Zwölf

Laurel fühlte sich von ihrer Mutter ermutigt und beschloss, dass nichts dagegen spräche, Tamani zu sich einzuladen, unter Freunden eben. Deshalb rief sie ihn am Freitagabend zum ersten Mal auf seinem iPhone an und fragte ihn, ob er Samstag zu ihr kommen und mitforschen wolle. Und mit forschen meinte sie forschen. Ihre Mutter würde nicht zu Hause sein, um Tamani kennenzulernen – samstags war in ihrem Geschäft am meisten los –, aber ihr Vater. Für den Anfang war das nicht schlecht.

Als es schellte, rief Laurels Vater, dass er aufmachen würde. Auf dem Weg zur Tür konnte sie ihn nicht schlagen, da half nur eine gewisse Verzögerungstechnik. Sie warf noch einen Blick über die Schulter und betrachtete ihre Blüte im Spiegel. Sie war so schön – und vollständig – wie immer. Nachdem ein Ork ihr im vergangenen Jahr eine Handvoll Blütenblätter herausgerissen hatte, hatte sie sich Sorgen gemacht, ob die Blüte genauso wiederkommen würde. Zum Glück sah die neue Blüte nicht so aus, als hätte sie Schaden genommen. Sie war wie immer dunkelblau in der Mitte und blich dann zu den Spitzen aus, die beinahe weiß waren. Die Blütenblätter entfalteten sich zu einem Stern mit vier Zacken, der – selbst wenn sie inzwischen wusste, was es war – Flügeln ähnelte. Manchmal, wenn sie ihr nicht gerade einen Schrecken einjagte oder im Weg war, liebte Laurel ihre Blüte.

Doch sie war ihr eindeutig im Weg, wenn sie ihrem Vater gleich Tamani vorstellen sollte.

Um ihre Nerven zu beruhigen, zupfte Laurel an ihrem grünen schulterfreien Top und strich ihre Caprihose glatt, bevor sie die Tür einen Spalt breit öffnete. Sie lauschte, bis sie von unten Tamanis sanften Akzent hörte. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn sie in voller Blüte zur Tür geeilt wäre und doch nur ein geschwätziger Nachbar geklingelt hätte.

Sie dachte nicht zum ersten Mal an diesem Morgen daran, David anzurufen. Er hatte ihr am Vorabend eine E-Mail geschickt und sich noch mal entschuldigt, aber sie hatte nicht darauf reagiert. In Wirklichkeit wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Vor einer Stunde hatte sie sogar schon zum Telefon gegriffen und angefangen, seine Nummer zu wählen. Doch mitten in einem Experiment mit Tamani hatte sie weder die Zeit noch die Nerven, mit ihm über ihre Probleme zu reden, und sie wusste auch genau, dass sie sich nicht konzentrieren könnte, wenn David jetzt dazukäme und die Atmosphäre weiterhin so angespannt wäre. Ich rufe ihn sofort an, wenn Tamani gegangen ist, schwor sie sich selbst.

Als sie langsam die Treppe hinunterging, hörte sie, wie Tamani sich mit ihrem Vater unterhielt. Bei dieser Begegnung hatte sie ein seltsames Gefühl, sie spürte sogar einen Stich von Eifersucht. Tamani war jetzt zwei Jahre lang ihr Geheimnis gewesen – ihr besonderer Freund, den sie bis auf einige Begegnungen mit David mit niemandem hatte teilen müssen. Manchmal wünschte sie, sie könnte die Zeit zurückdrehen und alles wäre wie vorher, als er noch dunkelgrüne Augen und längere Haare gehabt hatte und weder Jeans noch Schuhe trug. Als er noch einzig und allein ihr gehörte.

So hätte sie es beinahe nicht gemerkt, dass die beiden aufhörten sich zu unterhalten und sie sprachlos anstarrten. »Hey«, sagte sie und winkte ihnen kraftlos zu.

»Hey ist das richtige Wort!«, rief ihr Vater aufgeregt. »Wie hübsch du bist! Ich wusste gar nicht, dass du blühst.«

Laurel zuckte die Achseln. »Halb so wild«, sagte sie gespielt locker, während Tamani vor ihr stand und verhalten ihre Blüte anstarrte.

