Siebenundzwanzig

Tamani saß mucksmäuschenstill und suchte mit Blicken den Wald nach etwaigen Bewegungen ab, während die Sonne am Horizont unterging. Das war die beste Zeit, um Orks aufzuspüren, denn ihr »Tag« neigte sich dem Ende zu und in den langen Schatten ließ es sich wunderbar herumschleichen. Ihr Versteck musste in der Nähe sein – die Orks, die sie verwundet hatten, waren immer in diese Richtung geflüchtet. Doch sie hatten in diesen wenigen Quadratmeilen Wald, die sich zwischen zwei menschliche Vororte quetschten, bisher rein gar nichts gefunden. Tamani knirschte mit den Zähnen. Er hatte Aaron versprochen, es wiedergutzumachen, und beim Auge der Göttin, das würde er halten!

»Bitte, Tam, du kannst noch so gut gelernt haben, wie man sich versteckt. Wenn du weiter mit den Zähnen knirschst, kann das auch ein halbtoter Ork noch hören.« Die ausdruckslose, fast gelangweilt klingende Stimme kam von weiter unten in dem Nadelbaum, auf den Tamani für einen besseren Ausblick geklettert war.

Tamani seufzte.

»Du mutest dir zu viel zu«, fügte Shar besorgt hinzu. »Drei Nächte hintereinander. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Normalerweise mache ich das auch nicht«, erwiderte Tamani. »Ich will es nur ausnutzen, dass du hier bist. Sonst setze ich immer eine Nacht aus.«

»Dann schläfst du immer noch nur jede zweite Nacht.«

»Ich mache hin und wieder ein Nickerchen, wenn ich auf dem Posten bin.«

»Sekundenschlaf, oder was? Du weißt, dass es nicht deine Aufgabe ist, Orks zu fangen«, fuhr Shar so leise fort, dass Tamani ihn kaum verstehen konnte. Vor zwei Nächten hatte er das auch schon gesagt.

»Was wäre denn besser, um Laurel zu beschützen?«, fragte Tamani wütend.

»Eine sehr gute Frage.« Shar war ihm nachgeklettert. »Willst du dich damit zu Tode quälen?«

»Was soll das denn heißen?«

»Du hattest die Wahl, entweder die Orks zu verfolgen oder bei Laurel zu bleiben. Du bist bei Laurel geblieben. Keine Ahnung, ob das die bestmögliche Entscheidung war, aber sie war vertretbar, zumal Laurel nicht bei Bewusstsein war und sich nicht selbst verteidigen konnte. Wenn du dich anders entschieden hättest, wäre es dir vielleicht gelungen, den Orks in ihre Höhle zu folgen. Doch auch diese Jagd hätte erfolglos bleiben können, so wie es bisher hier gelaufen ist. Es tut mir leid, dass Aaron mit deiner Entscheidung nicht einverstanden war, aber das solltest du nicht verinnerlichen. Du musst nach vorne blicken.«

Tamani schüttelte den Kopf. »Aaron war schon ganz in unserer Nähe und hätte Laurel sicher nach Hause bringen können. Währenddessen hätte ich der Vernichtung der schlimmsten Bedrohung, die es für sie gibt, sehr viel näher kommen können.«

»Das ist ein hübscher Gedanke, weil sie es wirklich sicher nach Hause geschafft hat. Aber woher willst du wissen, ob nicht noch mehr Orks genau darauf gewartet haben, dass du Laurel allein lässt? Oder ob Klea und/oder Yuki darauf zockten?«

»Das ist außerordentlich unwahrscheinlich«, grummelte Tamani.

»Stimmt, aber du bist Fear-Gleidhidh. Es ist dein Job, auch die entfernteste Gefahr vorauszuahnen und in deine Überlegungen einzubeziehen. In erster Linie musst du dafür sorgen, dass Laurel am Leben bleibt und ihre Aufgabe erfüllt.«

»Wenn sie stürbe, würde ich alles stehen und liegen lassen und in den Weltenbaum eingehen«, sagte Tamani.

»Ich weiß«, flüsterte Shar in der Dunkelheit.

