie hier wegbringen. Leg sie ins Auto.«
David hob sie behutsam hoch und legte sie neben Ryan, der immer noch bewusstlos war. »Und jetzt?«, fragte er und sah Tamani an.
Tamani musterte schweigend seinen Werkzeuggürtel, der im Kofferraum lag und auf ihn wartete. In Gedanken hörte er Shar, der ihn bedrängte, den Gürtel zu nehmen und die Orks zu verfolgen. Das verlangte seine Ausbildung. Doch obwohl er die Hand danach ausstreckte, wusste er genau, dass er es nicht tun konnte. Laurel lag bewusstlos in seinem Auto. So konnte er sie nicht zurücklassen, da hätte er sich genauso gut einen Arm abhacken können. Knurrend warf er den Kofferraum wieder zu und fauchte David an: »Einsteigen.«
Er setzte sich auf den Fahrersitz und hielt gespannt den Atem an, als er den Motor kommen ließ. Beim zweiten Versuch klappte es, und Tamani stieg aufs Gas, um Laurel so rasch wie möglich in ihr sicheres Heim zu bringen.
»Sobald ich anhalte, rennt ihr schnell ins Haus«, sagte Tamani streng, bevor er in ihre Einfahrt abbog. »Von dort versuchen wir zu klären, was passiert ist. Ich nehme Yuki«, fügte er freundlicher hinzu, weil er sich dachte, dass sie ihn möglicherweise hören konnte, obwohl sie die Augen geschlossen hatte.
Er bremste scharf und stellte den Motor ab. Chelsea legte Yuki vorsichtig in seine Arme und lief los, um die Haustür zu öffnen. Tamani drückte das Elfenmädchen an seine Brust und beobachtete David eifersüchtig, als er dasselbe mit Laurel tat. Chelsea hatte ihr T-Shirt so geschickt um Yukis Kopf gewickelt, dass es nicht abfallen konnte und Yuki in dem Glauben ließ, ihr Geheimnis werde weiterhin gewahrt.
Als die beiden die Tür erreichten, führte Chelsea Laurels Vater, der nur mit einer Jogginghose und einem T-Shirt bekleidet war, zu dem beschädigten Wagen – wahrscheinlich, um Ryan ins Haus zu bringen.
»Was ist passiert?«, fragte Laurels Mutter mit Panik in der Stimme von der Tür aus.
»Wir haben ein Reh überfahren«, antwortete Tamani und sah Laurels Mutter vielsagend an, bis ihr skeptischer Blick einer verständnisvollen Miene wich. Sie zeigte auf einen Sessel, auf dem Tamani Yuki absetzte, während David Laurel aufs Sofa legte. Sofort ging ihre Mutter neben ihr in die Hocke und strich ihr übers Haar.
Nun tauchten auch Laurels Vater und Chelsea auf der Schwelle auf. Ryan hielt sich in ihrer Mitte mühsam aufrecht und stützte sich schwer auf sie. Er war wieder bei Bewusstsein, aber immer noch recht verwirrt. »Bist du mit dem Auto da?«, fragte Tamani Chelsea.
Sie schüttelte den Kopf. »David hat mich abgeholt.«
»Und Ryan?«
Sie nickte, als könnte sie gar nicht mehr aufhören. »Er hat seinen Laster hier stehen lassen.«
»Lass dir die Schlüssel geben und bring ihn nach Hause.«
Er wollte sich abwenden, aber sie fasste ihn fest am Arm. »Und was soll ich seinen Eltern erzählen?«
»Ein Reh ist uns vors Auto gelaufen.«
»Nach einem Autounfall sollte man die Verletzten wirklich nicht bewegen. Er muss ins Krankenhaus, vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung.«
»Mach, was du für richtig hältst«, sagte Tamani und flüsterte ihr noch ins Ohr: »Hauptsache, alle glauben die Sache mit dem Reh.« Dann knöpfte er sein Hemd auf, zog es aus und legte es Chelsea um die Schultern. Er sah ihr in die Augen. »Ein Mädchen, das heute Abend schon so viel richtig gemacht hat, kann mir auch noch diesen einen Gefallen tun.«
Als ein Lächeln auf ihrem Gesicht erstrahlte, wusste Tamani, dass er das Richtige gesagt hatte.
»Ich verspreche dir, dass du später in allen Einzelheiten erfährst, was passiert ist«, sagte er noch, um auch den letzten Widerstand zu brechen.