Auf einmal steckte er ruckartig die Hände in die Hosentaschen.

Oha.

»Tja«, sagte Laurel und rang sich ein Lächeln ab, während ihr Vater weiterhin ihre Blütenblätter bestaunte und Tamani den Blick abwandte. »Dad, das ist Tamani. Tamani, das ist mein Vater.«

»Ja, Tamani hat mir gerade ein wenig von seinem Leben als Wachposten erzählt. Ich finde es höchst faszinierend.«

»Du findest alles faszinierend, was auch nur annähernd mit Elfen zu tun hat«, sagte Laurel und verdrehte die Augen.

»Warum auch nicht?« Mit verschränkten Armen sah er sie stolz an.

Dieses Übermaß an Aufmerksamkeit ging Laurel auf die Nerven. »Jetzt müssen wir aber arbeiten«, sagte sie und wies mit dem Kopf zur Treppe.

»Hausaufgaben?«, fragte ihr Vater. Er glaubte ihnen kein Wort.

»Elfenarbeit«, sagte Laurel und schüttelte den Kopf. »Tamani stellt mir großzügigerweise seinen Körper zu Forschungszwecken zur Verfügung.« Kaum hatte sie das gesagt, merkte sie, wie verfänglich es sich anhörte. »Er hilft mir, meine ich.« Jetzt kam sie sich noch dämlicher vor.

»Wahnsinn! Darf ich zugucken?«, fragte ihr Vater, der sich seinerseits eher wie ein kleiner Junge als ein erwachsener Mann anhörte.

»Als ob, es wäre ja auch überhaupt nichts Komisches dabei, wenn mein eigener Vater mir über die Schulter schaut«, kommentierte Laurel munter.

»Na gut«, sagte er und umarmte sie. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr: »Du sieht wunderschön aus. Lass die Tür auf.«

»Dad!«, zischte Laurel, doch er zog nur eine Augenbraue hoch. Sie wagte einen Blick zu Tamani, aber der fand das alles anscheinend gar nicht lustig. »Na dann«, sagte sie, löste sich aus der Umarmung ihres Vaters und ging zur Treppe. »Hier geht’s lang«, sagte sie zu Tamani, der kurz innehielt und dann auf Laurels Vater zuging. Er hatte die Hand ausgestreckt, die glücklicherweise gerade pollenfrei war, wahrscheinlich dank des Hosentaschenfutters. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Mr Sewell.«

»Ganz meinerseits, Tam.« Laurel erschauerte. Aus dem Mund ihres Vaters klang der Kosename noch abwegiger. »Wir müssen unbedingt demnächst weiterreden.«

»Gerne«, sagte Tamani und tätschelte Laurels Vater mit der anderen Hand die Schulter. »Aber jetzt, wow, heute am Samstag, ist in Ihrem Geschäft sicher eine Menge los, oder?«

»Ach, eigentlich kommen die Kunden erst ab zwölf«, erwiderte der Buchhändler mit Blick auf die Uhr, die elf anzeigte.

»Ja, aber die Schule hat doch erst vor wenigen Wochen angefangen, und es gibt immer noch Schüler, die nicht alle Bücher beisammen haben, nicht wahr? Ich wette, im Laden gibt es viel zu tun und Ihre Hilfe wird benötigt, wir kommen hier schon klar.«

Laurel brauchte genau drei Sekunden, bis sie begriff, was gespielt wurde.

»Also, da hast du wirklich recht«, sagte ihr Vater mit einer Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich werde mal nach dem Rechten sehen.«

»Wie gesagt, es hat mich sehr gefreut, wenngleich wir nicht viel Zeit hatten. Aber wir sehen uns wieder.«

»Ja, das wäre schön!«, sagte Laurels Vater, der allmählich wieder normal wirkte. »Gut, ihr geht schön an die Arbeit und ich gehe ins Geschäft und stehe Maddie bei. Heute ist Samstag, da ist sicher eine Menge los.« Er schnappte sich den Autoschlüssel und ging.

