Dreizehn

Am Montag lagen Blumen in Laurels Schließfach. Keine langen Angeberrosen, sondern ein selbstgepflückter Strauß vom Wegesrand mit einer schmalen Schleife. Daran erkannte sie, dass sie von David waren. Er machte keine große Show aus seinen Geschenken, weil seiner Meinung nach das Gefühl im Mittelpunkt stehen sollte, und nicht er selbst.

Darum verblüffte der eifersüchtige besitzergreifende David sie ja auch so.

»Es tut mir leid«, sagte David und trat leise hinter sie.

Laurel senkte den Blick auf die Blumen, sagte jedoch nichts.

»Das war völlig daneben, ich bin leider ausgerastet.« Er lehnte sich an sein Schließfach und fuhr sich durch die Haare. »Ich finde es einfach blöd, dass er hier ist. Das habe ich direkt gedacht, aber ich wollte es für mich behalten, und dann kam eben alles auf einmal heraus.«

»Ich habe nichts Schlimmes getan«, sagte Laurel und mied seinen Blick, während sie die Bücher in ihr Schließfach legte.

»Ich weiß«, sagte David. »Das will ich doch die ganze Zeit sagen, aber anscheinend drücke ich mich nicht verständlich genug aus. Es ist nicht dein Problem, sondern meins.« Jetzt sah er sie mit ernsten blauen Augen an. »Es macht die Sache nicht leichter, dass ich weiß, was er will. Er soll es aber nicht bekommen. Glaub mir«, sagte er und versuchte, die Spannung wegzulachen, »wenn du so eine coole Freundin hättest wie ich, würdest du bei der Vorstellung, sie zu verlieren, auch durchdrehen.«

»Ich hatte einen Freund, der so cool war wie deine Freundin«, sagte Laurel, ohne sich umzudrehen.

»Ich werde mich bessern«, sagte David und lehnte sich an sein Schließfach, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Versprochen.«

Laurel starrte auf ihr Schließfach, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie sich genauso über sich selbst ärgerte wie über ihn. Sie wollte, dass David darauf vertraute, dass sie Tamani auf Abstand hielt. Doch David hatte allen Grund der Welt für sein Misstrauen gegenüber Tamani – und wie konnte sie von David verlangen, ihr zu vertrauen, wenn sie es selbst nicht tat?

»Ich hätte eher anrufen sollen«, sagte David und riss Laurel aus ihren trüben Gedanken.

»Ich hätte deine Email beantworten sollen«, gab Laurel zu. »Das wollte ich auch, aber irgendwie habe ich gekniffen.«

»Heißt das … es ist wieder gut mit uns?«, fragte David zaudernd.

Das war der richtige Moment … um ihm alles zu gestehen, auch, dass sie nicht besser war als er. Sie öffnete den Mund und …

»Hi, Laurel.«

Laurel und David drehten sich zu Tamani um, der seinen morgendlichen Gruß entrichtete. Als Laurel David wieder ansah, war der Augenblick vorbei und sie brachte den Mut nicht mehr auf.

»Ja, es ist wieder gut«, sagte sie leise.

David seufzte schwer und nahm sie in den Arm. »Danke«, flüsterte er. »Es tut mir wirklich schrecklich leid.«

»Ich weiß«, sagte Laurel, von Schuldgefühlen gequält.

»Wir sind am Wochenende nicht zu den Prüfungsvorbereitungen gekommen. Wie wäre es irgendwann im Laufe dieser Woche?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

Laurel seufzte und wünschte inständig, sie hätte sich nicht bereit erklärt, die Prüfung noch einmal abzulegen. »Können wir nicht für etwas anderes lernen? Ich weiß gar nicht, warum du das unbedingt machen willst. Du hast beim letzten Mal in jedem Fach über siebenhundert Punkte erreicht.«

»Stimmt, aber das ist ewig her. Ich glaube, ich würde jetzt besser abschneiden.« Er sah sie an. »Außerdem will ich dir helfen.«

Laurel zog einen Schmollmund. Sie ließ sich nicht gern daran erinnern, dass ihre Ergebnisse im vergangenen Frühling nicht die besten gewesen waren. Darum sollte sie sich ja auch diesmal besser vorbereiten.

