Vierundzwanzig

Laurel trödelte in ihrem Auto, sie hatte Magenschmerzen vor Angst. Es war fast noch schlimmer als an dem ersten Tag in der Schule vor zwei Jahren. Damals hatte sie befürchtet, sich vor lauter Fremden lächerlich zu machen, und jetzt musste sie zur Schule gehen und damit leben, dass sie sich tatsächlich lächerlich gemacht hatte – vor einem Haufen Leute, die sie gut kannte.

David unter anderem.

Sie hatte wohl noch nie so viel Schiss davor gehabt, ihn zu treffen. Ihre widersprüchlichen Gefühle machten sie fertig. Einerseits vermisste sie ihn, wollte es jedoch nicht zugeben. Andererseits war sie froh, dass sie ihn abserviert und ihm ein für alle Mal klargemacht hatte, wie ernst es ihr war. Aber das kleine Mädchen in ihr wollte sich einfach nur heulend in seine Arme werfen und um Verzeihung bitten.

Sie schloss das Auto ab und erwog, so lange auf dem Parkplatz herumzulungern, bis sie zu spät kam. Doch nachdem sie gestern schon geschwänzt hatte, konnte sie sich das kaum leisten. Ihre Eltern hatten beschlossen, dass sie und nicht die Schule für ihre Bestrafung zuständig waren. Infolgedessen hatte ihre Mutter in der Schule angerufen und Laurels Abwesenheit im Nachhinein entschuldigt. Aber dafür erwarteten ihre Eltern, dass sie eine Zeit lang alle Schulregeln befolgen würde, das wusste sie.

Seufzend machte Laurel sich auf den Weg zu ihrem Schließfach.

Als sie zum Eingang kam, wurde eine der Türen aufgemacht und David tauchte auf. Laurel blieb ruckartig stehen und sah ihn an. Er sah so traurig aus. Dabei trug er es gar nicht nach außen, sondern hatte ein einigermaßen überzeugendes Lächeln aufgesetzt. Doch seine Augen waren in tiefblauer Trauer versunken, die ihr den Atem raubte.

»Hi, Laurel«, flüsterte er.

Jetzt hätte sie sich ihm wirklich beinahe in die Arme geworfen, so betroffen war sie von seiner Traurigkeit.

Doch schon war auch Tamani zur Stelle und hielt ihr die andere Flügeltür auf. »Hi, Laurel.« Sein Lächeln war frech und selbstbewusst.

Laurel bekam wackelige Knie. »Hört auf«, flehte sie erstickt.

David drehte sich auf dem Absatz um und ging wortlos davon. Tamani dagegen sah sie verwirrt an.

»Ich wollte nur nicht, dass er dich belästigt …«

Laurel packte Tamani am T-Shirt und schob ihn mit Gewalt um die Ecke.

»Hey, wenn du mit mir abhauen willst, brauchst du nur zu fragen«, sagte Tamani lachend. Doch das Lächeln verging ihm, als er Laurels Gesicht sah. »Was ist los?«, fragte er ernst.

»Wir sind nicht zusammen, Tam.«

»Verstehe, ich kann dich nicht vor Yuki küssen, aber …«

»Nein. Ich habe dich sehr gern und ich bereue nicht, was gestern passiert ist, aber ich weiß nicht, was es bedeutet. Ich bin immer noch dabei, mich zu sortieren. Dadurch, dass ich mit David Schluss gemacht habe, bist du nicht automatisch aufgerückt.«

»Heißt das, ich muss weiter warten?«, fragte Tamani nach einer kurzen Pause.

»Irgendwie schon. Vielleicht. Keine Ahnung! Aber wie auch immer, ich bin keine Waffe und ich werde es nicht zulassen, dass du mich benutzt, um ihm eins auszuwischen.«

»Das hat er auch die ganze Zeit getan«, brauste Tamani auf.

»Ja«, stimmte Laurel ihm zu. »Und jetzt hat er keine Freundin mehr. Willst du das?«

Langsam bekam Tamani es mit der Angst.

»Ich will jetzt keinen Freund in meinem Leben haben, und wenn du möchtest, dass ich es mir jemals anders überlege, solltest du dich entsprechend benehmen.« Als sie ihn mit ihrem strengsten Blick bedachte, schaute er weg.

»Aber das mit David und dir ist endgültig vorbei?«, fragte Tamani schließlich.

»Weiß ich nicht«, sagte Laurel. Das war die einzig mögliche Antwort. »Im Moment ja. Ich brauche Zeit, Zeit für mich. Allein. Das kommt dir auch zugute«, fuhr Laurel fort, ehe Tamani etwas dazu sagen konnte. »Man hört nicht von einem Tag auf den anderen auf, jemanden zu lieben. So einfach ist das nicht.«

»Das sind die wenigsten wirklich guten Dinge im Leben. « Tamani seufzte verstört, aber da klingelte es schon. Laurel erschrak.