Chelsea nickte und bat Laurels Vater, Ryan kurz festzuhalten, während sie in Tamanis Hemd schlüpfte und es hastig zuknöpfte. Während sie Ryan zu seinem Laster brachten, kümmerte Tamani sich um die Übrigen und versuchte, den Schaden abzuschätzen. Laurel war immer noch bewusstlos, doch Yuki ließ unter gesenkten Lidern den Blick durch den Raum schweifen.
Tamani starrte sie an, während sie auf diese Weise abgelenkt war. In dem Augenblick, nachdem Laurel hingefallen war, hatte Tamani Yuki angesehen. Auch sie hatte Laurel angestarrt, aber mit einem Glanz in den Augen, der Tamani gar nicht gefiel. Möglicherweise litt er unter Verfolgungswahn, doch im Zusammenhang mit Yuki ereigneten sich entschieden zu viele Zufälle, genau wie bei Klea. Und an Zufälle glaubte Tamani nun mal nicht.
Die Orks hatten die Herausgabe des »Mädchens« gefordert. Aber welches Mädchen hatten sie gemeint? Nicht zum ersten Mal wünschte er, Yuki verzaubern und befragen zu können. Doch einer der wenigen Vorteile ihr gegenüber bestand darin, dass sie seine Identität nicht kannte – vorausgesetzt, sie war wirklich noch geheim. Der heutige Abend ließ ihn daran zweifeln. Dennoch konnte er es für den Fall, dass es nicht so war, nicht riskieren, diesen Vorteil für ein minutenlanges Verhör aufzugeben, das eventuell nicht einmal etwas einbrachte.
Als Yuki den Kopf hob und ihn ansah, setzte er sofort eine besorgte Miene auf und ließ sich neben dem Sessel nieder. »Geht es einigermaßen?«, fragte er.
Yuki lächelte und er musste zurücklächeln. »Besser jedenfalls.« Sie krächzte noch ein wenig. Dann legte sie eine Hand an ihren Kopf und den Verband aus Chelseas T-Shirt. »Was ist passiert?«
Tamani hätte am liebsten keine Antwort gegeben. »Ein Reh ist mir vors Auto gelaufen«, sagte er dann. »Du hast dir den Kopf gestoßen.« Er beugte sich vor, weil er es ausnutzen wollte, dass sie noch nicht wieder ganz da war. »Chelsea hat dir einen Verband gemacht – soll ich mal nachsehen?«
»Nein!« Sie riss die Augen auf, beherrschte sich aber sofort wieder. Direkt wieder auf der Hut. »Es geht, wirklich«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Klea kommt gleich, sie kann sich darum kümmern.«
Tamani zwang sich zu nicken. Da Yuki Klea herbestellt hatte, konnte er ihr vielleicht folgen, aber Laurel war immer noch bewusstlos und er musste auch noch die beiden Orks verfolgen … von Ryan ganz zu schweigen, auch wenn der sich anscheinend nicht an den Angriff der Orks erinnerte. Da Laurel Tamani mit Sicherheit verbieten würde, dem Jungen ein Gedächtniselixier zu verabreichen, würde er noch einen Menschen im Auge behalten müssen. Tamani schnitt eine Grimasse, er musste sich ranhalten.
»Laurel hat gesagt, ich soll sie anrufen«, fuhr Yuki fort, die seine Grimasse anscheinend auf sich bezog. »Ich weiß zwar nicht mehr, was ich genau gesagt habe, aber sie kommt.«
»Am besten geben wir dir Küchentücher oder so etwas«, meldete sich David plötzlich zu Wort.
Yuki befühlte sofort wieder ihren Kopf. »Ich brauche nichts anderes, so ist es gut.«
»Schon klar, aber du musst Chelsea ihr T-Shirt zurückgeben«, drängte David. Mit einem Blick zu Tamani beugte er sich weit zu Yuki hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Im nächsten Moment nickte Yuki und er ging aus dem Zimmer.
»Was ist denn mit Laurel, hat sie sich auch den Kopf gestoßen?«, brach Yuki das unbehagliche Schweigen.
»Weißt du das nicht mehr?«
Yuki schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Ich erinnere mich an den Qualm und Stimmen und …« Sie hielt inne. »Laurel ist in Ohnmacht gefallen oder so.«
»Ja, ich fürchte, sie hat sich bei dem Aufprall doch verletzt und es erst gemerkt, als alles vorbei war. Adrenalin, du weißt schon«, sagte Tamani mit einem grimmigen Lachen. Doch Yuki reagierte nicht darauf.