Eine Stunde verging, und noch eine, ohne dass die beiden Elfen noch etwas sagten. Sie konzentrierten sich auf den Wald vor ihnen. Tamani fielen immer wieder die Augen zu, die Erschöpfung war so tief, dass sie bis in den Kern zu reichen schien. Er war schon oft zwei Nächte nacheinander aufgeblieben, aber drei war eine zu viel. Shar hatte tagsüber geschlafen, doch bis auf ein kurzes Schläfchen, als Mr Robison den Raum verlassen hatte, und einige kurze Pausen im Baum hatte Tamani nicht mehr geschlafen, seit er gezwungenermaßen Laurels Bett verlassen hatte, weil sie ihn darum gebeten hatte. Dabei wusste er, dass sie gar nicht mitbekommen hätte, wie lange er geblieben wäre, solange er vor Sonnenaufgang wieder gegangen wäre. Er schloss die Augen und dachte daran, wie er sie zum letzten Mal gesehen hatte: Das blonde Haar ergoss sich auf ihr Kopfkissen wie feinste Maisgrannen und ihr Mund lächelte sogar im Schlaf.

Als es im welken Laub knisterte, riss er die Augen auf. Erst dachte er, es wäre wieder nur ein Reh. Doch die Schritte waren zu schwer für ein so anmutiges Tier.

Tamani hielt den Atem an und wünschte sehnlichst, dass es so weit war. Er traute seinen Augen kaum, als zwei Orks in Sicht kamen. Sie schlenderten durch den Wald, stanken nach Blut und schleppten einen ausgewachsenen Bock mit. Wenn sie geradeaus weiterliefen, würden sie genau unter dem Baum vorbeikommen, in dem Tamani und Shar saßen.

Lautlos kletterten die beiden Elfen nach unten. Die Orks hatten es nicht eilig und blieben immer schön in Sichtweite. Tamani widerstand der Versuchung, über sie herzufallen und sie umzubringen, denn was sie heute vorhatten, war viel wichtiger als der Tod einiger Orks. Es war höchste Zeit herauszufinden, wo ihr Versteck lag und wo all die anderen waren.

Sie folgten ihnen in kurzen Sprints neben dem Weg. Als die Orks stehen blieben, ging Tamani tief in die Hocke. Shar würde hinter ihm dasselbe tun, das wusste er. Die Orks konnten ihn nicht wittern – er blutete nicht und hatte auch keinen Schwefel dabei, der sie in der Nase kitzeln könnte. Doch einige Orks konnten die Gefahr riechen, jedenfalls behauptete Shar das von Zeit zu Zeit.

Der Ork mit dem Hirschkadaver hob ihn wieder auf, als wollte er seine Mahlzeit gründlich untersuchen. Dann verschwanden beide Orks gleichzeitig.

Tamani musste sich die Hand auf den Mund legen, um sich nicht zu verraten. Sie hatten sich direkt vor seinen Augen in Luft aufgelöst! Er blieb vorerst mit angehaltenem Atem in seinem Versteck und lauschte. In der Ferne hörte er etwas schlurfen, etwas quietschen und Holz auf Holz schlagen. Dann war es still. Eine Minute verging. Zwei, drei. Es war nichts mehr zu hören. Tamani stand auf, alle seine Stängel schrien danach, hinterher zu rennen und zu kämpfen.

»Hast du das gesehen?«, flüsterte Shar.

»Ja.« Tamani hätte sich nicht gewundert, wenn die Orks hinter einem Baum hervorgesprungen wären, doch es blieb still im leeren Wald. Er starrte auf die Stelle, wo die Orks eben noch gestanden hatten. Der Schmutzigere von beiden hatte einige Blutstropfen des geschlachteten Tieres auf den Blättern hinterlassen. Tamani folgte den Blutstropfen bis zum Rand einer kleinen Lichtung, wo die Orks stehen geblieben waren. Die rote Spur endete dort, wo sie verschwunden waren.

Er kniete sich hin, um die Stelle genauer zu untersuchen, aber das Blut verriet ihm nichts. Tamani ging weiter und behielt den Baum vor ihm im Auge. Als er die Strecke zur Hälfte zurückgelegt hatte, drehte er sich um.

Der Blutstropfen war nicht etwa hinter ihm, sondern weiter links.

Doch er war in einer direkten Linie auf den Baum zugegangen.

»Was machst du da?«, fragte Shar.

»Warte kurz«, antwortete Tamani verwirrt. Er ging zu dem Blutstropfen zurück und versuchte es noch einmal. Diesmal konzentrierte er sich auf einen anderen Baum und ging halb darauf zu. Als er sich umdrehte, war der Tropfen hinter ihm auf der rechten Seite.

