Zwanzig

Nachdem Tamani die eine Hälfte des Schultages geschwänzt und sie im Übrigen ignoriert hatte, hatte Laurel die Nase voll davon, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie sagte die übliche Lernstunde bei David ab mit der Begründung, sie bräuchte Zeit für sich. David akzeptierte das, ohne sich etwas anmerken zu lassen oder einen Kommentar abzugeben, möglicherweise weil sie das ganze Wochenende entweder zusammen gewesen waren oder dauertelefoniert hatten. Es konnte aber auch daran liegen, dass Tamani, als er endlich wieder in der Schule aufgetaucht war, den Nachmittag damit verbracht hatte, sich bei Yuki einzuschmeicheln.

Als sie endlich zu Hause war, schleifte Laurel ihren Rucksack hinter sich her die Treppe hinauf und hatte ihre Freude an dem dumpfen Geräusch. Sie fühlte sich wie ein trotziges Kind, das die Treppe raufstapft. Es konnte eigentlich nur Tamani gewesen sein, der Ryan etwas gegeben hatte, obwohl er genau wusste, dass Laurel nicht damit einverstanden war. Und natürlich wusste er auch, dass sie ihn durchschaut hatte. Das war die einzige logische Erklärung für sein heutiges Verhalten.

Sie war nicht sauer, weil Yuki scharf auf Tamani war. Das war sein Problem.

Laurel öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und hätte beinahe laut aufgeschrien. Tamani saß an ihrem Fenster und jonglierte geschickt mit einem silbernen Messer.

»Du hast mich erschreckt!«, rief sie vorwurfsvoll.

Tamani zuckte die Achseln. »Sorry«, sagte er und ließ das Messer in der Hose verschwinden.

Laurel drehte sich schmollend um und tat so, als suchte sie etwas in ihrem Rucksack. Er stand seufzend auf.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er und blieb dicht hinter ihr stehen. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Du warst nicht da, als ich kam. Deshalb … habe ich mich selbst reingelassen.«

»Ich hatte abgeschlossen!«, sagte Laurel. Sie hatte die Tür erst vor einer halben Minute wieder aufgeschlossen.

»Menschenschlösser? Ich bitte dich«, sagte Tamani. »Da kannst du die Tür auch gleich offen lassen.«

»Ohne meine Erlaubnis solltest du wirklich nicht hier sein«, murmelte sie, weil sie weiter wütend sein wollte.

»Dann entschuldige ich mich. Noch mal«, sagte er mit einem Hauch von Genervtheit. »Ich betrete dieses Zimmer selten genug, wenn ich dir etwas bringen muss.« Er gestikulierte in Richtung ihres Arbeitstisches. »Schließlich bin ich kein Stalker und ich lauere dir auch nicht vor deinem Fenster auf.«

»Gut.« Mehr fiel ihr nicht ein. Deshalb griff sie nach der einzigen Hausaufgabe, die sie aufhatte – einer Rede, die sie eigentlich frühestens nach dem Abendessen in Angriff nehmen wollte – und setzte sich an ihren Schreibtisch, als würde sie den Text durchlesen.

»Bist du sauer?«, fragte Tamani.

»Ob ich sauer bin?« Laurel knallte die Hände auf den Schreibtisch und drehte sich zu ihm um. »Machst du Witze? Erst strafst du mich das ganze Wochenende mit Missachtung, leistest dir ein Kämpfchen mit David in der Schule, nimmst Ryan seine Erinnerungen und lässt es zu, dass Yuki in jeder freien Sekunde an dir dranhängt. Ich bin nicht ›sauer‹, Tamani, ich drehe gleich durch!«

»Ryan? Was ist mit seinen Erinnerungen?«

Laurel hob die Hand. »Komm mir bloß nicht auf die Unschuldstour. Das habe ich so was von satt.«

»Was ist mit Ryan passiert?«, wiederholte Tamani.

Jetzt warf Laurel beide Hände in die Luft. »Jemand hat ihm ein Gedächtniselixier verabreicht. Er hat einen Filmriss über zwölf Stunden. Praktisch, nicht wahr?«

»Ehrlich gesagt, ja«, sagte Tamani.

»Ich wusste es«, sagte Laurel. »Ich wusste es! Ich habe dir gesagt, dass du mir, meiner Familie und meinen Freunden nie wieder Zaubertränke geben sollst. Ich finde, ich habe mich klar ausgedrückt!«

Tamani stand einfach nur schweigend da und sah sie an.

»Aber nein«, wütete sie weiter, als wäre in ihrem Inneren etwas geplatzt, das jetzt raus musste und nicht mehr aufzuhalten war. »Nein, Tamani hat ja einen Plan. Tamani manipuliert die dummen nichtsnutzigen Menschen. Tamani hintergeht mich und lügt mich an!«

Er hielt ihrem Blick stand, bis sie wegsehen musste. »Und du fragst mich nicht mal!«

»Was hätte ich denn fragen sollen?«

»Ob ich es getan habe.«

Laurel verdrehte die Augen. »Und, hast du es getan?«, fragte sie um des lieben Friedens willen.