»Okay«, sagte Laurel zu Tamani. »Voll uncool.«

»Wie bitte?« Er sah sie aufrichtig verwirrt an. »Jetzt steht er uns nicht mehr im Weg.«

»Er? Dieser Er ist mein Vater!«

»Die Verzauberung schadet ihm nicht im Mindesten«, protestierte Tamani. »Abgesehen davon lebe ich seit vielen Jahren allein. Mit gluckigen Eltern kann ich nicht gut umgehen.«

»Mein Haus, meine Regeln«, sagte Laurel streng. »Mach das bloß nicht noch mal.«

»Ist ja gut«, sagte Tamani und hob die Hände. Dann sah er zu ihr hoch, weil sie einige Stufen weiter oben stand. »Er hatte übrigens recht, du bist wunderschön.«

Ihr Ärger verflog, und sie blickte auf die Stufe, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

»Los, komm«, sagte Tamani und lief an ihr vorbei – der Inbegriff sorgloser Unbekümmertheit, »fangen wir an.«

In den letzten Jahren hatte sich Laurels Zimmer von einer typischen Teenagerhöhle in ein pinkfarbenes flauschiges Chemielabor verwandelt. Die hauchdünnen Gardinen und eine mädchenhafte Tagesdecke waren geblieben und auch die Prismen an ihren Fenstern funkelten noch in der Sonne und sandten Regenbogen durch den Raum. Doch das Licht tanzte nicht über CDs, Make-up, Bücher oder Anziehsachen, sondern fing sich in Phiolen, Mörsern und Reagenzien – Tüten mit Blättern, Ölfläschchen und Körben mit trocknenden Blumen.

Zumindest roch es daher in ihrem Zimmer immer gut.

Laurel setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und zeigte auf einen pinkfarbenen Hocker, auf den Tamani sich setzen konnte. Sie wollte jetzt nicht daran denken, wie oft David dort gesessen hatte, um ihr zuzusehen.

»Schieß los«, sagte Tamani mehr zu ihrer Blüte als zu ihrem Gesicht, »wie weit bist du inzwischen?«

»Äh«, sagte Laurel und verdrängte den Druck auf ihrer Brust. »Leider nicht sonderlich weit. Der Leuchtstoff ist mir gut gelungen, das wäre geschafft. Aber ich habe auch versucht, Cyoanpulver herzustellen, nur übersteigt das meine Fähigkeiten bei Weitem.«

»Was willst du denn mit Cyoan? Das sagt doch gar nichts über eine Elfe aus.«

»Wir möchten doch etwas Ähnliches zum Experimentieren haben. Und wenn das Mixen echt gut klappt und ich dann einen Fehler mache, dann beschleicht mich so ein Gefühl, als ob, also ehrlich gesagt, kann ich es gar nicht beschreiben. Es ist wie beim Gitarrespielen, wenn ich einen Akkord anstimme und es sich zwar richtig anhört, ich aber weiß, dass er falsch ist, weil ich etwas anderes wollte …«

Tamani lächelte hilflos. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest …«

Laurel lachte. »Ich auch nicht! Das ist Teil des Problems, fürchte ich. Ich glaube, dass Katya recht hat und die verschiedenen Elfenarten Licht unterschiedlich verarbeiten. Zum Beispiel ich: Ich mag das Sonnenlicht zwar, aber ich benutze es nicht zum Mixen. Und Frühlingselfen … ich glaube, ihr seid anpassungsfähig. Manchmal bleibt ihr doch sogar ganze Nächte auf, nicht wahr?«

»Oft sogar«, antwortete Tamani in einem erschöpften Tonfall, der andeutete, dass er in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen hatte.

»Und die Wachposten in Hokkaido können klirrender Kälte widerstehen«, sinnierte Laurel.

»Das stimmt zwar, aber nur mit Hilfe der Herbstelfen«, erwiderte Tamani bedächtig. »Sie brauen einen besonderen Tee aus …«

»Teufelsrüben, ich weiß«, unterbrach ihn Laurel. »Trotzdem, die Energie muss woanders herkommen. Und die Winterelfen brauchen sehr viel Energie, wenn sie … was?«, fragte sie, als Tamanis Augen plötzlich aufleuchteten.