David kam mit einer Küchenrolle zurück. »Würdest du bitte mal beiseite gehen?«, bat er Tamani mit spitzem Blick.
Tamani wich zurück, obwohl er nicht wusste, was David eigentlich vorhatte. Offenbar hatte er irgendetwas zu Yuki gesagt, woraus sie schließen konnte, dass er über sie Bescheid wusste. Zumindest über ihr unmenschliches Blut. Diese Information hätte Tamani ihr lieber vorenthalten.
»Seht mal alle her, wer hier ist!«, rief Laurels Vater von der Haustür. Er hatte sich angesichts der offenkundigen Probleme um einen aufmunternden Ton bemüht. »Sie fuhr gerade vor, als Chelsea und Ryan abfuhren. Klea, stimmt’s? Laurel hat uns, äh, viel von Ihnen erzählt.«
Tamani war neugierig auf diese erste Begegnung mit Klea, aber er fürchtete sie auch. Klea sah genauso aus wie Laurel sie beschrieben hatte – ganz in Schwarz und heute Abend überdies in Leder, mit kurzem rotbraunem Haar und Sonnenbrille. Sie hatte etwas Einschüchterndes, und Tamani meinte zu spüren, wie Laurels Wachposten näher rückten.
Tamani beobachtete Klea und Yuki so unauffällig wie möglich. In den zwei, drei Sekunden, ehe Klea leise »Wie geht es dir?« fragte, verständigten sie sich, wie Tamani frustriert feststellte, ohne Worte.
»Ganz gut.« Yuki nickte langsam. Tamani bemerkte ihren gesenkten Blick und die Anspannung im Schulterbereich. Er hatte gerade drei Stunden mit Yuki verbracht – in denen sie einen Autounfall gehabt und von Orks angegriffen worden waren –, aber so ängstlich wie jetzt hatte sie nicht eine Sekunde gewirkt. Da Yuki so viel allein war, war Tamani gar nicht auf die Idee gekommen, sie könnte in Kleas Gewalt sein. Eine Schachfigur vielleicht, aber keine Gefangene. Doch wenn er sie jetzt so sah …?
»Sie hat sich den Kopf gestoßen«, sagte David, und Tamani bemerkte, dass er das beschmutzte T-Shirt so verstohlen wie lässig hinter seinem Rücken versteckte. »Chelsea und ich haben ihr geholfen, die Wunde zu säubern«, sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Klea.
Tamani beobachtete, dass Klea die Augenbrauen nur knapp über die Sonnenbrille hochzog, ehe sie nickte. »Okay«, sagte sie, was sicher keine Antwort auf Davids Worte war.
Als spürte sie seinen Blick, drehte Klea sich zu Tamani um. »Und wer sind Sie?«, fragte sie, ohne ihr Misstrauen zu verbergen.
»Ich bin Tam«, antwortete Tamani rasch und streckte die behandschuhte Hand aus. »Ich war mit Yuki zum Tanzen verabredet. Sie sind sicher die Dame, die sich, äh, um sie kümmert?«
Klea musterte einen Augenblick lang seine Hand, bevor sie sie ganz kurz schüttelte.
»Ich komme aus Schottland«, fügte Tamani hinzu und ließ seinen Akzent durchscheinen. »Yuki und ich, wir sind beide fremd hier. Wir haben uns gleich am ersten Tag kennengelernt. Ich …« Er senkte wie verschüchtert den Blick. »Ich bin gefahren. Es tut mir schrecklich leid.«
»Das kann jedem mal passieren«, sagte Klea herablassend. »Ich bringe Yuki jetzt nach Hause.« Plötzlich sah sie Laurel auf dem Sofa liegen. »Was hat sie denn?«, fragte sie aufrichtig besorgt.
»Wir haben nur abgewartet, bis Sie Yuki abholen konnten, und fahren jetzt mit ihr ins Krankenhaus«, antwortete Laurels Vater rasch. Die Lüge kam ihm leicht und überzeugend über die Lippen.
»Natürlich«, erwiderte Klea kurz angebunden. »Ich will Sie nicht länger aufhalten.« Sie half Yuki aus dem Sessel, nahm ihre Hand und drückte mit der anderen den Küchenkrepp an ihre Stirn. »Ich rufe in den nächsten Tagen an, um zu hören, wie es Laurel geht«, sagte sie vage in den Raum.
