Dreißig

Thanksgiving zählte schon immer zu Laurels Lieblingsfeiertagen. Warum, wusste sie nicht genau – schließlich konnte sie weder Truthahn, noch Kartoffeln oder Kürbiskuchen essen, zumindest nicht in der traditionellen Zubereitung. Doch die Feierlichkeiten und das familiäre Zusammensein hatte sie immer schön gefunden.

In diesem Jahr hatte sich ihre Mutter gegen den üblichen Truthahn und für zwei Stubenküken entschieden. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir die Mühe mache, wenn man bedenkt, dass nur die Hälfte der Anwesenden davon essen wird«, scherzte sie. Laurel fand die Idee trotzdem gut und die Rosmarinmarinade verbreitete einen köstlichen Duft in der Küche. Wenn man sich auf das Gewürz und nicht auf den Geruch gebratenen Fleisches konzentrierte.

Laurels Mutter stellte eine große Gemüseplatte zusammen und Laurel legte letzte Hand an einen Obstteller. Sie wollte ihre Mutter fragen, ob sie die Erdbeeren kleinschneiden sollte, aber ihre Mutter starrte aus dem Küchenfenster. »Mom?«

Ihre Mutter zuckte zusammen und sah Laurel an. »Sollen wir sie nicht einladen?«, fragte sie.

»Wen?«

»Die Wachposten.«

Oh nein, das hätte ihr gerade noch gefehlt. »Nein, wirklich nicht, Mom. Denen geht’s gut. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, bringe ich ihnen das restliche Obst und Gemüse, aber ich glaube kaum, dass sie ins Haus kommen wollen.«

»Bist du sicher?«, fragte ihre Mutter, die immer noch mit mütterlicher Sorge auf den Waldrand blickte.

»Ganz sicher.« Laurel hatte es lebhaft vor Augen, wie ernste, grün gekleidete Männer in ihrer Küche standen, die hochkonzentriert auf das kleinste Geräusch lauschten. Sehr festlich, wirklich.

Als es klingelte, sprang Laurel vom Barhocker. »Ich gehe schon!«

»Endlich, was?«, murmelte ihre Mutter.

»Mom!«, schimpfte Laurel, ehe sie um die Ecke bog.

Als sie die Tür öffnete, stand Tamani mit dem Rücken zur Sonne, die ihn in ätherisches Licht tauchte. Laurel bekam weiche Knie und fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, ihn einzuladen.

Er lächelte und kam ihr so nah, dass sie scharf Luft holte, doch er flüsterte ihr nur etwas zu. »Ich weiß wirklich nicht, wie das geht. Hätte ich vielleicht etwas mitbringen sollen?«

»Ach, nein«, sagte Laurel und lächelte ihn an. Es war schön zu merken, dass er sich trotz seiner coolen Fassade auch manchmal Sorgen um solche Kleinigkeiten machte. »Du hast doch dich mitgebracht.« Ich Dummi! Als hätte er sich zu Hause lassen können! So ein Mist, dass sie seinetwegen immer noch dummes Zeug redete.

Ihre Mutter stand gebückt am Herd und prüfte, ob die Stubenküken gar waren, als Laurel mit Tamani in die Küche kam. Sie hatte den Verdacht, dass sie gar nicht hätte nachsehen müssen, aber es war auch ganz nett, in die Küche zu kommen, ohne dass ihre Mutter erwartungsvoll dastand. Es war schon erstaunlich, wie entgegenkommend ihre Eltern in Bezug auf Tamani waren – vor allem ihre Mutter gab sich richtig Mühe. Warum nur?

»Hallo, Mom«, sagte Laurel. »Tamani ist da.«

Ihre Mutter sah vom Herd auf und lächelte. Dann schloss sie die Ofentür, wischte sich die Hände an der Schürze ab und streckte Tamani die Hand hin. »Schön, dass du kommen konntest.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte Tamani wie ein englischer Gentleman. »Und … ich wollte mich noch für mein Verhalten bei unserer letzten Begegnung entschuldigen«, sagte er ausgesucht höflich, »die Umstände waren nicht gerade … ideal.«

Doch Laurels Mutter winkte ab. »Keine Ursache.« Sie legte den Arm um Laurel und lächelte auf sie hinunter. »Wenn man eine Elfe zur Tochter hat, lernt man, mit solchen Dingen umzugehen.«

Tamani entspannte sich sichtlich. »Kann ich irgendwie helfen?«, fragte er.

