Sieben

Laurel hob den Blick zum Winterpalast, während sie sich ihm auf einem steilen Weg näherten. Aus der Ferne hatte sie bereits die grünen Ranken gesehen, die das Gebäude in weiten Teilen stützten, aber je näher sie kam, umso genauer konnte sie erkennen, wie feine Stränge aus den Ranken sprossen und den glänzenden weißen Stein umgarnten, als hielten sie das Schloss in einer liebevollen Umarmung. Noch nie hatte Laurel ein Bauwerk gesehen, das so lebendig wirkte!

Oben am Hang gelangten sie zu einem riesigen weißen Torbogen. Rechts und links lagen die Ruinen einer einst sicherlich großartigen Mauer verstreut, und als sie den Innenhof betraten, wurde offensichtlich, dass sie von Zerstörung umgeben waren. Bröckelnde Überreste von Statuen, Springbrunnen und Mauerteilen ragten in unregelmäßigen Abständen aus dem schön gepflegten Rasen. Eine solche Baufälligkeit war Laurel in Avalon bisher nirgends aufgefallen. In der Akademie wurde alles, was kaputtging, auf der Stelle repariert und jedes Ding sorgsam behandelt. Auch überall sonst in Avalon wurde es so gehandhabt – nur nicht hier im Palast. Laurel hatte keine Ahnung, warum.

Drinnen wuselten jedoch jede Menge Elfen in frisch gebügelten weißen Uniformen umher, die sämtliche Flächen polierten und Hunderte von Topfpflanzen gossen, die in kunstvollen Gefäßen wuchsen. Hier herrschte die gleiche vertraute Ordnung, wurde der gleiche Aufwand betrieben, wie Laurel es von der Akademie gewohnt war. Sie folgte Yasmine mit Tamani zum Fuß einer breiten majestätischen Treppe. Je höher sie stiegen, umso ruhiger wurde es. Erst dachte Laurel, das läge an der Akustik, doch kaum waren sie auf der Hälfte der Treppe angelangt, war es vollkommen still.

Laurel wagte einen Blick über die Schulter. Tamani folgte ihr auf dem Fuß, aber er verkrampfte seine Hände, die eben noch gezittert hatten, so sehr, dass sie glaubte, es müsse ihn schmerzen. All die Elfenbediensteten, die sich unten zu schaffen machen sollten, stierten reglos zu ihnen empor und waren mitsamt den Staubtüchern und Gießkannen zu Statuen erstarrt. Sogar die Am fear-faire waren am Treppenabsatz stehen geblieben und folgten Yasmine nicht mehr auf dem Weg nach oben.

»Wir gehen in die oberen Räume des Winterpalastes«, flüsterte Tamani gestresst. »Niemand darf sie betreten. Außer Winterelfen natürlich.«

Laurel sah die Treppe hinauf. Sie führte entgegen ihrer Erwartung nicht etwa in eine weitläufige Halle, sondern endete vor einer gewaltigen Flügeltür. Dort, wo sie durch den schweren Rankenvorhang blitzte, war sie großzügig vergoldet. So eine große Tür hatte Laurel noch nie gesehen. Sie sah viel zu schwer und zu mächtig aus, als dass Yasmine sie irgendwie öffnen könnte.

Doch als sie die Tür erreichten, zögerte die junge Elfe keine Sekunde. Mit den Handflächen nach vorn streckte sie die Arme aus und machte eine sanfte schiebende Bewegung, ohne die Tür anzufassen. Es sah jedoch wirklich anstrengend aus, als läge etwas Abwehrendes in der Luft. Nach und nach schwenkten die Flügel unter dem Rascheln der Pflanzen gerade so weit zur Seite, dass sie im Gänsemarsch hindurchgehen konnten.

Auffordernd sah Yasmine sich zu Laurel um, die nach kurzem Zögern durch die Tür schlüpfte. Tamani folgte ihr widerstrebend.

Es fühlte sich an, als würde sie wieder unter dem Kronendach des Weltenbaums wandeln. Die Luft war lebendig vor Magie – vor Macht.

»Wir gewähren nur selten anderen Elfen Einlass in die oberen Gemächer«, sagte Yasmine gelassen. »Aber Jamison glaubte, nur hier oben könnte mit Sicherheit geheimgehalten werden, was so wichtig ist, dass unser Pfropfreis ihn unbedingt sprechen will.«

Allmählich bereute Laurel ihre überhastete Forderung, hierher gebracht zu werden. Was würde Jamison tun, wenn er erfuhr, warum sie gekommen waren? War eine Wildelfe an Laurels Schule diesen Aufwand wert?