»Gerne«, murmelte Laurels Mutter. »Doch jetzt braucht sie erst mal einen Arzt.«
»Unbedingt«, sagte Klea und schob Yuki zur Tür.
Als sie draußen waren, seufzten alle leise auf.
Nur Tamani nicht.
Er lief zum Fenster und spähte hinaus. Vorsichtig beobachtete er, wie Klea und Yuki einstiegen – Klea fuhr einen schnittigen schwarzen Zweitürer, der in Tamanis unerfahrenen Augen extrem schnell wirkte. Erst als er im Licht der Straßenlaterne die dunklen geschmeidigen Verfolger entdeckte, drehte er sich wieder zu den anderen im Wohnzimmer um.
»Was hast du dir dabei gedacht, David?«, fragte er barsch. »Du hast ihr alles verraten!«
»Es hat sich gelohnt«, sagte David und zauberte das T-Shirt hinter seinem Rücken hervor. »Dafür habe ich das hier.«
»Ich denke, Chelsea hätte es überlebt, wenn sie es nicht zurückbekommen hätte«, sagte Tamani. »Ehrlich gesagt, habe ich gewisse Befürchtungen, dass sie mein Hemd behält, so scharf wie sie auf Souvenirs ist.«
»Du kapierst es einfach nicht«, konterte David. »Wir haben die ganze Zeit versucht, eine Probe zu bekommen, oder? Auf dem T-Shirt ist haufenweise Pflanzensaft!«
Tamani war ausnahmsweise sprachlos. Das war so einfach, so offensichtlich, so …
»Genial«, gratulierte er David zähneknirschend.
David grinste nur.
»Mom?«, krächzte Laurel schwach, doch alle hatten sie gehört.
Ihr Eltern liefen zum Sofa, und David beugte sich über die Lehne, um sie aus nächster Nähe anzusehen. Tamani zwang sich, dort zu bleiben, wo er war, und kam sich noch mehr wie ein Außenseiter vor als bei der Tanzveranstaltung, als er zusehen musste, wie Laurel sich in Davids Armen drehte und drehte.
»Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte sie verwirrt.
»Wir haben dich nach dem Unfall hierher gebracht«, erklärte David sanft.
Laurel sank zurück in die Kissen, offenbar verstand sie gar nichts mehr. Ihre Mutter drückte ihre Hand und sagte zu Tamani: »Was ist denn nun wirklich passiert? Und komm mir bloß nicht wieder mit dem Reh.«
David sah Tamani an, damit er bei der alten Geschichte bleiben konnte. Doch Tamani wusste, dass Laurel ihnen letztendlich die Wahrheit sagen würde, deshalb holte er tief Luft und erzählte ihnen alles von Anfang bis Ende, ohne etwas wegzulassen.
»Und sie ist einfach so umgefallen?«, fragte Laurels Mutter. Laurel schmiegte ihr Gesicht in ihre Hand. »Warum nur?«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Laurel nachdenklich. »Endlich war Ruhe und ich stand da und dann hatte ich plötzlich so schlimme Kopfschmerzen wie noch nie. Ich … ich glaube, ich bin einfach ohnmächtig geworden.«
»Hast du dir nicht vielleicht beim Aufprall den Kopf gestoßen?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Laurel. »Es hat sich nicht so angefühlt. Im ersten Augenblick habe ich nur den Schmerz gespürt. Und dann war da noch ein lautes Dröhnen in meinem Kopf. Und ein schrecklicher Druck – danach nichts mehr.«
Ihr Vater sah Tamani an. »Können Orks so etwas tun?«
Tamani konnte nur mit den Achseln zucken. »Keine Ahnung. Davon habe ich noch nie etwas gehört, aber das passiert mir in letzter Zeit entschieden zu oft.«
»Mein Zaubertrank hat nicht gewirkt«, sagte Laurel. »Es hätte funktionieren müssen.«
Nach kurzem Zögern fragte David: »Hast du ihn selbst gemacht?«
Laurel verdrehte die Augen. »Nein«, sagte sie trocken. »Er ist nicht von mir, sondern von einer fortgeschrittenen Herbstelfe. Von wem genau, weiß ich nicht.«
»Aber sie hätte doch auch etwas falsch gemacht haben können, oder?«, fragte David.
»Die Zaubertränke von Herbstelfen können natürlich auch fehlerhaft sein«, gab Laurel zu. Nach einer kurzen Pause fiel ihr etwas ein. »Yuki hat sich verletzt.« Sie sprach ganz langsam, als würde es sie sehr anstrengen.