Tamani ging wieder in die Knie und betrachtete die Bäume, die seiner Meinung nach vor ihm standen, es in Wirklichkeit aber nicht taten. »Shar«, sagte er, als er sich vergewissert hatte, dass er auf den Blutstropfen stand, mit dem Rücken zu der Spur, die er verfolgt hatte. »Stell dich vor mich.«

Als er vortrat, schien es so, als folgten Shars Füße einem diagonalen Weg. Nach zwei weiteren Schritten blieb er stehen und drehte sich mit großen Augen um.

»Verstehst du jetzt?«, fragte Tamani. Das verwirrte Gesicht seines Lehrers entlockte ihm trotz ihrer misslichen Lage ein Lächeln.

Als Shar auf die Stelle blickte, wo er gerade noch gestanden hatte, stemmte Tamani die Füße in die Erde und streckte die Hände aus. Er spürte nichts, aber je weiter er sie ausstreckte, umso weiter spreizten sich seine Hände. Als er sie wieder aneinanderlegen wollte, kamen sie wie von selbst auf seine Brust zurück. »Shar!«, flüsterte Tamani keuchend. »Mach mir das nach.«

Shar brauchte ein wenig, aber dann tastete auch er mit ausgestreckten Händen die unsichtbare Absperrung ab, die den Raum um sie herum zu verbiegen schien. Es kam ihnen vor, als hätte jemand einen sehr kleinen Kreis aus dem Universum geschnitten, eine Art Kuppel, die sie nicht sehen, geschweige denn betreten konnten.

Doch irgendwie kam man dort hinein, das wusste Tamani ganz genau. Das war der Ort, wohin die Orks verschwunden waren.

»Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie die Orks auf einmal weg waren, würde mir hier gar nichts auffallen«, sagte Tamani und ließ die Arme sinken.

»Aber wir können es nicht sehen und nur indirekt fühlen«, erwiderte Shar, der mit verschränkten Armen in die Dunkelheit starrte. »Wie sollen wir eine Mauer durchbrechen, die wir nicht anfassen können?«

»Die Orks sind direkt hindurchgegangen«, antwortete Tamani. »Es kann sich also nicht um eine Mauer im engeren Sinne handeln.«

Shar entfernte sich ein wenig und hob einen Stein auf, den er in Richtung der imaginären Mauer warf. Der Stein flog in hohem Bogen darauf zu und verschwand ohne die geringste Störung seiner Flugbahn.

Das spornte Tamani dazu an, ein Stöckchen aufzuheben. Er ging vorwärts bis zu der Stelle, wo er sich eben umgedreht hatte, und stocherte dort mit dem Stock herum. Es war kein fassbares Gefühl, nichts behinderte ihn in seiner Bewegungsfreiheit, doch wenn er meinte, einen Ausfallschritt nach vorn zu machen, zeigte der Stock zur Seite. Verwirrt wollte er schon zurückgehen, als ihm noch eine Idee kam.

Vielleicht ist es auf Pflanzen eingestellt.

Er warf das Stöckchen gegen die Absperrung und erwartete eigentlich, dass es davon abprallen würde. Doch es verschwand ebenso wie vorher der Stein.

Also doch nicht.

»Da ist eine Art Abwehr«, flüsterte Tamani.

»Seit wann praktizieren Orks derartige Magie?«, fragte Shar.

»Das können sie gar nicht«, antwortete Tamani mit finsterer Miene. »Deshalb müsste man sie eigentlich leicht überwinden können.«

»Ach wirklich«, sagte Shar voller Ironie.

Tamani musterte das geheimnisvolle Nichts. »Ich kann Dinge hindurch werfen, aber ich kann nicht mit einem Stock hindurch stechen. Meinst du, du könntest mich hindurch werfen?«

Shar sah ihn lange an, aber dann zog er eine Augenbraue hoch und nickte. »Ich kann es zumindest versuchen.« Er ging in die Hocke und verschränkte die Finger, sodass Tamani einen Fuß darauf stellen konnte.

»A haon, a dó, a tri!«, ächzte Shar und Tamani flog auf die Absperrung zu.

Er war in der Luft und spürte auf einmal ganz genau, wie ihn etwas von innen nach außen kehrte. Doch der Schmerz verging so schnell, wie er gekommen war, und Tamani knallte mit dem Rücken auf die Erde. Er bekam keine Luft mehr und sah viel zu viele Sterne am Himmel. Shar blickte amüsiert auf ihn hinunter.

»Was ist passiert?«, fragte Tamani.

»Du bist … abgeprallt.«

Tamani setzte sich hin und starrte in den leeren Raum. »Es ist anscheinend auf Elfen eingestellt. Das dürfte eigentlich gar nicht möglich sein.« Böse sah er auf die Erde. »Können wir vielleicht einen Tunnel graben?«

»Vielleicht.« Shar klang nicht überzeugt.