»Er ist hier hinten«, sagte Yasmine und winkte ihnen, ihr durch einen höhlenartigen Raum zu folgen, der üppig in Weiß und Gold gehalten war.

Auf mehreren Alabastersäulen war eine eklektische Auswahl von Gegenständen ausgestellt: ein kleines Gemälde, eine mit Perlen verzierte Krone, ein glänzender Silberkelch. Laurel betrachtete mit schmalen Augen eine langhalsige Laute aus sehr dunklem Holz. Sie legte den Kopf schräg, trat von dem dunkelblauen Teppich, der schnurstracks durch den Raum führte, hinunter und ging unwiderstehlich anzogen auf die Laute zu. Vor dem Instrument blieb sie stehen, überwältigt von dem Wunsch, die zarten Saiten zu zupfen.

Als sie gerade die Hand danach ausstrecken wollte, packte Yasmine ihr Handgelenk und bog den Arm mit erstaunlicher Kraft nach hinten. »An deiner Stelle würde ich die Laute nicht anfassen«, sagte sie nüchtern. »Entschuldige bitte, ich hätte dich warnen müssen. Wir haben uns schon an ihre reizvolle Verlockung gewöhnt und nehmen sie kaum noch wahr.«

Yasmine kehrte leichten Schrittes auf den dunkelblauen Teppich zurück, ohne dass ihre nackten Füße auf dem Marmor ein Geräusch verursachten. Laurel sah sich noch einmal zu der Laute um. Sie zog sie nach wie vor an, aber der Sog war nicht mehr so stark wie zuvor. Doch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, eilte sie weiter.

Am Ende der weitläufigen Höhle bogen sie um eine Ecke. Als Laurel Jamison entdeckte, hatte er sie bereits gehört. Er beendete sein geheimnisvolles Tun und ging ihnen mit ausgebreiteten Armen durch einen marmornen Torbogen entgegen. Beidseits des Bogens glitten zwei schwere Steinmauern langsam unter tiefem Widerhall aufeinander zu.

Über Jamisons Schulter hinweg erspähte Laurel ein Schwert, das in einem viereckigen Granitblock steckte. Die Klinge glänzte wie ein polierter Diamant, ehe die schweren Steine Laurel den Blick verstellten.

»Hattest du Erfolg?«, fragte Yasmine.

»Nicht mehr als sonst«, antwortete er lächelnd.

»Was war das?«, fragte Laurel, ohne nachzudenken.

Doch Jamison winkte ab. »Ein altes Problem und wie die meisten alten Probleme nicht sonderlich dringlich. Jetzt zu euch«, sagte er und strahlte sie an, »wie schön, euch zu sehen.« Er streckte Laurel und Tamani jeweils eine Hand hin. Laurel nahm sie in beide Hände und neigte respektvoll den Kopf. Tamani zögerte, schüttelte Jamison dann normal die Hand und verbeugte sich tief, ohne ein Wort zu sagen.

»Kommt mit«, sagte Jamison und führte sie in einen kleinen Raum, der von der Marmorhalle abging. »Hier können wir reden.« Laurel setzte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer an das eine Ende eines mit rotem Brokat bezogenen Sofas. Jamison nahm in einem großen Sessel zu ihrer Linken Platz. Tamani blieb stehen, sah zögerlich auf den Platz neben ihr und lehnte sich dann an die Wand und verschränkte die Hände. Entweder hatte er seine Meinung geändert oder traute sich nicht.

Yasmine zauderte an der Tür.

Jamison hob den Blick. »Vielen Dank, Yasmine, dass du unsere Gäste begleitet hast. Morgen haben wir viel zu tun. Gleich geht die Sonne unter, und ich möchte nicht, dass du zu erschöpft bist.«

Wie Laurel bemerkte, wollte Yasmine einen Schmollmund ziehen, riss sich jedoch im letzten Moment zusammen. »Selbstverständlich, Jamison«, erwiderte sie höflich und zog sich zurück. Bevor sie um die Ecke verschwand, wagte sie noch einen letzten Blick, der Laurel daran erinnerte, dass Yasmine, sei sie noch so mächtig und verehrt, noch ein Kind war – genau wie Laurel, insbesondere für jemanden, der so alt und weise war wie Jamison.

