Drei

In den nächsten Tagen fühlte sich Laurel in der Schule beinahe unerträglich unbehaglich; es machte sie verrückt, dass Tamani in ihrem Politik-Kurs saß und seine Teilnahme am Rhetorik-Kurs trieb David in den Wahnsinn. Chelsea dagegen würde sich wahrscheinlich viel mehr Sorgen um die Orks machen, die sich anscheinend noch immer in der Umgebung von Crescent City herumtrieben, wenn sie nicht so glücklich darüber gewesen wäre, dass noch ein zweiter Elf an der Del-Norte-Highschool war. Doch auch wenn er immer und überall dabei war, schenkte Tamani Laurel und ihren Freunden wenig Beachtung. Laurel, die es schon schön fand, wenn er ihr ab und zu heimlich zuzwinkerte oder sie anlächelte, wurde dadurch jedoch jedes Mal von Neuem an die Gefahren erinnert, die an jeder Ecke lauern konnten.

Andererseits nahm ihr Leben – Orks hin, Tamani her – seinen üblichen Lauf, seit sie wieder mit Hausaufgaben, Tests und Projekten konfrontiert war. Sie wollte nicht in ständiger Angst leben, sie wollte sich auf den Unterricht konzentrieren und ihr Leben genießen, und obwohl sie es nur ungern zugab, war für Tamani kaum Platz.

Sie wusste nicht, ob sie traurig darüber sein, ein schlechtes Gewissen haben oder doch daran verzweifeln sollte. Unabhängig davon, wie viel Raum sie Tamani in ihrem Leben zugestand, wusste Laurel genau, dass für Tamani kaum etwas anderes zählte als sie. Er lebte dafür, sie zu beschützen, und hatte sie nie im Stich gelassen. Tamani hatte sie geärgert, enttäuscht, verletzt und zum Wahnsinn getrieben, aber er hatte sie nie im Stich gelassen.

Manchmal fragte sie sich, womit er sich beschäftigte, wenn er nicht in der Nähe war. Doch insbesondere nachmittags, wenn sie mit David auf dem Sofa kuschelte, zog sie es vor, nicht so genau Bescheid zu wissen. Mit David redete sie nicht darüber – selbstverständlich hatte sie ihn eingeweiht, aber sie waren sich schon lange stillschweigend einig, dass Schweigen Gold war, wenn es um Tamani ging.

Sie hatte dieses Kribbeln nun fast ständig, das anzeigte, dass sie beobachtet wurde. Laurel bemühte sich, nicht zu oft darüber nachzudenken, ob es der Realität entsprach oder ob sie es sich nur einbildete. Doch meistens hoffte sie, dass sie wirklich unter Schutz stand, erst recht, als ein verdächtig aussehendes Fahrzeug vor ihrem Haus hielt.

Dann klingelte es auch noch.

»Geh nicht hin«, sagte David und sah von seinen sauber geschriebenen Notizen auf, als Laurel ihr voll gekritzeltes Heft vom Schoß nahm. »Sicher nur ein Vertreter oder so was.«

»Ich muss nachsehen«, erwiderte Laurel. »Mom erwartet ein Päckchen von eBay, da müsste ich unterschreiben.«

»Komm schnell wieder«, sagte David grinsend.

Laurel lächelte immer noch, als sie die Tür öffnete. Doch kaum erkannte sie das vertraute Gesicht ihrer Besucherin, verging ihr das Lächeln. Sie versuchte, sich von dem Schreck zu erholen und ein neues aufzusetzen. »Klea! Hallo! Ich …«

»Entschuldige, dass ich so hereinplatze«, sagte Klea mit einem undurchsichtigen Lächeln, das der Mona Lisa Konkurrenz machte. Sie war – wie immer – von Kopf bis Fuß figurbetont in Schwarz gekleidet und die verspiegelte Sonnenbrille verbarg wie gewohnt ihre Augen. »Du könntest dich jetzt erkenntlich zeigen.«

Für Kleas Verhältnisse war das sehr direkt. Laurel fiel wieder ein, was Tamani neulich über die Ruhe vor dem Sturm gesagt hatte. Hoffentlich wurde sie nicht gleich vom Sturm überrollt. »Wofür?«, fragte sie, froh, dass ihre Stimme klar und stark klang. »Können wir uns hier draußen unterhalten?«, fragte Klea und wies mit dem Kopf auf die Veranda vorm Haus.