»Was für ein Vergnügen, dir zuzuhören«, sagte er mit einem Anflug von Stolz. »Du bist unglaublich, du kapierst es echt. Ich wusste, es würde dir leichtfallen, wieder eine Herbstelfe zu werden.«

Laurel verkniff sich das Lächeln, räusperte sich und machte sich an einer bereits zerstoßenen Mischung am Boden ihres Mörsers zu schaffen.

»Gut. Und was hast du nun vor?«, fragte Tamani.

»Keine Ahnung. Ich bin immer noch dagegen, das Zeug zu trinken. Allerdings habe ich mich gefragt, ob es irgendeine Wirkung auf deine Haut haben könnte …«

Tamani reckte ihr auf der Stelle seinen Unterarm entgegen.

» … aber ich will nicht willkürlich loslegen. Mixen ist eine ziemlich zupackende Angelegenheit«, sagte Laurel. »Damit meine ich berührungsintensiv. Was ich sagen will … ehe ich etwas mache, möchte ich ein Gefühl für die Beschaffenheit deiner Zellen bekommen, und das bedeutet, dass ich Hand anlegen muss … bei dir.«

Hätte ich das noch blöder formulieren können?, fragte sich Laurel verzweifelt, während sie zusah, wie Tamani – vergeblich – verbergen wollte, dass er sich köstlich amüsierte.

»Bitte schön«, sagte er noch einmal und hielt ihr seine Hand hin, in der der Blütenstaub nur so funkelte, sodass sie überaus magisch aussah.

»Eigentlich«, begann Laurel, »wäre es mir lieber, wenn du …« Pause. »Zieh dein T-Shirt aus, setz dich ans Fenster und lass dich von der Sonne bescheinen. Auf diese Weise können deine Zellen mit der aktiven Fotosynthese beginnen, nachdem sie eine Weile geruht haben, und ich kann diesen Prozess hoffentlich erspüren.«

»Das hört sich fast schon sinnvoll an«, sagte Tamani grinsend. Dann ging er zu ihrem Fensterplatz und wartete, bis sie sich hinter ihn setzte. Laurel achtete peinlich genau darauf, dass sie sich an keiner Stelle berührten, und zwar nicht nur, weil sie es für keine gute Idee hielt und es sie empfindlich in ihrer Konzentration behinderte, sondern weil sie erfahren hatte, dass ihre Finger empfänglicher waren, wenn der Rest ihres Körpers keinen Kontakt zu pflanzlichen Stoffen hatte.

»Bist du so weit?«, fragte Tamani leise und irgendwie zweideutig.

Laurel sah aus dem Fenster. Die Sonne war gerade hinter einer Wolke hervorgekommen. »Perfekt«, sagte sie. »Mach.«

Tamani streckte die langen Arme über den Kopf und zog sein T-Shirt aus.

Laurel fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Sie spreizte die Hände und legte sie auf Tamanis Rücken. Als sie die Augen schloss, drückte sie die Fingerspitzen ein wenig in seine Haut und versuchte zu fühlen – nicht Tamani persönlich, sondern die Bewegung in seinen Zellen.

Sie neigte den Kopf, als die Sonne ihre Handrücken wärmte. Einen Augenblick später bemerkte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, denn so schienen die Sonnenstrahlen nicht mehr auf Tamanis Rücken. Mit einem frustrierten Seufzer hob sie die Hände und legte sie wieder auf, diesmal tiefer und an der einen Seite der Rippen, worauf die Sonne gerade geschienen hatte. Er rückte ein wenig nach links, aber sie war jetzt voll konzentriert und ließ sich nicht einmal mehr von Tamani aus dem Takt bringen.

Jedenfalls nur geringfügig.

Laurel hatte von Yeardley gelernt, das natürliche Wesen jeder Pflanze zu erspüren, die sie berührte. Er hatte ihr versichert, dass sie mit Fleiß und Übung dieses Gefühl so weit entwickeln würde, bis es ihr alles Wissenswerte über eine Pflanze verriete – vor allem, was es bringen würde, wenn man sie mit anderen Pflanzen mixte. Das sollte ihr jetzt auch mit Tamani gelingen. Und wenn sie dann noch herausfände, wie sie die Unterschiede zwischen ihnen ertasten könnte …

Doch jedes Mal, wenn sie glaubte, etwas zu fühlen, entschwand es ihr wieder. Lag es daran, dass sie ab und an das Sonnenlicht verdeckte oder gab es die Unterschiede, die sie suchte, vielleicht gar nicht? Je mehr sie sich bemühte, umso weniger spürte sie. Als sie endlich merkte, dass sie ihre Finger in Tamanis Haut bohrte, fühlte sie selbst schon gar nichts mehr.

