Elf
Laurel prüfte ihr Spiegelbild, um zu sehen, ob der Knubbel auf ihrem Rücken wirklich so groß war oder ob sie übertrieb. Am Ende ließ sie ihr Haar locker fallen und hoffte das Beste. David war wegen einer Versammlung der National-Honor-Society schon eher zur Schule gefahren, und Laurel wollte zu Fuß gehen, damit sie später mit ihm zurückfahren konnte. Auf dem Weg nahm Laurel sich noch einen Apfel aus der stets gut gefüllten Obstschale in der Küche, rief ihren Eltern zum Abschied zu und eilte in den morgendlichen Sonnenschein hinaus.
»Soll ich dich mitnehmen?« Tamani fuhr mit dem Cabrio vor, aber Laurel zögerte. Sie waren befreundet, und sie wusste, dass eigentlich nichts dagegen sprach, mitzufahren. Andererseits hatte er seine Absichten unmissverständlich klargemacht, und sie wollte ihn nicht ermutigen oder gedankenlos warmhalten, wie sie es letztes Jahr getan hatte. Aber eine Fahrt im Cabrio war genauso erfrischend wie ein Spaziergang, wenn nicht besser – und sie liebte den Wind im Gesicht. »Danke«, sagte sie lächelnd, öffnete die Wagentür und stieg ein.
»Wie klappt es mit dem Mixen?«, fragte Tamani, als sie in der Ferne den Schulparkplatz sahen.
»Ich bin mit der zweiten Leuchtstoffportion fast durch«, antwortete Laurel. »Es geht langsam, aber dafür bin ich sicher, dass ich es diesmal richtig gemacht habe.«
»Ein guter Zeitpunkt für ein Geschenk!« Tamani reichte ihr ein kleines, in Stoff gewickeltes Päckchen.
An der Größe und der Form erkannte Laurel, dass es sich um die ersehnte Leuchtkugel handelte. »Vielen Dank! Wenn ich Glück habe, blühe ich morgen, dann können wir endlich anfangen.«
»Gern geschehen«, sagte er. »Aber ich frage mich, ob du das Experiment nicht lieber vorher an lebenden Elfen ausprobieren solltest. Ich meine, wenn ich das richtig verstanden habe, hast du im Augenblick vor, die Pflanzenzellen am Leben zu erhalten und das Leuchtmittel bei ihnen anzuwenden. Wäre es nicht besser, das getrennt durchzuführen? Womit ich dir nicht ins Mixen hereinreden will«, fügte er eilig hinzu.
»Nein, du hast ja recht«, gab Laurel widerstrebend zu. David hatte sie schließlich auch gebeten, den Leuchtstoff zu trinken. »Aber ich kann doch nicht leuchtend zur Schule gehen, wenn du weißt, was ich meine.«
»Musst du vielleicht auch nicht. Wir sind doch kurz vorm Wochenende. Hat Katya nicht gesagt, dass es über Nacht wieder vergeht? Und wenn du es mit uns beiden machst, kennen wir schon mal den Unterschied zwischen Frühling und Herbst.«
»Kann sein«, sagte Laurel zerstreut. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, das Zeug zu trinken. Könnte man es nicht einfach lokal anwenden?« Sie wurde immer leiser, während sie überlegte, wie sie ihre Theorie am besten überprüfen sollte.
»Laurel?«
Sie kehrte in die Gegenwart zurück. »Was?«
Tamani lachte. »Ich habe drei Mal deinen Namen gesagt.«
Sie standen auf dem Parkplatz. Mehrere Schüler liefen im Slalom durch die geparkten Autos zur Schule. Laurel fühlte sich in dem offenen Auto bedrängt.
»Warte«, sagte Tamani und verlangte noch mal kurz ihre Aufmerksamkeit. »Ich wollte mit dir über Yuki sprechen.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Laurel.
»Ich habe … sie angesprochen … und nach Hause begleitet.«
»Oh, gut. Gut«, sagte Laurel, die sich in Tamanis Cabrio auf dem Schulparkplatz wie auf dem Präsentierteller fühlte. Als sie zum Eingang schaute, entdeckte sie David oben an der Treppe; er wartete auf sie. Anscheinend war die Versammlung früher zu Ende gewesen. Als er Tamanis Wagen sah, ging er nach kurzem Zögern darauf zu. Gleich würde er da sein.