»Nein, danke. An Thanksgiving gibt es immer Fußball. Du kannst zu Mark in den Hobbyraum gehen«, sagte sie und zeigte auf eine Tür. »Das Abendessen ist in einer Viertelstunde fertig.«

»Wie Sie möchten«, sagte Tamani. »Ich kann ganz wunderbar Obst schneiden.«

Laurels Mutter lachte. »Das kann ich mir gut vorstellen. Aber nein, das schaffen wir schon. Geh ruhig.«

Laurel wollte protestieren, aber Tamani ging bereits lächelnd zum Hobbyraum. Sie folgte ihm und blieb auf der Schwelle stehen, um den beiden Männern zuzusehen. Nicht, dass es viel zu sehen gäbe. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt und ein paar Worte zur Begrüßung gemurmelt hatten, erklärte ihr Vater Tamani die Fußballregeln. Dennoch musste Laurels Mutter sie zwei Mal rufen, ehe sie sich losriss, um den Obstteller fertigzustellen.

Zum Essen setzten sie sich an den Küchentisch. Als alle etwas auf dem Teller hatten, gratulierte Tamani Laurels Mutter zu der Zubereitung der Stubenküken. »Das sieht alles köstlich aus, Mrs Sewell. Fleisch ist bekanntlich nichts für mich, aber es duftet verführerisch. Rosmarin, stimmt’s?«

Laurels Mutter strahlte. »Danke schön. Ich bin beeindruckt, dass du das Gewürz kennst. Und bitte nenn uns Sarah und Mark. Schluss mit den förmlichen Anreden.« Sie drückte die Hand ihres Mannes. »Sonst kommen wir uns so alt vor.«

»Ihr seid alt«, sagte Laurel kichernd.

Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch. »Vorsicht, kleine Miss.«

»Bitte, Tamani, erzähl noch etwas über das Leben als Wachposten.«

»Also …«

»Mark, lass ihn doch am Feiertag mit seiner Arbeit in Ruhe!«

»Das stört mich nicht, wirklich«, sagte Tamani. »Ich liebe meinen Beruf. Und im Augenblick ist er mein Leben, Feiertag hin oder her.«

Laurels Vater löcherte Tamani mit Fragen, größtenteils zu den Aufgaben eines Wachpostens. Er wollte aber auch wissen, wie er in Avalon aufgewachsen war und was die Elfen dort aßen. Zum Schluss stellte er sogar einige Fragen zur Elfenwirtschaft, die Tamani beim besten Willen nicht beantworten konnte. Als ihre Mutter endlich den Kuchen aus dem Ofen holte, fühlte Laurel sich sehr unwohl. Tamani hatte sein Essen erst zur Hälfte geschafft – und er hatte von vornherein wenig auf den Teller getan. Laurel sehnte sich danach, Tamani nach oben zu schmuggeln, ehe ihr Vater noch mehr von seinen sonderbaren Fragen über Avalons Bruttoinlandsprodukt oder die politische Rangfolge stellen konnte.

»Lass den Jungen essen«, schimpfte Laurels Mutter und brachte ihren Mann mit einem großen Stück Kürbiskuchen mit Schlagsahne zum Schweigen. Für Laurel und Tamani hatte sie kleine Sorbetschalen mit einer halbgefrorenen Obstspeise vorbereitet.

»Normalerweise sehen wir uns nach dem Dessert einen Film an«, sagte Laurels Vater zu Tamani. »Möchtest du vielleicht mitgucken?«

»Ich gehe mit Tamani ein bisschen spazieren«, antwortete Laurel an seiner Stelle. Das war die Gelegenheit. »Aber wir kommen rechtzeitig zurück, um das Ende zu sehen.«

»Ich persönlich könnte höchstens noch watscheln«, scherzte ihr Vater.

Laurel verdrehte die Augen und stöhnte. Eltern. Sie packte Tamani am Arm und zog ihn praktisch zur Haustür, weil sie abhauen wollte, bevor noch jemand etwas sagte.

»Du hast es aber eilig, mich für dich zu haben!«, murmelte Tamani grinsend, als sie die Tür hinter sich zuzog.

»Ich habe es wohl falsch eingeschätzt, wie schräg es sein würde.«

»Schräg?«, fragte Tamani aufrichtig erstaunt. »Ich fand es nicht schräg. Gut, am Anfang …«, gab er dann doch zu. »Aber so ist das immer, wenn man sich kennenlernt. Im Gegensatz zu dir hatte ich es mir wesentlich schräger vorgestellt. Sie sind wirklich nett.«

Sie liefen eine Zeit lang ziellos umher, ehe Laurel merkte, dass ihre Füße sie auf den vertrauten Weg zur Schule trugen. Doch statt einen anderen Weg zu nehmen, ging Laurel mit Tamani auf die Tribüne am Football-Platz. Als sie oben angekommen waren, stellte sie sich ans Geländer und hielt das Gesicht in den Wind, der ihr Haar zerzauste. Nach kurzem Zögern stellte Tamani sich neben sie.