»Außerdem«, drängte David, »lernen wir immer zusammen, und ich möchte, dass wir es auch weiterhin tun.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Laurel und legte ihm die Hand auf den Arm. »Damit höre ich doch nicht einfach auf, nur weil du blöd bist.« Sie lächelte, um zu zeigen, dass sie Spaß machte, und nach einem winzigen Augenblick des Zögerns lachte er pflichtschuldig.

»Gut, also nach der Schule?«

»Gerne.«

»Okay.« Er wagte es, ihr ein Küsschen zu geben. »Ich liebe dich.«

»Ich weiß«, sagte Laurel. Wieso hatte sie das jetzt gesagt?

»Ich bringe dich zu deinem Kurs.«

Als Laurel nach ihrem Rucksack griff, entdeckte sie Tamani an Yukis Schließfach. Er lächelte und unterhielt sich angeregt mit ihr. Als würde er merken, dass Laurel ihn beobachtete, sah er ihr ganz kurz direkt in die Augen, bevor er sich wieder Yuki zuwandte und weiterlächelte.

Laurel hatte gar nicht gemerkt, dass sie stehengeblieben war, bis David sie weiterzog. Rasch holte sie ihn ein. »Aha, aha, aha«, sagte sie leise.

»Was?«, fragte David.

»Tamani macht echte Fortschritte mit Yuki.«

David wandte den Kopf und musterte das Pärchen am anderen Ende des Ganges. Yuki hing an Tamanis Lippen. David zuckte die Achseln. »War das nicht genau der Plan?«

»Schon«, antwortete Laurel und grübelte darüber nach, warum Tamanis Freundlichkeit ihr so viel ausmachte. Lag es daran, dass es ihm gelungen war, mit Yuki Freundschaft zu schließen, nachdem Laurel so kläglich gescheitert war? »Ich dachte, er würde Yuki dazu überreden, meine Freundin zu werden.«

Nachdem sie David zerstreut einen Kuss gegeben hatte, schlenderte Laurel in den Politik-Kurs, setzte sich auf ihren angestammten Platz und wartete auf Tamani. Sie bekam Kopfschmerzen. Super. Das hatte ihr an diesem Morgen noch gefehlt.

Tamani kam in die Klasse gelaufen und setzte sich gerade rechtzeitig zum letzten Klingeln neben sie. Er trug schwarze Lederhandschuhe mit offenen Fingerenden.

»Was soll das denn?« Laurel rümpfte die Nase. »Fingerlose Handschuhe sind schon seit den Neandertalern aus der Mode. Du siehst aus wie ein Landei.«

»Immer noch besser als von oben bis unten voll Blütenstaub«, knurrte Tamani grimmig. »Die glauben jetzt alle, in Schottland wäre das der letzte Schrei.«

Laurel hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie es nicht gemerkt hatte; schließlich kam der Pollen an seine Hände, weil sie blühte. »Oh. Wie läuft es mit Yuki? Ich dachte, du wolltest uns zusammenbringen, statt sie anzumachen«, flüsterte sie, während Mrs Harms die Anwesenheitsliste abhakte.

»Ich mache sie nicht an«, flüsterte Tamani wütend.

»Ach nee«, murmelte Laurel.

Tamani zuckte die Achseln. »Ich habe hier eine Aufgabe zu erledigen«, sagte er leise. »Dafür nehme ich so einiges in Kauf.«

»Unter anderem, eine arglose Elfe auszunutzen?«

»Ich nutze sie nicht aus.« Tamani wurde immer wütender. »Ich bin nur nett zu ihr. Und wenn sich herausstellt, dass sie mit alldem nichts zu tun hat, hat sie jemanden, der ihr alle Fragen über sich selbst beantworten kann.« Nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Mit dir hat das auch gut geklappt.«

»So gut nun auch wieder nicht«, zickte Laurel. »Ich bin schließlich nicht deine Freundin, oder?« Ehe Tamani etwas erwidern konnte, wandte sie sich wieder der Tafel zu und zeigte auf. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen; darf ich etwas aus meinem Schließfach holen?«, fragte Laurel die Lehrerin. Sie hatte im Augenblick überhaupt keine Lust, über David und Tamani nachzudenken. Davon ging es ihr nur noch schlechter.

Blöde Jungs.

 

»Dendritisch«, sagte David und hob den Blick aus dem Schulbuch zur Prüfungsvorbereitung.