Laurel folgte ihr zögernd, obwohl sie wusste, dass niemand ihrem Haus so nah kommen konnte, ohne dass die Wachposten jede Bewegung beobachteten. Klea streckte eine Hand nach einem Mädchen aus, das still neben dem Korbstuhl stand, der am weitesten von ihnen entfernt war. »Laurel, darf ich dir Yuki vorstellen?«

Es war das Mädchen, das Laurel am ersten Schultag bei Tamani gesehen hatte – die japanische Austauschschülerin. Sie trug einen khakifarbenen Leinenrock und ein helles luftiges Top mit roten Blumen. Yuki war ein wenig größer als Laurel, aber so wie sie dastand, machte sie sich kleiner – sie hatte die Arme verschränkt, ließ die Schultern fallen und zog das Kinn an die Brust. Laurel kannte diese Haltung, sie nahm sie auch immer ein, wenn sie am liebsten vom Erdboden verschwinden würde.

»Yuki?«, sagte Klea auffordernd. Das Mädchen hob das Kinn und sah Laurel durch ihre langen Wimpern an.

Laurel blinzelte erstaunt. Yuki hatte elegante mandelförmige Augen, aber sie waren schockierend hellgrün und bildeten einen harten Kontrast zu ihrem dunklen Haar und ihrem Teint. Insgesamt wirkte diese Mischung jedoch überraschend schön.

»Hallo.« Unbeholfen streckte Laurel die Hand aus. Yuki schüttelte sie kraftlos und Laurel ließ schnell wieder los. Diese Begegnung machte sie irgendwie fertig. »Du bist die neue Austauschschülerin, oder?«, fragte sie und warf Klea einen raschen Blick zu.

Klea räusperte sich. »Das trifft es nicht ganz. Also, sie kommt wirklich aus Japan, aber wir haben einige Dokumente gefälscht, um sie in euer Schulsystem zu integrieren. Sie als Austauschschülerin zu bezeichnen, war schlicht die einfachste Lösung.«

Laurel formte ein stummes O mit den Lippen.

»Sollen wir uns nicht setzen?«, fragte Klea.

Laurel nickte wie betäubt.

»Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich im Herbst bereits erwähnt, dass du mir irgendwann behilflich sein könntest«, setzte Klea an und lehnte sich im Korbstuhl zurück. »Ich hatte gehofft, es würde nicht nötig sein, aber leider ist es nun doch so gekommen. Yuki ist für meine Organisation … von großem Interesse. Nicht als Feindin«, fügte sie rasch hinzu, um Laurels Frage vorzubeugen. Sie wandte sich an Yuki, strich ihr über das lange Haar und zupfte ihr einige Strähnen aus dem Gesicht. »Sie muss beschützt werden. Wir haben sie vor den Orks gerettet, als sie noch ein Baby war, und in einer Pflegefamilie in Japan untergebracht, möglichst weit weg von allen bekannten Horden.«

Klea seufzte. »Leider ist es nirgends auf der Welt absolut sicher. Im vergangenen Herbst wurde Yukis Pflegefamilie von Orks getötet, die sie entführen wollten. Wir konnten sie gerade noch rechtzeitig retten.«

Laurel sah Yuki an, die ihren Blick ruhig erwiderte, als hätte Klea nicht gerade von dem Mord an ihren Eltern berichtet.

»Sie wurde zu mir zurückgeschickt. Seitdem reist sie mit uns herum, aber eigentlich sollte sie zur Schule gehen.« Klea nahm die Sonnenbrille ab, jedoch nur, um sich die gereizten Augen zu reiben. Es war nicht einmal sonnig – aber Klea trug das dumme Ding ja sogar nachts, warum sollte Laurel also erstaunt sein? »Glücklicherweise haben wir die Orks in diesem Gebiet letztes Jahr ausgerottet. Dennoch will ich natürlich auf Nummer sicher gehen. Keinesfalls darf sie von etwaigen neu auftauchenden Orks entdeckt werden. Deshalb haben wir sie an deiner Schule angemeldet.«

»Das verstehe ich nicht. Wieso hier? Und wie soll ich euch dabei helfen?« Laurel wollte ihre Skepsis nicht für sich behalten; sie hatte Kleas Lager gesehen – in Bezug auf Orks fiel ihr niemand ein, der weniger Hilfe brauchte als Klea.