»Wir müssen in die Schule. Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.«

Tamani nickte. Sein Lächeln war verkniffen, aber es ging ihm einigermaßen, so gut wie es unter diesen Umständen möglich war. Laurel umarmte ihn spontan und schmiegte sich an seine Brust. Er versuchte nicht, sie zu küssen, und sie machte ebenfalls keine Anstalten. Es war schön genug, seine starken Arme zu spüren. So hatte sie das Gefühl, dass irgendwie doch noch alles gut werden würde.

Laurel drückte ihn ein letztes Mal und wollte gerade zum Eingang zurück, als sie beinahe ihren Rucksack fallen gelassen hätte. Shar kam über den Parkplatz auf sie zu, in Jeans und einem weiten T-Shirt, das Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz gezähmt, der ihm locker auf den Rücken fiel.

»Was macht der denn hier?«

»Oh«, sagte Tamani, als fiele es ihm gerade wieder ein. »Der stellvertretende Rektor hat um ein Gespräch mit mir und meinem ›Onkel‹ gebeten. Wegen gestern.« Tamani zuckte die Achseln.

Laurel zog die Augenbrauen hoch, als Shar, der mit stählernem Blick alles beobachtete, näher kam. »Tja, obwohl ich da gerne Mäuschen spielen würde, muss ich jetzt sofort gehen.« Mit diesen Worten verschwand sie durch die Eingangstür und fing an zu rennen, um es bis zum letzten Klingeln in den Klassenraum zu schaffen.

 

»Mr Collins«, sagte der stellvertretende Rektor, Mr Roster, schlug eine Akte auf und legte sie auf seinen Schreibtisch. Dann setzte er sich auf seinen quietschenden Bürostuhl.

Ich hasse ihn, dachte Tamani.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte Mr Roster zu Shar.

Wie Tamani erwartet hatte, wollte Shar sich gar nicht erst setzen, sondern stand mit verschränkten Armen vor dem Menschen, den er mit einer unmissverständlichen Arroganz ansah. Tamani, der nur selten erlebt hatte, dass Shar einen anderen Blick aufsetzte, musste schmunzeln, als er sich vorstellte, wie er auch seine Gefährtin Ariana so angesehen hatte und wie sie es ihm abgewöhnt haben mochte. Er musste hüsteln, um sein leises Lachen zu kaschieren.

Shars Blick wanderte von ihm zu Mr Roster und zurück. »Keine Ursache«, sagte er aalglatt. »Und worin liegt das Problem?«

»Tam hat sich gestern geschlagen«, sagte der stellvertretende Direktor und sah Tamani streng an.

Shar verzog keine Miene. »Wenn ich richtig informiert bin, wurde Tam angegriffen und hat sich daraufhin verteidigt.«

Mr Roster geriet ins Stottern. »Äh, ja, aber vorher wurde ordentlich geschubst, woraufhin …«

»Mein … Neffe soll also bestraft werden, weil der andere Junge sich nicht beherrschen konnte?«, fragte Shar unbeeindruckt.

»Die beiden Jungen haben sich nichts geschenkt und deshalb werden auch beide Jungen bestraft, so ist es hier Usus«, erklärte Mr Roster mit fester Stimme. »Da Tam erstmals auffällig geworden ist, hoffen wir selbstverständlich, dass sich dieser Vorfall nicht wiederholen wird …«

»So etwas wird nicht wieder vorkommen«, sagte Shar und sah Tamani mit hochgezogenen Augenbrauen an, der sich bereits einiges hatte anhören müssen, weil er die Beherrschung verloren hatte. Ausgerechnet gegenüber David, der ihnen mit seinem Wissen über Avalon eine Menge Probleme bereiten könnte, wenn er wollte. Die Strafpredigt von seinem Vorgesetzten war weitaus schlimmer gewesen als alles, was diesem menschlichen Verwaltungsheini einfallen konnte.

»Das freut mich zu hören. Nun, Mr Collins, dann darf ich die Gelegenheit ergreifen, noch ein anderes Thema anzuschneiden. Möglicherweise wissen Sie gar nicht, dass Ihr Neffe fast in jedem der von ihm belegten Kurse durchzufallen droht. Er erscheint so gut wie nie zum Unterricht und trägt im Allgemeinen erheblich zur Störung der Lernatmosphäre bei.«

Das Letzte war eine freche Lüge, fand Tamani. Er störte nie. Er zeigte auch nie auf, um eine Frage zu beantworten, sondern saß meistens die Zeit ab und lauschte nach irgendwelchen Anzeichen einer Bedrohung für Laurel. Wenn man seine Noten und seine gelegentlichen Schwänzereien außer Betracht ließ, war er ein vorbildlicher Schüler.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Shar ausdruckslos, was den stellvertretenden Rektor sichtlich nervös machte.