»Hast du einen anderen Vorschlag?«

Shars Antwort ließ auf sich warten. Er betrachtete konsterniert die kleine Lichtung und drehte den Kopf nach links und rechts, als bräuchte er nur die richtige Perspektive zu finden, um das Geheimnis zu entschlüsseln. Dann richtete sich auf.

»Ich frage mich …« Shar streckte die Hände aus, strich mit dem großen Zeh an der unsichtbaren Sperre entlang und markierte auf diese Weise den Durchmesser. Dann holte er einen kleinen verschnürten Beutel aus dem Rucksack. »Geh einen Schritt zurück«, sagte er zu Tamani.

Tamani gehorchte, neugierig darauf, was Shar vorhatte.

Nachdem er den Knoten gelöst hatte, kniff Shar mit Daumen und Zeigefinger in die untere Ecke des Beutels. Dann ging er in die Hocke und verstreute helles Granulat in einem Kreis um sich herum. Den Rest warf er in hohem Bogen in die unsichtbare Mauer hinein, wo es verschwand.

Tamani sprang erschrocken rückwärts, als sich die kleine Lichtung, auf der sie standen, in Sekundenschnelle zu ihrer dreifachen Größe aufblähte. Die aus dem Schatten entstandene Weite raubte ihm den Atem. In der Mitte der Lichtung stand nun eine verfallene Hütte, deren Fenster zum Teil verbrettert waren. Sie leuchtete im Licht des Vollmonds.

Als ihm klar wurde, wie leicht man sie angreifen konnte – und das schon die ganze Zeit –, ließ Tamani sich auf den Bauch fallen und kroch rasch in den Schutz einer Buscheiche. Da sich auf der mondbeschienenen Lichtung nichts rührte, kam er langsam wieder hervor, zumal er sich denken konnte, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich zu verstecken. In der letzten Viertelstunde hätte man sie in aller Seelenruhe beobachten können. Doch schrieb seine Ausbildung vor, sich vorsichtig zu verhalten.

Shar stand noch immer in der Mitte seines improvisierten Kreises und starrte auf den leeren Beutel in seiner geöffneten Hand. Seine Miene spiegelte eine Mischung aus blankem Entsetzen und fröhlichem Entzücken. Was auch immer er getan hatte, er hatte anscheinend nicht damit gerechnet, dass es funktionieren würde.

»Was war das?«, fragte Tamani beifällig.

»Salz«, antwortete Shar mit hohler Stimme. Er konnte den Blick nicht von dem leeren Beutel wenden. Tamani lachte, doch Shar stimmte nicht mit ein.

»Moment, meinst du das etwa ernst?«

»Guck mal da.«

Tamani schaute auf die Stelle am Boden, auf die Shar zeigte. Die weiße Linie aus Salz, die Shar um sich gestreut hatte, verdeckte einen breiten Bogen aus dunkelblauem Pulver, der sich um die gesamte Lichtung zog.

»Das Werk eines Mixers«, sagte Shar stirnrunzelnd.

»Sieht ganz so aus, aber eigentlich entspricht dieser Zauber dem Niveau der Winterelfen. Sie haben einen halben Morgen Land versteckt, nur indem sie einen Kreis darum gezogen haben!«

»Bücklinge arbeiten nicht mit Pulver«, erwiderte Shar. Tamani verzog das Gesicht; Winterelfen als Bücklinge zu bezeichnen war sogar unter dem Niveau der Wachposten. »Das Pulver weist mit Sicherheit auf einen Herbstzauber hin.«

»Oder wir haben es mit einer neuen Orkart zu tun. Laurel hat die Orks neulich mit Caesafum beworfen und das hat ihnen überhaupt nichts ausgemacht. Auch die Spürseren funktionieren nicht. Und Barnes war offenbar außer gegen Blei gegen alles immun. Um genauer zu sein, gegen Blei, das ihm jemand in den Kopf geblasen hat.«

Shar grübelte. »Kann sein. Doch in unserer Geschichte gab es einige sehr, sehr mächtige Mixer.«

»Aber nicht außerhalb von Avalon. Da gab es nur diese eine Verbannte, und die wurde vor vierzig oder fünfzig Jahren verbrannt.«

»Allerdings, das kann ich persönlich bezeugen. Dann vielleicht ein Lehrling?« Shar zögerte. »Du weißt, wen ich meine? Diese junge Elfe.«