»Ich arbeite weiter daran und hoffe, dass sie allmählich auch freundlicher zu dir ist«, sagte Tamani, aber sein Blick ging über ihren Kopf hinweg.
Als Laurel sich umdrehte, sah David ihr in die Augen und lächelte verkniffen. »Darf ich dir das abnehmen?«, fragte er und öffnete die Beifahrertür.
»Ja, gerne«, sagte Laurel, warf ihre Tasche über die Schulter und stieg aus.
»Ich wusste nicht, dass du gefahren werden wolltest«, sagte David. Er sah abwechselnd Laurel und Tamani an. »Du hättest mich anrufen können.«
»Du warst doch in der Versammlung«, sagte Laurel achselzuckend. »Ich wollte heute Nachmittag mit dir zurückfahren, deshalb bin ich zu Fuß gegangen.«
»Und da bin ich zufällig vorbeigekommen«, sagte Tamani kühl und lässig.
»Als ob«, sagte David zu Tamani, legte Laurel den Arm um die Schulter und schob sie von dem Cabrio weg.
»Laurel?«, rief Tamani ihr nach. »Wie steht’s damit? Am Wochenende?« Er legte eine fette Andeutung in die Worte und David schluckte den Köder.
»Womit?« Jetzt war ihm die Anspannung deutlich anzumerken.
»Nichts«, sagte Laurel leise und stellte sich zwischen die beiden jungen Männer – in der Hoffnung, wenn sie einander nicht sehen könnten, würden sie aufhören, sich anzugiften. »Er hilft mir bei … dieser Sache, über die wir gesprochen haben. Bei der Überprüfung.«
»Aber wir wollten doch am Wochenende für die Zulassungstests fürs College lernen«, sagte David enttäuscht.
»Ich würde sagen, eure Menschenprüfungen sind ihr geringstes Problem.«
»Oh Mann!« Laurel sah sie beide böse an. »Was soll das werden?«
David verschränkte schuldbewusst die Arme vor der Brust und Tamani sah aus wie ein Kind, das man mit einer Hand in der Keksdose erwischt hatte. Laurel sah sie abwechselnd an und senkte die Stimme. »Wie ihr wisst, ist hier eine Menge los, und ich habe wirklich keine Zeit, den Babysitter für euch zu spielen. Lasst stecken, ja?« Dann knallte sie die Wagentür zu und ging rasch zum Eingang.
»Laurel, warte!«, rief David.
Sie ging einfach weiter.
Er holte sie erst an den Schließfächern ein.
»Es tut mir leid. Ich … ich bin einfach ausgerastet, als ich dich mit ihm gesehen habe. Das war blöd.«
»Stimmt«, erwiderte Laurel.
»Es ist … ich finde es eben schrecklich, dass er hier ist. Am Anfang ging es ja noch, aber seit er ständig Hi zu dir sagt, wenn wir mal zusammen sind, und jetzt auch noch mit dir zusammenarbeiten will …« Er grinste verlegen. »Falls du dich erinnerst, habe ich mich auch auf diese Weise an dich rangemacht.«
»Darum geht es hier aber nicht«, sagte Laurel und klappte ihr Schließfach zu. »Wir haben Wichtigeres zu tun und dein Ego ist mir dabei schwer im Weg.«
»Mein Ego!«, protestierte David. »Wir wissen doch beide, dass er nicht nur auf dich aufpassen will. Da finde ich es nur verständlich, wenn ich mich aufrege.«
»Da hast du natürlich vollkommen recht«, fauchte Laurel, »wenn du kein Vertrauen zu mir hast!« Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg zu ihrem ersten Kurs, ohne sich noch einmal umzuschauen.
»Jungen sind einfach furchtbar!«, schnaubte Laurel und warf ihren Rucksack neben der Kasse im Laden ihrer Mutter auf den Boden.
»Ah, Musik in meinen Ohren«, sagte ihre Mutter lächelnd.