»Ja, nun, normalerweise schließen wir Schüler, die sich geschlagen haben, einige Tage vom Unterricht aus. Aber bei seinen schlechten Noten wäre eine andere Strafe vielleicht geeigneter. Damit … er sich bessert.«

Als Shar Mr Roster einen Augenblick lang verständnislos ansah, hätte Tamani beinahe gegrinst. Trotz seines Intensivtrainings auf dem Landgut hatte Shar die Feinheiten des menschlichen Schulsystems nie wirklich begriffen. Es war ihm aber auch völlig egal.

»Und was schwebt Ihnen vor?« Zum ersten Mal merkte Tamani, wie altmodisch Shar sich ausdrückte, erst recht verglichen mit den Jugendlichen, mit denen Tamani es alltäglich zu tun hatte. Es war wirklich gut, dass Shar und er Englisch mit Akzent sprachen – anscheinend verschleierte ein guter Akzent auch grammatikalische Unebenheiten.

»Ja, also wenn er mit seinen Klassenkameraden den Abschluss schaffen will, muss er sich in allen Fächern verbessern.« Mr Roster faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Was halten Sie von Förderunterricht?«

»Selbstverständlich. Wenn Sie es für erforderlich halten.« Shar gab Tamani einen Klaps auf die Schulter, der für ungeübte Augen sicher freundlich wirkte – doch er würde einen blauen Fleck davontragen. »Wir möchten natürlich, dass Tam seinen Abschluss macht.« Der stellvertretende Rektor würde den Ernst in diesen Worten hören, doch nur weil Shar keine Lust mehr auf dieses Gespräch hatte. Eine leichte Erwärmung in der Brust verriet Tamani, dass Shar den Mann verzauberte. Sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass es zu viele anonyme Zeugen für den Schlagabtausch gegeben hatte, als dass Gedächtniselixiere angebracht wären. Tamani sollte die Strafe annehmen, die vom Rektor für ihn vorgesehen war – vorausgesetzt, sie behinderte ihn nicht bei der Erfüllung seiner Aufgabe. Shar war aber auch der Meinung gewesen, dass sie die Sache mit einer leichten Verzauberung verharmlosen könnten, solange Yuki nicht in der Nähe war und es spüren könnte.

Das musste allerdings Shar erledigen, denn er war hochbegabt und konnte jemanden ohne Körperkontakt verzaubern – worum Tamani ihn schon immer fieberhaft beneidete.

»Natürlich.« Rektor Roster lächelte. »Nun – David Lawson – der Junge, mit dem Tam sich gestritten hat – ist einer unserer besten Schüler. Wir schlagen vor, David und Tamani mit jeweils drei Tagen Unterrichtsverbot zu bestrafen, die sie jedoch in der Schule verbringen müssen. In dieser Zeit könnte David Ihrem Neffen Nachhilfe geben. Sie müssen zugeben, dass dies eine äußerst milde Strafe ist, die den Jungen überdies die Gelegenheit bietet, ihre Meinungsverschiedenheiten zu beheben.«

Tamani unterdrückte einen Seufzer. Was für eine schreckliche Zeitverschwendung!

»Selbstverständlich unter Aufsicht«, fuhr Mr Roster fort, als wäre das Shar nicht vollkommen egal. »Wenn Sie jetzt bitte einige Unterschriften leisten würden«, sagte er dann und legte Shar ein Stück Papier vor.

Tamani sah Shar scharf an, aber der tat so, als hätte er nichts gemerkt. »Gerne«, sagte er, nahm den Kuli und kritzelte etwas Unleserliches auf die gestrichelte Linie.

»Bestens«, sagte der stellvertretende Rektor, stand auf und schüttelte Shar die Hand. »Es ist unser erklärtes Ziel, dass unsere Schüler erfolgreich bestehen. Aber dafür sind wir auf die Hilfe der Eltern beziehungsweise Onkel angewiesen.«

»Wir werden das Unsrige tun, um für Besserung zu sorgen«, sagte Shar. »Tam soll mich auf den Parkplatz begleiten, wo ich ihm noch das ein oder andere zu sagen habe, ehe ich ihn in den Unterricht zurückschicke.«

»Gut, gut«, sagte Mr Roster stolz, der offenbar davon ausging, dass der Onkel Tamani eine weitere Lektion erteilen würde. Er öffnete die Tür und entließ sie in den Gang vor seinem Büro.

Tamani spürte die Blicke der Menschen, als er mit Shar schweigend zum Ausgang und weiter zu seinem Cabrio ging. Shar lehnte sich an den Wagen und sah Tamani an.

»Nun, junger Mann«, sagte er mit ernster Miene. »Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?«

Sie sahen sich noch einen Augenblick lang in die Augen, ehe Tamani als Erster einknickte und kurz auflachte. Dann brachen die beiden Elfen in schallendes Gelächter aus.