»Also«, sagte er, kaum dass Yasmines Schritte verklungen waren. »Was kann ich für euch tun?«

»Hm«, sagte Laurel schüchtern, weil sie immer mehr zu der Überzeugung kam, dass ihre Forderungen am Tor übereilt und unangemessen waren. »Es ist wichtig«, platzte sie dann heraus, »aber es rechtfertigt diesen Aufwand nicht.« Sie zeigte auf die reiche Ausstattung ihrer Umgebung.

»Lieber zu vorsichtig als zu leichtsinnig«, sagte Jamison. »Jetzt erzähle mir, worum es geht.«

Laurel nickte und versuchte, ihre überbordenden Gefühle in den Griff zu bekommen. »Es geht um Klea«, begann sie. »Sie ist wieder da.«

»Das hatte ich erwartet«, sagte Jamison. »Du hast doch nicht etwa gedacht, wir würden sie nie wiedersehen?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Laurel zurückhaltend. »Ich dachte, vielleicht würde sie …« Sie unterbrach sich. Darum ging es heute nicht. Sie räusperte sich und setzte sich gerade hin. »Sie hat jemanden mitgebracht. Eine Elfe.«

Diesmal machte Jamison große Augen und sah Tamani an, der den Blick erwiderte, aber immer noch nichts sagte. Jamison richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Laurel. »Weiter.«

Laurel fasste Kleas Geschichte zusammen – wie sie Yuki als Setzling gefunden hatte und Orks ihre Eltern getötet hatten. »Klea hat mich gebeten, ein Auge auf sie zu haben. So wie ich sie verstanden habe, soll ich mich mit ihr anfreunden – weil sie weiß, dass ich den Orks schon einmal entkommen bin.«

»Klea«, sagte Jamison leise. Er sah Laurel an. »Wie sieht sie aus?«

»Äh … sie ist groß. Kurze braune Haare, schlank, aber nicht mager. Sie trägt viel Schwarz.« Laurel zuckte die Achseln.

Jamison musterte sie, ohne zu blinzeln – bis ihre Stirn kribbelte und warm wurde. Die Empfindung war so schwach, dass Laurel dachte, sie würde es sich vielleicht einbilden. Als sein Blick sie allmählich nervös machte und Laurel Tamani schon um Rat fragen wollte, richtete Jamison sich auf und seufzte. »Darin war ich noch nie besonders gut«, murmelte er enttäuscht.

Laurel legte eine Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich kühl an. »Was hast du gerade …«

»Setz dich doch«, sagte Jamison und ging ihrer Frage aus dem Weg, indem er Tamani ansprach. »Wenn du so weit weg bist, habe ich das Gefühl, ich müsste schreien.«

Rasch, aber mit abgehackten Bewegungen, die seine innere Abwehrhaltung verrieten, stieß Tamani sich von der Wand ab und setzte sich neben Laurel.

»Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass die Elfe euch feindlich gesonnen ist?«, fragte Jamison.

»Nein. Eigentlich wirkt sie eher schüchtern. Zurückhaltend«, erwiderte Tamani.

»Gibt es Hinweise auf besondere Kräfte?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Tamani. »Klea behauptet, Yukis Besonderheiten würden sich darauf beschränken, dass sie eine Pflanze ist. Sie hält sie für eine Nymphe, aber wir haben keine Ahnung, ob es sich dabei nicht um eine List handelt.«

»Besteht irgendein Anlass zu der Vermutung, dass die Wildelfe eine Bedrohung für Laurel oder Avalon darstellt?«

»Also, nein, noch nicht, aber … in gewissem Sinne …« Tamani hörte auf zu reden und biss die Zähne aufeinander, wie immer, wenn er sich zusammenreißen musste. »Nein, Sir«, sagte er.

»In Ordnung.« Als Jamison aufstand, taten Laurel und Tamani es ihm nach. Tamani wollte schon gehen, aber Jamison hielt ihn auf, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Damit will ich nicht sagen, dass es falsch war zu kommen, Tam.«

Tamani sah Jamison reserviert an und Laurel bekam ein schlechtes Gewissen – schließlich hatte sie auf dem Besuch bestanden. Sie hatte so dringend Jamisons Rat gesucht.

»Diese Wendung der Ereignisse konnten wir nicht vorhersehen. Aber …«, sagte Jamison und hob den Zeigefinger, »ihr werdet merken, dass sich weniger verändert hat, als ihr dachtet. Schließlich habt ihr in Klea schon immer eine mögliche Bedrohung für Laurels Sicherheit gesehen, oder?«

Tamani nickte schweigend.