Sie ließ ihn los und wandte den Blick von den Kerben ab, die ihre Fingernägel auf seinem Rücken hinterlassen hatten.

»Und?«, fragte Tamani, drehte sich zu ihr um und lehnte sich ans Fenster, ohne Anstalten zu machen, sein T-Shirt wieder anzuziehen.

Laurel seufzte noch einmal, so enttäuscht war sie. »Da war … etwas, aber es hat sich mir irgendwie wieder entzogen.«

»Willst du noch einen Versuch wagen?« Tamani beugte sich vor, bis sein Kopf direkt vor ihrem schwebte. Er sprach leise und aufrichtig. Von Necken oder Flirten keine Spur.

»Das würde nichts bringen, glaube ich.« Sie war immer noch damit beschäftigt, die Gefühlseindrücke ihrer Fingerspitzen zu verarbeiten. Es war wie ein Wort, das man auf der Zunge hat, oder wie ein Niesen, das nicht kommen will. Sie war so nah dran, hatte aber Angst, es zu vertreiben, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Laurel schloss die Augen und legte die Finger an ihre Schläfen, um sie zart zu massieren und das Leben in ihren eigenen Zellen zu fühlen. Es war so wie immer.

»Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte … dich besser fühlen«, sagte sie und wünschte, es anders ausdrücken zu können. »Ich komme einfach nicht an das heran, was ich erfassen will. Als wäre deine Haut im Weg. In der Akademie würde ich meine Probe aufschneiden, aber das kommt hier ja nicht infrage«, sagte sie und lachte.

»Was kannst du denn noch tun, wenn die Pflanze dir nicht verrät, was sie tut? Außer sie aufzuschneiden, meine ich«, fragte Tamani.

»Riechen«, antwortete Laurel automatisch. »Ich erkenne die Ungiftigen am Geschmack.«

»Am Geschmack?«

Laurel sah Tamani an, sein schiefes Lächeln. »Oh nein«, wehrte sie ab, denn sie konnte genau sehen, was er vorhatte. »Nein, nein, nein, ne …«

Sie konnte nicht weitersprechen, als Tamani seine pollenbestäubten Hände an ihre Wangen legte und seinen Mund auf ihre Lippen drückte und sie sanft öffnete.

In Laurels Kopf explodierten Sterne und ihre Regenbogenasche verschmolz sintflutartig zu einem Schnellfeuer-Daumenkino aus Blumenparaden und Wahnsinn. Gedanken rasten ungebeten, flüchtig und schwer zu fassen durch ihren Kopf, bis ihr gleichzeitig leicht ums Herz und schwindelig wurde. Mit Staubgefäßen von Zimmercalla zu einem starken Gegengift mixen. Verlängert die Lebensdauer von Tieren, wenn man es mit Amrita gären lässt. Verzauberungsblock, Rosenblüten, Fotowiderstand, Salbe Gänseblümchen Balsam Tinkturgiftnektartod … Laurel riss sich von Tamani los, zu betäubt, um ihm eine Ohrfeige zu geben.

»Laurel? Laurel? Ist alles okay?«

Laurel ließ sich auf den Stuhl fallen und legte einen Finger auf die Lippen.

»Laurel, ich …«

»Ich hatte dich gebeten, das zu lassen.« Selbst für Laurel klang ihre Stimme ausdruckslos. Aus weiter Ferne. Aber ihr Verstand raste. Sie wusste, dass sie sauer sein sollte, aber sie nahm Tamani kaum wahr, so sehr hing sie den Empfindungen nach, die sie eben überfallen hatten.

»Du wolltest es nicht tun und ich musste es wenigstens probieren. Ich habe mir nichts dabei gedacht …«

»Oh doch«, sagte Laurel. Ihre Forschungen waren eine willkommene Ausrede, in der Tamani seine Chance gewittert und ergriffen hatte. Er hatte Glück gehabt, es hatte funktioniert. Irgendwie jedenfalls. Sie sah ihn benommen an. Allmählich dämmerte ihr, dass er keine Ahnung hatte, was gerade passiert war.