»Nein.«

Das brachte sie nicht aus dem Gleichgewicht. »War es einer von deinen Wachposten?«

»Nicht dass ich wüsste. Und wenn, hätte derjenige sich meinem Befehl widersetzt. Ich würde ihn seines Postens entheben und sofort nach Orick zurückschicken.«

Jetzt sah sie ihn geschockt an. Seine Stimme war zu fest, zu klar. Er log nicht. Es war ihr schrecklich peinlich. »Ist das wirklich wahr?«, fragte sie leise.

»Ja.«

Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Allmählich ließ der Groll nach, den sie den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte.

»Ich müsste mich eigentlich daran gewöhnt haben«, sagte Tamani leise.

»Woran?« Laurel war nicht scharf darauf, die Antwort zu hören.

»Daran, dass du mir nicht vertraust.«

»Aber ich vertraue dir doch«, widersprach sie, doch Tamani schüttelte den Kopf.

»Oh nein, das tust du nicht«, sagte er mit einem bitteren Lachen. »Du hast Zutrauen zu mir, du schätzt meine Fähigkeiten. Du weißt, ich rette dich, wenn du in Gefahr gerätst. Vertrauen ist etwas anderes. Wenn du mir vertrauen würdest, hättest du mich wenigstens gefragt, bevor du mich für schuldig erklärst.«

»Das stimmt, ich hätte dich fragen sollen.« Laurel fühlte sich unerträglich klein. Doch er sah sie gar nicht an, er schaute aus dem Fenster. »Wollte ich ja auch, aber du bist mir aus dem Weg gegangen! Wie hätte ich mir das denn sonst erklären sollen?« Sie stand auf und ging zu ihm. Er sollte sie ansehen! »Es tut mir leid«, flüsterte sie schließlich seinem Rücken zu.

»Ich weiß«, erwiderte er mit einem schweren Seufzer. Mehr aber auch nicht.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und zupfte an seinem Hemd. »Sieh mich an.«

Er drehte sich um und ihre Blicke trafen sich. Schon wünschte sie, er hätte es nicht getan, denn seine Miene strahlte so viel Schmerz aus – Schmerz und Verrat. Er legte seine Hand auf ihre – und aus der Qual wurde Begehren.

Laurel, die überall hingucken wollte, nur nicht in seine Augen, betrachtete die Hand, die auf ihrer lag und ihr gleichzeitig fremd und vertraut war. David hatte starke Pranken, Tamani nicht. Seine Hände waren nicht viel größer als Laurels, mit langen schlanken Fingern und perfekt geformten Fingernägeln. Sie spreizte ihre Hand unter seiner und verschob sie nur ein ganz klein wenig, bis seine Finger in die Zwischenräume glitten. Sie fühlte seinen Blick, während sie auf ihre Hände blickte, und wollte es so sehr!

Doch sie wusste, dass sie es nicht bekommen konnte.

Laurel, die weder vor noch zurück konnte oder wollte, sah Tamani voller Verzweiflung an. Er schien ihre stumme Bitte zu verstehen. Sie las Enttäuschung in seinem Blick, aber auch Entschlossenheit. Als er die Hand hob, hinterließ er einen glitzernden Abdruck auf ihrer Haut. Dann schob er ihre Hand langsam von seinem Arm.

»Es tut mir leid«, flüsterte Laurel noch mal, und es war ihr Ernst. Sie wollte ihn nicht verletzen. Andererseits konnte sie ihm nicht gewähren, was er ersehnte. Sie wurde im Moment von zu vielen Menschen gebraucht, und manchmal hatte sie das Gefühl, alle zu enttäuschen.

Nach einem langen Blick räusperte Tamani sich und sah wieder aus dem Fenster. »Wir wissen also jetzt, dass ich Ryan nichts gegeben habe«, sagte Tamani steif. »Ich werde mich vergewissern, dass es keiner der Wachposten war, und wenn es dabei bleibt, wer könnte es dann gewesen sein?«

»Spontan fällt mir nur Yuki ein.« Laurel setzte sich aufs Bett, stellte die Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn in ihre Hände. »Aber wenn sie das Gedächtniselixier zubereitet hat, muss sie eine Herbstelfe sein.«

»Ja. Wenn.« Tamani dachte nach. »Aber warum sollte sie ihm überhaupt ein Gedächtniselixier geben? Er konnte sich doch schon vorher an nichts erinnern.«

»Immerhin hat er die Orks gesehen, wenn auch nur ganz kurz. Vielleicht war es eine reine Vorsichtsmaßnahme? Für den Fall, dass es ihm später wieder einfiele?«

»Es kommt mir einfach nachlässig vor – war doch klar, dass wir den Gedächtnisverlust bemerken würden.«

»Es sei denn …« Laurel dachte laut. »Es sei denn, sie denkt das eben nicht. Wenn ihr nicht klar ist, dass ich eine Elfe bin, könnte sie doch davon ausgehen, dass ich von alldem keine Ahnung habe.«

»Womit wir wieder bei der Frage wären, ob Klea uns die Wahrheit gesagt hat, was wir im Grunde genommen alle nicht glauben«, sagte Tamani kopfschüttelnd.