»Also gilt für Yuki vielleicht das Gleiche. Aber gerade dann«, und hier wurde sein Tonfall dringlicher, »ist dein Platz – der Ort, an dem du sein musst –, an Laurels Seite in Crescent City. Und nicht hier.« Jamison legte Tamani, der betreten nach unten sah, beide Hände auf die Schultern. »Verlass dich auf dich selbst, Tam. Du hattest schon immer einen scharfen Verstand und eine gute Intuition. Wende sie an. Entscheide, was getan werden muss, und tu es. Diese Befugnis habe ich dir für diese deine Mission übertragen.«

Tamani konnte nicht mehr aufhören zu nicken.

Laurel wollte etwas sagen und Jamison erklären, dass es ihr Fehler und nicht Tamanis war, aber sie brachte keinen Ton heraus. Seltsamerweise wünschte sie, sie wären nicht gekommen. Auch ohne einen Zuschauer, der seine Blamage miterlebte, war es sicher schon schlimm genug, getadelt zu werden, und wenn es noch so sanft war. Sie wollte etwas sagen, ihn verteidigen – doch sie fand nicht die richtigen Worte.

»Ich hätte noch einen Vorschlag zu machen«, sagte Jamison, als er sie zu der wuchtigen Flügeltür zurückbrachte, die in die Halle führte. »Es wäre gut, wenn ihr herausfinden könntet, zu welcher Kaste diese Wildblume gehört – als Vorsichtsmaßnahme, aber auch, um zu sehen, ob sie euch vielleicht von Nutzen sein kann.«

Darauf war Laurel noch gar nicht gekommen. Wenn sie Yuki auf ihre Seite bringen konnten, wäre sie vielleicht der Schlüssel zu Kleas geheimnisvoller Tätigkeit. Aber wenn sie zu jung ist, um zu blühen …

Ehe Laurel diese Frage formulieren konnte, sprach Jamison sie an. »Wahrscheinlich wird es schwierig, etwas über ihre Fähigkeiten herauszufinden. Deshalb wäre ein kurzer Zwischenstopp in der Akademie vielleicht angebracht, wenn du deine Professoren konsultieren möchtest. Dann aber schnell zurück nach Kalifornien«, sagte er streng. »Es gefällt mir nicht, wenn du nach Sonnenuntergang so weit von deinen Wachposten entfernt bist. Aber für eine Stippvisite hast du noch reichlich Zeit, um rechtzeitig zum Tor zurückzukommen. Ich weiß, dass es hier später ist«, fügte er hinzu und zeigte durch ein Panoramafenster auf einen schwarzsamtigen Himmel, an dem die ersten Sterne aufgingen.

Jamison geleitete sie durch die vergoldete Tür – die nach einer winzigen Handbewegung seinerseits weit aufging – und die Treppe hinunter bis in die Halle, die mittlerweile fast leer war. Phosphoreszierende Pflanzen erleuchteten den weiten Raum mit sanftem Licht. Nur Jamisons Leibwächter, die Am fear-faire, warteten auf ihn, allzeit bereit, und umringten ihn, sobald er am Fuß der Treppe angelangt war.

»Yasmine ist schon im Bett«, sagte Jamison, als sie durch einen Torbogen in Form eines Drachen gingen. »Deshalb werde ich euch das Tor öffnen.« Er lachte. »Diese alten Stängel sind allerdings viel langsamer als eure jungen. Geht nur schon in die Akademie. Ich mache mich auf den Weg zum Torgarten, wo wir uns dann gleich treffen.«

Laurel und Tamani waren Jamison etwa fünfzig Schritte voraus, als sie den Innenhof verließen. Sobald sie außer Hörweite waren, verlangsamte Laurel ihre Schritte, um auf dem breiten Weg neben Tamani zu gehen. »Ich hätte ihm sagen sollen, dass es meine Idee war«, sprudelte sie hervor.

»Das stimmt nicht«, erwiderte Tamani leise. »Ich habe es vorgeschlagen.«

»Meinetwegen, aber ich habe gedrängelt, bis sie uns hereingelassen haben. Ich habe zugelassen, dass Jamison dich gescholten hat, dabei hätte er mit mir schimpfen müssen.«

»Oh bitte.« Tamani grinste sie an. »Ich würde mich jeden Tag für dich ausschimpfen lassen und mich noch darüber freuen.«

Laurel wandte verwirrt den Blick ab und ging schneller. Zum Glück ging es bergab, sodass die Lichter der Akademie schon bald in Sicht kamen und sie durch die Dunkelheit geleiteten. Laurel sah zu dem imposanten grauen Bauwerk hoch und musste lächeln.

Seit wann fühlte sich die Akademie wie ihr Zuhause an?