»Soll ich mich entschuldigen? Bitte, wenn es dir wichtig ist. Es tut …«

Laurel legte nun ihm den Zeigefinger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Berührung brachte den überquellenden Informationsfluss nicht von Neuem in Gang, aber sie hatte die Bilder noch vor Augen. Fühlt es sich für die anderen Herbstelfen etwa immer so an? Oder war es nur ein Glückstreffer?

Anscheinend machte ihre Miene ihm Angst, denn Tamani trat einen Schritt zurück und hob flehend die Handflächen. »Bitte, ich dachte nur …«

»Klappe«, sagte Laurel so geradeheraus wie eben, aber sie fühlte sich nicht mehr so neben der Spur. »Das regeln wir später. Als du mich geküsst hast, bin ich auf lauter … Ideen gekommen. Für Zaubertränke, von denen ich noch nie etwas gehört habe.« Sie erinnerte sich, wie das Wort Gift ihr in den Kopf geschossen war. »Sie könnten glatt verboten sein.«

»Warum?«

»Ich habe es falsch angepackt, Tamani. Ich muss dich gar nicht berühren. Vielleicht muss ich meine Zaubertränke an dir ausprobieren, vorausgesetzt, dass ich die passenden Pflanzen finde, aber wenn ich dich berühre, sagt mir das gar nichts darüber, wie ich Zaubertränke für dich brauen soll.«

Es dauerte eine Weile, bis er diese Information verdaut hatte. »Was hat es dir denn dann gesagt, Laurel?«

»Wie ich Zaubertränke aus dir machen kann.«

»Heilige Hekate, Blüten, Zweige und Atem«, fluchte Tamani sorgenzerfurcht. »Das kannst du?«

»Mit Fleiß und Übung«, antwortete sie ruhig. Wie oft hatte Yeardley das zu ihr gesagt? »Ich … ich glaube nicht, dass ich überhaupt etwas davon wissen darf«, sagte sie leise. »Aber ich weiß nicht, warum.«

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Andere Herbstelfen wissen doch sicher auch davon?«

»Das weiß ich nicht. Mit mir hat noch nie jemand darüber gesprochen. Wieso …« Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie konnte man nur daran denken, andere Elfen als Zutaten zu betrachten? »Warum ist das früher nicht passiert?«, fragte sie schließlich. »Ich habe dich ja nicht zum ersten Mal … geküsst.«

Jetzt grinste Tamani schmerzerfüllt. »Äh, vielleicht habe ich mir fest auf die Zunge gebissen, bevor ich dich geküsst habe?!«

Laurel hörte auf zu denken. »Bah, wie ekelhaft!«

»Hey«, sagte Tamani achselzuckend. »Du hast davon geredet, Dinge aufzuschneiden und zu schmecken, und ich wusste, dass du beides nicht an dir selbst ausprobieren würdest.«

Er hatte recht. Das hatte sicherlich den Unterschied ausgemacht. Es reichte nicht, ihn einfach zu berühren oder auch zu küssen. Dennoch …

»Du solltest jetzt gehen«, sagte Laurel streng. Es ging ihr langsam besser. Tamani hatte sie geküsst! Ohne ihre Erlaubnis. Schon wieder! Sie wusste, dass sie wütend sein müsste, aber irgendwie drang der Ärger nicht durch den Schock ihrer neuen Entdeckungen.

»Wenn es dir hilft, es hat echt wehgetan«, gestand Tamani und zog ein komisches Gesicht.

»Tut mir leid. Immerhin hast du es diesmal nicht vor David getan«, sagte Laurel. »Aber du hättest es überhaupt nicht tun dürfen.«

Tamani nickte nur und ging schweigend aus ihrem Zimmer.

Laurel legte noch einmal die Hand auf den Mund und hing ihren Gedanken nach. Ausnahmsweise dachte sie jedoch nicht an Tamani, sondern an Zaubertränke, Pulver und Gifte, von denen sie seltsamerweise wusste, dass sie ihr eigentlich für immer verborgen sein sollten.