»Ja«, sagte David. »Klea hat sie gerade abgeholt.«
»Klea war hier?« Laurel wollte sich aufsetzen. Ihre Mutter war ihr behilflich und legte den Arm um sie. Laurel schloss kurz die Augen, als würde sie nochmals ohnmächtig, und Tamani machte unwillkürlich einen Schritt auf sie zu. Doch dann schlug sie die Augen wieder auf.
»Ich konnte nichts dagegen unternehmen«, erklärte David. »Aber wir haben ihr die Geschichte mit dem Reh erzählt und die beiden höflich vor die Tür gesetzt. Sie … sie weiß jetzt, dass Chelsea und ich über Yuki Bescheid wissen. Es tut mir sehr leid, aber ich wusste nicht, wie ich ihr das mit dem Kopfverband sonst hätte erklären sollen.«
»Das macht nichts. Klea hat mir nicht verboten, es euch zu sagen. Und was ist mit Ryan und Chelsea? Wo sind sie?«
»Sie sind nach Hause gefahren«, antwortete David. »Vielleicht auch ins Krankenhaus. Jedenfalls ist Chelsea gefahren, und Ryans Vater wird sicher wollen, dass festgestellt wird, ob er eine Gehirnerschütterung hat. Dann müssen wir uns sicher noch einiges anhören, weil wir keinen Notarzt gerufen haben.«
Laurel zuckte mit den Schultern. »Ich werde es überleben, wenn Ryans Vater mit uns schimpft. Besser, als wenn er wüsste, was passiert ist. Das heißt … Ryan kann sich an nichts erinnern?«
»So sah es aus.« David seufzte. »Unser Glück, dass er total neben sich stand.«
»Bist du sicher, dass er sich auch nicht an die Orks erinnert?« , fragte Tamani.
»Er hat nichts gesagt, obwohl ich ihn genau befragt habe.«
»Das ist doch schon mal gut«, sagte Laurel. »Und wie geht es Yuki?«
David sah Tamani an.
»Weiß ich nicht«, gestand er. »Sie machte auch einen recht verwirrten Eindruck. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob sie die Orks bemerkt hat. Aber vielleicht hat sie auch meinetwegen gelogen. Jedenfalls tut sie so, als wüsste sie von nichts. Zumindest mir gegenüber.«
»Aber was …«
»Das reicht jetzt«, sagte Laurels Mutter und legte sie sanft aufs Sofa zurück. »Hör mal kurz auf, dir Sorgen um alle anderen zu machen, und denk an dich selbst. Geht es dir denn jetzt besser?«
Laurel nickte. »Ja, wirklich.« Sie sah wieder ganz gut aus. Doch nun musste sie gähnen. »Ich bin nur total erschöpft. Schließlich wollten wir deshalb ja auch nach Hause fahren.« Sie lachte gezwungen. Niemand lachte mit.
»Na dann«, sagte ihre Mutter. »Bringen wir unser Mädchen ins Bett.«
»Nur noch eine Sache«, sagte Tamani rasch.
»Für heute ist Schluss«, sagte David.
»Morgen kann es zu spät sein«, knurrte Tamani.
»Hört auf, euch zu streiten!«, befahl Laurel in einem Ton, der Tamani mitten in der Bewegung erstarren ließ. Er murmelte eine Entschuldigung und entfernte sich von David.
»Worum geht es denn?«, fragte Laurel schwach. Die Erschöpfung in ihrer Stimme weckte in Tamani den Wunsch, sie in den Arm zu nehmen und vor all dem hier fortzulaufen. Zurück nach Avalon, wo nichts und niemand ihr mehr wehtun konnte. Zum x-ten Mal wunderte er sich, was sie an dieser Welt – und diesem Menschenjungen – fand, dass sie so gern hier blieb und sich ständig in Gefahr brachte, um sie zu beschützen. Tamani wollte nur eins – dass sie in Sicherheit war. Sie war stark – sehr stark sogar –, aber er hatte schon größere Stämme fallen sehen, wenn der Wind heftig genug wehte.
»Ich habe Chelseas T-Shirt hier«, sagte David. »Das, mit dem sie Yuki den Kopf verbunden hat. Ich dachte, du könntest es als Probe für dein Experiment benutzen.«
Laurel staunte. »Ja, David! Das ist fantastisch!« Sie wollte aufstehen, fiel aber sofort aufs Sofa zurück. Sowohl David als auch Tamani wollten ihr helfen und streckten die Hände aus. David sah Tamani böse an. Der ließ sich nichts gefallen und verzog grimmig das Gesicht.