»Wir brauchen nur ein wenig Hilfestellung von dir, mehr nicht, hoffe ich. Aber ich sitze echt in der Klemme. Ich kann es nicht riskieren, sie mit auf die Jagd zu nehmen. Wenn ich sie zu weit fortschicke, ist sie möglicherweise eine willkommene Beute für Orks, von denen ich gar nichts weiß. Wenn ich sie jedoch nicht weit genug weg bringe, könnte sie von allem angegriffen werden, was uns möglicherweise durchs Netz geht. Du hast es letztes Jahr mit fünf Orks aufgenommen und Jeremiah Barnes war ein besonders schwerer Fall. In Anbetracht all dieser Tatsachen denke ich, dass du mit jeglichen … bösartigen Elementen fertig werden könntest. Außerdem bist du gut geeignet, sie im Blick zu behalten. Bitte«, fügte Klea hinzu, als wäre es ihr noch nachträglich eingefallen.

An der Sache musste mehr dran sein, als Klea erwähnt hatte, doch Laurel hatte keine Ahnung, was das sein könnte. War Yuki als Spion auf Laurel angesetzt? Oder machte Tamanis Misstrauen auch Laurel paranoid? Klea hatte Laurel zwei Mal das Leben gerettet! Dennoch brachte sie es nicht über sich, ihr zu vertrauen. Da konnte die Frau noch so vernünftig daherreden, noch so plausible Geschichten erzählen – jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, hörte sich einfach falsch an.

Behielt Klea ihre Geheimnisse absichtlich für sich? Vielleicht lag es daran, dass Laurel Klea zum ersten Mal bei Tageslicht sah, oder sie schöpfte Mut daraus, dass ihre Elfenbewacher in der Nähe waren, oder es lag nur daran, dass sie jetzt älter und zuversichtlicher war. Aus welchem Grund auch immer beschloss Laurel, dass es ihr reichte. »Klea, sagen Sie mir doch einfach, was Sie wirklich hier wollen, ja?«

Seltsamerweise kicherte Yuki, wenn auch nur leise. Einen Augenblick lang verzog Klea keine Miene, doch dann lächelte auch sie. »Das schätze ich so an dir, Laurel – du traust mir noch immer nicht, trotz allem, was ich für dich getan habe. Warum solltest du auch? Du weißt nichts über mich. Deine Vorsicht ehrt dich. Doch jetzt bitte ich dich, mir zu vertrauen, zumindest so weit, dass du mir hilfst. Deshalb will ich dir die Wahrheit sagen.« Klea schaute kurz zu Yuki, die den Blick auf ihren Schoß gesenkt hatte. Dann beugte sie sich vor und sprach leiser. »Wir glauben, dass die Orks hinter Yuki her sind, weil sie im engeren Sinn nicht … menschlich ist.«

Laurel machte große Augen.

»Wir haben sie als Nymphe eingestuft«, fuhr Klea fort. »Das scheint zu passen. Allerdings ist sie die einzige ihrer Art, der wir je begegnet sind. Wir wissen nur eins genau: Sie ist kein Mensch, denn sie hat Pflanzenzellen. Anscheinend zieht sie ihre Nahrung aus der Erde, aus dem Sonnenlicht und anderen fremden Quellen. Sie weist keine paranormalen Fähigkeiten auf, etwa die Stärke oder Überzeugungskraft, die wir von den Orks kennen, aber ihr Stoffwechsel ist ein wenig wundersam, deshalb … ach, egal. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn du ein Auge auf sie hättest. Es könnte Monate dauern, ein Haus einzurichten, das von morgens bis abends gesichert ist. Ich hoffe einfach, dass ich sie im Augenblick gut genug verborgen habe. Wenn nicht, bist du meine Rückversicherung.«

Jetzt fiel bei Laurel der Groschen. Sie sah sich nach Yuki um, die endlich den Blick hob und sie anschaute. Ihre blassgrünen Augen waren Spiegelbilder von Laurels eigenen. Von Aarons. Von Katyas. Und nicht zuletzt Tamanis.

Yuki hatte Elfenaugen.