»Das kann eigentlich nicht sein. Selbst wenn die Wildblume eine Herbstelfe sein sollte, ist sie zu jung. Ein Mixer mit Akademie-Ausbildung wäre auch schon hundert Jahre alt, ehe er so etwas zustande brächte, geschweige denn eine so junge Wildelfe.«

»Möglich ist alles.«

»Das ist der Beweis«, sagte Tamani und zeigte auf das Pulver. »Und damit meine ich beides, dieses Pulver und das, was du gemacht hast. Wie bist du auf Salz gekommen?«

»Ich wollte eine Theorie überprüfen«, antwortete Shar. »Ich muss sagen, das Ergebnis überzeugt mich.«

Da Tamani merkte, dass Shar nicht weiter darauf eingehen wollte, kauerte er sich hin und untersuchte das blaue Pulver. »Gibst du mir deinen Beutel?«

Wortlos warf Shar Tamani das kleine Jutesäckchen zu. Tamani nahm mit seiner Messerklinge ein wenig Pulver und kippte es in den Beutel. Dann zog er, als wäre es ihm nachträglich eingefallen, mit dem Messer eine Linie durch die Erde und durchbrach den blauen Kreis.

»Was machst du da?«, fragte Shar.

»Ich denke, ein zerstörter Kreis kann nicht mehr funktionieren«, antwortete Tamani. »Wenn die Orks in der Hütte uns nicht gesehen haben, merken sie vielleicht auch nicht, dass der Kreis durchbrochen wurde. Andererseits könnten sie das Salz finden, also sollten wir es vertuschen, und diesen Schnitt auch – dann bekommen sie es vielleicht nicht mit, dass ihre geheime Höhle entdeckt worden ist.«

»Ab sofort soll dieser Ort Tag und Nacht bewacht werden.«

»Dann muss ich nochmals Verstärkung anfordern.« Indem die Aufregung über ihre Entdeckung abnahm, wurde Tamani seine Erschöpfung wieder bewusst. Er stellte sich hinter einen breiten Baum, schaltete sein iPhone an und zuckte zusammen, weil das Display so strahlend hell aufleuchtete. In der Hoffnung, dass Aaron nicht vergessen hatte, wie man mit dem GPS umging, sandte er die Eckdaten des Ortes an seinen Kollegen.

Dann ging er wieder zu Shar zurück, der den Salzkreis aufgelöst hatte und welkes Laub auf den Schnitt legte, den Tamani mit dem Messer gezogen hatte. In der Hütte war es weiterhin still und dunkel. Das war schon sonderbar, denn Orks schliefen gewöhnlich nicht nachts.

»Sollen wir die Hütte nicht einfach stürmen und es hinter uns bringen?«, fragte Tamani.

»Du bist gar nicht fit genug, um zu kämpfen«, erwiderte Shar. »Außerdem würde ich sie gern eine Weile beobachten lassen, damit wir erfahren, wie viele es sind. Da drin könnten locker dreißig Orks auf uns warten.«

Kurz darauf erkannte Tamani am Rascheln im Laub, dass Verstärkung eintraf. Aaron brachte mindestens zehn Wachposten mit.

»Kannst du das hier übernehmen?«, fragte Tamani Shar.

»Wenn du willst. Wohin gehst du?«

Tamani hielt Shars Jutebeutel hoch und steckte ihn in seinen Rucksack. »Ich muss das Laurel bringen, vielleicht findet sie heraus, was es ist.«

»Das will ich schwer hoffen«, sagte Shar mit Blick auf die Hütte im Mondlicht.

Tamani drehte sich um und rannte los. Seine bloßen Füße brachten den Teppich aus Herbstlaub zum Flüstern. Er hatte das Gefühl, auch mit geschlossenen Augen weiterlaufen zu können – als führten alle Wege zu Laurel.

Tamani schüttelte den Kopf, weil ihm schwindelig wurde – ihm wurde buchstäblich schwarz vor Augen. Er blinzelte mehrmals und zwang sich, schneller zu rennen und die Müdigkeit in Schach zu halten, die ihn zu überwältigen drohte. Vielleicht hatte Shar doch recht – er hatte es wirklich übertrieben. Wenn ich das hinter mir habe, sagte er sich, wenn ich das geschafft habe, kann ich schlafen.

Er lehnte sich an Laurels Hintertür und klopfte. Doch seine Augen schlossen sich, kaum dass er Laurel kommen sah. Erstaunt öffnete sie die Tür, aber Tamani brach sofort zusammen, nachdem er die Schwelle zur Küche überschritten hatte.