»Ich traue Klea nicht über den Weg, aber sie hat nie etwas Verdächtiges getan, außer dass sie uns netterweise mehrmals das Leben gerettet und mit Pistolen versorgt hat. Vielleicht sollten wir mit diesem Verfolgungswahn aufhören und ihr endlich Vertrauen schenken.« Begeisterung klang anders.

Tamani zuckte die Achseln. »Kann sein. Ich weiß nicht recht.« Indizienbeweise reichten nicht aus – wenn sie doch endlich wüssten, ob Yuki eine Mixerin war oder nicht! »Wie lief dein Experiment denn an diesem Wochenende? Hat es funktioniert?«

Laurel ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf die Matratze fallen. »Wie man’s nimmt. Haben die Zellen unter der Leuchtkugel lang genug überlebt, um das Leuchtmittel zu verarbeiten? Ja. Habe ich daraus etwas Nützliches gelernt? Nein.«

»Wie war denn das Ergebnis?«

Laurel stand auf und ging zu dem Experiment. Auf ihrem Schreibtisch standen noch immer zwei kleine Glastiegel mit klaren klebrigen Ablagerungen und daneben die geschlossene Leuchtkugel. »Das ist Yukis Pflanzensaft. Der andere ist von mir. Ich wollte ihn nicht mit Zuckerwasser verdünnen … ich war mir nicht mal sicher, ob es mit dem Leuchtmittel funktionieren würde. Aber das hat geklappt und beide Proben haben geleuchtet. Meine glühte eine halbe Stunde, Yukis eine Dreiviertelstunde.«

»Aber Katya hat gesagt, sie hätte die ganze Nacht geleuchtet!«

Laurel nickte. »Sie hat aber auch gesagt, dass sie das Zeug phiolenweise geschluckt haben, und es leuchtet ein, dass ein Großteil der Fotosynthese in der Haut geschieht. Ich weiß einfach nicht, ob der Unterschied von einer Viertelstunde die Möglichkeit ausschließt, dass Yuki eine Herbstelfe ist.«

»Willst du auch noch eine Probe von meinem Pflanzensaft dagegen halten? Vielleicht wäre der Unterschied ja größer.«

»Das würdest du machen?«

Tamani holte sein silbernes Messer heraus und ritzte sich in den Daumen, ehe Laurel etwas dagegen sagen konnte. Er drückte einige Tropfen Pflanzensaft in einen leeren Tiegel. Laurel schaltete die goldene Leuchtkugel ein und ließ sie darauf scheinen. Es passte ihr gar nicht, dass er sich so gerne für sie opferte, aber da er es nun mal getan hatte, sollte es sich auch lohnen. Mit einer kleinen Pipette fügte sie ein wenig Leuchtmittel zu seinem Pflanzensaft, der sofort in einem sanften Weiß erstrahlte.

»Ich gehe jetzt lieber«, sagte Tamani, ohne sie anzusehen, und wandte sich zur Tür, während er seinen Daumen mit einem Stück Stoff verband.

»Willst du nicht abwarten, wie lange es leuchtet?«, fragte Laurel, die ihn nicht gehen lassen wollte.

»Du wirst mir schon erzählen, was daraus geworden ist.«

»Ich bringe dich zur Tür.« Laurel rappelte sich auf, sie wollte nicht auch noch all ihre Gastgeberpflichten vermasseln.

Schweigend gingen sie nach unten zur Haustür. Tamani hatte schon die Hand auf der Türklinke, als ihm noch etwas einfiel. »Laurel, ich … ich glaube, ich kann nicht …« Er leckte sich über die Lippen und sah sie so entschlossen an, dass Laurels Atem schneller ging.

Doch in dem Moment erlosch das Feuer in seinen Augen wieder. »Vergiss es«, murmelte er und riss die Tür auf.

David stand auf der Veranda und machte einen ebenso überraschten Eindruck wie Laurel. »Ich habe deinen Notizblock in meinem Rucksack gefunden«, sagte er und zeigte ihr das grüne Heft mit Spiralbindung. »Ich muss ihn aus Versehen mitgenommen haben und wollte ihn dir zurückbringen …« Er wurde immer leiser.

Tamani gab sich geschlagen, das konnte auch David nicht übersehen. Mit gesenktem Kopf schlüpfte er zwischen David und der Tür hindurch und sah sich nicht einmal mehr um.

David schaute ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann drehte er sich zu Laurel um.

»Danke«, sagte sie und nahm ihm den Notizblock ab.

Er sah sie weiter schweigend an.

»Bis morgen«, sagte Laurel entschlossen.

»Aber …«

»Mir fehlt die Energie für ein – weiteres – Gespräch dieser Art«, wehrte Laurel ab. »Wenn du morgen noch darauf bestehst, können wir darüber reden. Ich fände es aber sehr schön, wenn du bis dahin wieder klar denken könntest.« Mit einem genervten Lächeln schloss sie die Tür.