Laurel stöhnte. »Sind wir immer noch nicht fertig? Wir haben heute schon mindestens zweihundert Wörter durchgenommen.« Das war keine Übertreibung, aber dennoch war es ein guter Tag. Montag und Dienstag war die Stimmung noch nicht besonders gut gewesen, aber so langsam ging alles wieder seinen Gang. Jetzt konnte Laurel sogar dem Lernen erneut etwas abgewinnen. Sie fragten einander ab und belohnten richtige Antworten mit einem Kuss. In der Pause machten sie in einvernehmlichem Schweigen ihre jeweiligen Hausaufgaben. Es fühlte sich an, als würde das Leben zur Normalität zurückkehren.

Laurel fand es schön, wenn es normal zuging.

»Nur das noch«, sagte David. »Es passt so gut.«

»Dendritisch.« Laurel dachte angestrengt nach. »Eine Maschine, die in der Erde lebt?«, fragte sie grinsend.

David verdrehte die Augen. »Unlustig. Nein, es bedeutet etwas, das du auch bist.«

»Oh, sauer, müde, fertig. Komme ich der Sache näher?«

»Schon gut.« David klappte das Buch zu. »Ich gebe auf, bevor du einen Schreikrampf bekommst. Schluss für heute.« Er machte eine Pause. »Ich will nur, dass du gut abschneidest.«

»Ich glaube aber nicht daran, dass es einen Tag vor der Prüfung noch viel bringt, sich einen Haufen Zeugs einzutrichtern. Echt nicht«, protestierte Laurel.

David hob die Schultern. »Schaden kann es aber auch nicht.«

»Du hast leicht reden«, sagte Laurel und rieb sich die Augen. Sie ging zum Bett, trommelte mit den Fingerspitzen auf Davids Schultern und ließ sich direkt neben ihr Prüfungsbuch fallen.

»Soll ich dich noch etwas anderes abfragen? Mathe vielleicht?«

Laurel schnitt eine Grimasse. »Den Matheteil kann ich nicht ausstehen.«

»Darum solltest du etwas dafür tun. Außerdem«, fügte David hinzu, »hast du darin auch ohne Vorbereitung am besten abgeschnitten. Ich glaube, du könntest dich entscheidend verbessern. Ich meine, besonders hilfreich war es sicher nicht, dass du im letzten Halbjahr nicht einmal einen Mathe-Kurs belegt hast. Aber das holst du diesmal in Trigonometrie wieder auf.«

Mit einem Seufzer hielt Laurel ihre Blüte am Fenster in die Sonne. »Es gibt Zeiten, da weiß ich nicht mal, wofür es gut sein soll«, sagte sie missmutig. »Es war ohnehin egal, wie ich bei den Tests abgeschnitten habe. Wieso wiederhole ich sie dann noch?«

Anfangs hatte sie es durchaus sinnvoll gefunden. Auf Davids Drängen hin hatte sie sich den Krankenpflegebereich bei Berkeley angesehen und sich erkundigt, welchen Notendurchschnitt sie dafür benötigte. Sie hatte sogar ein bisschen gelernt. Doch die Prüfung war anders ausgefallen, als sie erwartet hatte, und dann musste sie auch noch vier Stunden in einem fensterlosen Raum aushalten. Bei dem Aufsatz hatte sie voll versagt und nicht einmal alle verbalen Aufgaben gelöst. In Mathe hatte sie mindestens ein Drittel geraten. Sie wusste schon, dass sie schlecht abgeschnitten hatte, bevor sie die unterdurchschnittlichen Ergebnisse im Briefkasten hatte. In gewisser Weise erleichterte es die Entscheidung – erst recht, weil ihr an demselben Tag, an dem die Ergebnisse kamen, ein neuer Zaubertrank gelungen war. Laurel deutete das als Zeichen. Sie würde nicht aufs College gehen, sondern in der Akademie weiterlernen. So sollte es sein, eindeutig.

Andererseits wusste sie, dass sie besser sein konnte.