»Es geht schon«, sagte Laurel. »Bin nur zu schnell hochgekommen. Ich brauche diese Probe.« Tamani merkte, wie sehr sie sich anstrengte, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich muss sie heute Nacht noch ansetzen, sonst ist es zu spät.«
David zeigte ihr das T-Shirt. »Ich bringe es schon mal nach oben«, sagte er.
»Ich helfe dir«, sagte Tamani gleichzeitig. Einen Augenblick lang schwiegen alle, ehe Laurels Mutter aufstand und Laurel vom Sofa aufhalf.
»Ich werde Laurel helfen«, sagte sie sehr sanft. »Und Mark bringt das T-Shirt auf ihr Zimmer.« David reichte Laurels Vater widerwillig das T-Shirt. Laurel lehnte sich an die Schulter ihrer Mutter und vermied es, David oder Tamani anzusehen, doch Laurels Mutter warf ihnen einen Blick zu, der Tamani lebhaft an seine eigene Mutter erinnerte. »Ich würde sagen, der Abend war aufregend genug. Ich helfe Laurel beim Ansetzen der Probe und bringe sie ins Bett. Alles andere hat Zeit bis morgen. David, wenn du möchtest, kannst du gerne auf dem Sofa schlafen. Ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn du heute Nacht noch mal das Haus verlässt.« Dann fügte sie hinzu, als wäre es ihr gerade erst eingefallen: »Du kannst natürlich auch gerne bleiben, Tamani, aber …«
»Danke, nein«, erwiderte Tamani. »Ich habe heute Nacht leider noch einiges zu erledigen.«
»Ich denke, du findest allein hinaus«, sagte Laurels Mutter mit einem lachenden Unterton. Doch Tamani nickte nur und sah zu, wie Laurel mit ihrer Mutter langsam die Treppe hochging.
»Na dann«, sagte David und sah Tamani vielsagend an.
Der Elf schwieg, drehte sich um und verschwand leise durch die Hintertür. Für diese Nacht war seine Geduld mit David aufgebraucht.
Aaron gesellte sich zu ihm, sobald er die hintere Veranda verlassen hatte. »Möchtest du mir vielleicht erklären, was eben passiert ist?«, fragte er hörbar genervt.
»Wir sind von Orks angegriffen worden«, antwortete Tamani, der es satt hatte, sich zu beherrschen. »Was bedeutet, dass du voll versagt hast.«
»Wir sind Sekunden nach eurer Abfahrt dort angekommen, doch es war zu spät. Wir hatten eine einzige Spur, mehr nicht.«
»Hoffentlich bist du ihr gefolgt.«
»Selbstverständlich«, antwortete Aaron wütend. »Aber sie hörte plötzlich auf, schon wieder! Ich wüsste jedoch gerne, warum du sie nicht aufgenommen hast. Du konntest die Orks doch noch sehen!«
Im Kern empfand Tamani tiefe Schuld, aber das wollte er nicht wahrhaben. »Ich musste bei Laurel bleiben.«
»Wir hätten dafür gesorgt, dass sie heil nach Hause kommt.«
»Das konnte ich kaum wissen, schließlich wart ihr nicht da.«
Aaron seufzte. »Es ist sehr schwierig, dir zu folgen, wenn du mit dem Auto fährst.«
»Gibt es irgendetwas in unserem Leben, was nicht schwierig wäre, Aaron?«
»Du hättest ihnen folgen müssen, Tamani. Das ist deine Aufgabe!«
»Nein, deine!«, konterte Tamani lauter als beabsichtigt. »Ich muss Laurel beschützen und genau das habe ich getan.« Er wandte sich ab und verschränkte die Hände im Nacken, während er in schnellen Atemzügen Luft holte, um sich in den Griff zu bekommen. »Ich werde sie finden«, sagte er nach einer langen Pause.
»Die Spur ist längst kalt«, widersprach Aaron. Auch er wollte nicht klein beigeben.
»Egal, ich werde sie finden. In den nächsten Tagen lege ich ein paar Extraschichten ein, wenn Laurel abends sicher zu Hause ist. Ich mache es wieder gut«, versprach er mehr sich selbst als Aaron. Er wartete auf eine Antwort, aber Aaron sagte nichts. Nach einer langen Schweigepause ließ er die Arme hängen und drehte sich um. Doch er war allein im Wald.