Obwohl sie noch die Augen verdrehte, musste Laurel zurücklächeln.
»Heißt das, du bist auf der Flucht vor besagten Jungen?« , fragte ihre Mutter. »Und, möchtest du auch ein wenig Hand anlegen?«
»Ich helfe dir hier immer gerne, Mom«, sagte Laurel. Seit Laurel und ihre Mutter ihre Probleme im letzten Jahr geklärt hatten, sprang Laurel in ihrem Geschäft sogar häufiger ein als in der Buchhandlung ihres Vaters nebenan. Mittlerweile hatte ihre Mutter eine Teilzeitangestellte, was es hin und wieder schwierig machte, offen zu reden, aber nachmittags an einem normalen Schultag hatten sie den Laden für sich.
»Was soll ich machen?«, fragte Laurel.
»Ich habe zwei Kisten mit Ware geliefert bekommen«, antwortete ihre Mutter. »Wenn wir zusammenarbeiten, können wir sie einsortieren und uns gleichzeitig unterhalten.«
»Gute Idee.«
Sie arbeiteten eine Weile schweigend, ehe ihre Mutter das Thema anschnitt. »Kann es sein, dass David in punkto Liebe ein bisschen zu kurz kommt?«
»So ähnlich«, murmelte Laurel. »Nicht wirklich natürlich, aber er stellt sich ganz schön an. Das mit Tamani hatte ich dir erzählt, oder?«
»Durchaus«, antwortete ihre Mutter lächelnd. »Aber ich nehme an, das war noch nicht alles.«
»Nicht ganz. Er mischt sich ein bisschen in unsere Beziehung ein. Und David ist eifersüchtig.«
»Hat er Grund dazu?«
Laurel dachte nach, weil sie die Antwort selbst nicht wusste. »Kann sein?«
»Ist das eine Frage?«
Sie mussten lachen, und Laurel hatte das Gefühl, als wäre eine Last von ihr genommen, seit sie mit ihrer Mutter darüber sprechen konnte.
»Das hört sich an, als hättest du deinen Standpunkt gut vertreten«, sagte ihre Mutter und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Habt ihr euch getrennt?«
»Nein!«, antwortete Laurel heftig.
»Das heißt, du bist immer noch glücklich mit ihm?«
»Ja! Er ist super. Vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag. Deshalb trennt man sich doch nicht gleich. Er ist genervt wegen Tam … ani.« Seit er sogar in der Schule so genannt wurde, hatte sie sich an die Kurzform seines Namens gewöhnt.
»Aber für Tamani hast du auch etwas übrig?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Laurel. »Schon, aber es ist nicht so wie bei David.« Laurel legte den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter. Jetzt war sie noch verwirrter als zuvor. »Ich liebe David. Er hat immer zu mir gehalten und mir bei allem geholfen.« Sie lachte. »Und wenn ich alles sage, weißt du, was ich meine.«
»Ja, ja, ich weiß«, erwiderte ihre Mutter mit einem schiefen Lächeln. »Aber in der Liebe muss man genauso an sich denken wie an den anderen. Man kann sich nicht dazu zwingen, jemanden zu lieben, nur weil man das Gefühl hat, man sollte es. Es reicht nicht, jemanden nur lieben zu wollen.«
Laurel sah ihre Mutter schockiert an. »Soll das heißen, du rätst mir, mit David Schluss zu machen?« Die Vorstellung machte ihr Angst.
»Nein, auf keinen Fall«, antwortete ihre Mutter. »Ich mag David. Tamani kenne ich ja gar nicht – was man übrigens vielleicht demnächst mal ändern könnte.« Sie legte ihre Hand auf die von Laurel. »Ich sage nur, dass du nicht aus den falschen Gründen mit ihm zusammenbleiben sollst, selbst wenn du es nur gut meinst. Du bist es niemandem schuldig, seine Freundin zu sein. Das ist deine Entscheidung, die du täglich von Neuem triffst.«
Laurel nickte bedächtig. »Ich liebe ihn, Mom.«
»Das weiß ich doch. Aber es gibt viele verschiedene Arten von Liebe.«