»Laurel«, sagte David hörbar enttäuscht. »Das sagst du immer wieder und ich verstehe es immer noch nicht. Warum kannst du nicht zum College gehen?«

»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Laurel. »Ich weiß nur nicht, ob ich überhaupt will.«

David sah sie besorgt an, aber nur kurz, ehe Laurels schlechtes Gewissen sie zu sehr pieksen konnte. »Warum nicht?«

»Ich werde langsam richtig gut im Mixen«, erwiderte Laurel. »Wirklich. Tama … alle freuen sich über meine Fortschritte. Es zahlt sich aus, dass ich so viel geübt habe, und mit meiner Intuition läuft es immer besser. Es funktioniert, weil ich es im Griff habe. Das ist sehr aufregend, David!«

»Gut, aber was heißt das genau? Du musst schließlich nicht die ganze Zeit in Avalon sein, um dich zu verbessern. Üben kannst du hier auch. Schau dir nur dein Zimmer an – da sieht es wissenschaftlicher aus als bei mir«, sagte David und lachte. »Du musst das doch nicht aufgeben, wenn du aufs College gehen würdest.« Nach einer kurzen Denkpause fuhr er fort. »Du könntest deine Elfenstudien weiter betreiben, weil du nicht für die Studiengebühren arbeiten müsstest.«

»Du ja wohl auch nicht bei deinen Noten!«

»Richtig, darum hat meine Mutter mir ja auch erlaubt, den Job hinzuschmeißen.« Er grinste. »Das ist jetzt eine ganz neue Art von Investition in meine Zukunft.«

»Und den Bonus, mehr Zeit mit deiner Freundin verbringen zu können, nimmst du gerne mit, nicht wahr?« Laurel zog seinen Kopf heran und küsste ihn, nicht nur um das Thema zu wechseln, sondern weil sie wirklich Lust dazu hatte. Er strich zart über ihre Blütenblätter, ließ die Hände aber nicht darauf liegen.

Sie lagen auf seinem Bett, Laurels Knie auf Davids Hüfte. Es reichte schon aus, zusammen da zu liegen, um die Enttäuschungen der letzten Wochen ein wenig zu lindern. Sie schmiegte den Kopf an seine Schulter, schloss die Augen und merkte mal wieder, warum sie so gerne mit David zusammen war. Er gehörte ihr – schon immer, wenn sie ehrlich mit sich selbst war – seit dem ersten Tag in der Schule. Und er war die Ruhe selbst, sogar im Angesicht so unglaublicher Dinge wie Blumen auf ihrem Rücken, Orks, die einen ins Wasser warfen, und Elfenspionen. Jeder andere wäre schreiend davongelaufen. Und dann gleich weiter zur Presse. Allein das machte David zu dem ergebensten Menschen, dem sie je begegnet war.

Sie ließ ihre Finger zerstreut über seine Rippen wandern und hob das Gesicht, um ihre Stirn an seine Wange zu legen.

»Laurel?«

»Hmmm?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.

»Ich will nur sagen – und lass mich ausreden, bevor du dich dazu äußerst –, dass du dich meiner Meinung nach wirklich für die Zulassungsprüfungen anstrengen und bei einigen Colleges bewerben solltest. Du hast in den letzten Monaten sowieso dauernd gelernt. Warum solltest du jetzt einfach hinwerfen?«

Er schwieg, Laurel auch.

»Es ist doch so«, fuhr er fort, »wenn du dich bewirbst, ja sogar, wenn sie dich nehmen, heißt das noch lange nicht, dass du hingehen musst. Aber wenn du deinen Abschluss machst und …« Als er zögerte, biss Laurel sich auf die Lippe, weil sie wusste, wie schwer es ihm fiel, das zu sagen. »Und wenn du dann Entscheidungen treffen musst, möchte ich nicht, dass du … dich jemals in der Falle fühlst. Es ist gut, wenn man die Wahl hat.«

Die Minuten vergingen, während Laurel darüber nachdachte. David hatte recht – auch wenn man sie annahm, sie musste nicht aufs College gehen. In ihrem Leben – und in ihren Gedanken – hatte sich in den letzten Jahren vieles verändert, und zwar oft zum Guten. »Einverstanden«, sagte sie leise. Ihr war natürlich klar, was David meinte, wenn er sagte: »Es ist gut, wenn man die Wahl hat.« Eigentlich wollte er damit sagen: »Triff keine Entscheidung, die uns für immer voneinander trennt.« Das war seine Art, sie so lange wie möglich zu halten – indem er die Möglichkeit bis in alle Ewigkeit offenhielt.

Doch das war kein Fehler.