»Es tut mir leid, was du alles durchmachst«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Als ich als Wachposten anfing, hatte ich sehr geringe Erwartungen. Es gibt Wächter, die nie im Leben einem Ork begegnen. Du solltest eigentlich in eurem Häuschen ein völlig normales Leben führen und nach Avalon zurückkehren, wenn du das Grundstück geerbt hättest. Danach wäre meine Aufgabe noch leichter gewesen.«

»Das hat Jamison auch gesagt«, meinte Laurel und schaute über die Schulter zu Tamani. »Das mit dem normalen Menschenleben bis zu meiner Rückkehr nach Avalon. Es ist im Leben wohl selten so, wie wir es uns erhoffen.« Sie meinte nicht nur die Orks. Hatten sie wirklich geglaubt, sie würde ihr Menschenleben einfach so zurücklassen, ohne sich auch nur umzusehen?

»Stimmt«, sagte Tamani. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.« Er kam immer näher und legte die rechte Hand neben sie auf das Geländer. Dann legte er mutig seine linke Hand auf ihre und schmiegte die Brust an ihren Rücken.

Natürlich hätte sie ihn abschütteln und weggehen sollen, weil sie sich so viel zu nah waren, aber sie schaffte es nicht. Sie wollte es auch gar nicht. Und ausnahmsweise zwang sie sich nicht dazu. Sie stand still wie eine Statue und spürte ihn und genoss es – seine Nähe erfrischte sie wie die Brise auf ihrer Haut.

Es kam ihr so natürlich vor, dass es ihr gar nicht groß auffiel, als er seine Wange an ihren Nacken legte und das Kinn so neigte, dass seine Lippen ihre Haut berührten. Doch die zarten Küsse auf den Hals bis zum Ohr konnte sie nicht mehr ignorieren, so wenig wie die Hitze, die sie durchströmte. Alles in ihr wollte sich zu ihm umdrehen und ihm erlauben, was er heimlich ersehnte. Vor Verlangen bekam sie kaum noch Luft. Dann lag seine Hand an ihrer Taille, langsam drehte er sie zu sich um. Er küsste sie auf den Mundwinkel und seufzte, ehe er sanft den Mund auf ihren legte.

Laurel riss sich gerade noch am Riemen. »Ich kann nicht«, flüsterte sie.

»Warum nicht?«, fragte Tamani und drückte seine Stirn an ihre.

»Ich kann eben nicht«, antwortete Laurel und drehte sich wieder um.

Doch er nahm ihre Hände und zog sie wieder zurück, um ihr in die Augen zu sehen. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er sanft und leise. »Ich tue alles, was du willst. Ich will nur wissen, warum. Warum fühlst du dich so gebunden?«

»Ich habe es mir geschworen. Ich … ich muss mich entscheiden. Und wenn ich mit dir zusammen bin, wenn wir uns küssen, werde ich ganz wirr im Kopf. Ich muss klar denken können.«

»Ich bitte dich gar nicht um eine Entscheidung«, sagte Tamani. »Ich möchte dich nur küssen.« Er glitt mit der Hand an ihren Hals und schmiegte sie an ihre Wange. »Willst du mich küssen?«

Sie nickte kaum wahrnehmbar. »Aber …«

»Dann kannst du das tun«, sagte er. »Und ich werde nicht etwa morgen auf eine Entscheidung drängen. Manchmal«, sagte er und legte einen Finger auf ihre Unterlippe, »ist ein Kuss nur ein Kuss.«

»Ich will dich nicht hinhalten«, sagte Laurel schwächlich.

»Das weiß ich doch. Und ich freue mich darüber. Aber im Augenblick wäre es mir egal, wenn es nichts zu bedeuten hätte. Selbst wenn du mich nie wieder küsst, lass uns das Heute genießen.« Sein Mund war wieder an ihrem Ohr und sein flüsternder Atem wärmte sie.

»Ich will dir nicht wehtun«, sagte Laurel.

»Wie könntest du mir so wehtun?«

»Du weißt genau, was ich meine. Morgen hasst du mich dafür.«

»Ich könnte dich nie hassen.«

»Es ist nicht für die Ewigkeit.«

»Ich bitte dich gar nicht um die Ewigkeit«, sagte Tamani. »Noch nicht. Ich bitte dich um diesen Augenblick.«

Laurel fielen keine Gegenargumente mehr ein. Höchstens noch ganz kleine, die nicht zählten und gar nichts mehr zu sagen hatten, als Tamani seine Hände fest auf ihren Rücken legte und ihre Schultern streichelte – sein Mund nur einen Atemzug entfernt.

Laurel beugte sich vor, bis sie nichts mehr trennte.