Sechzehn
Ich weiß wirklich nicht, warum das Ding mich dies Jahr so ärgern muss«, sagte Laurel und versteckte sich hinter Davids breitem Rücken. Sie musste schon wieder die Schärpe neu um ihre Blüte binden.
»Vielleicht, weil du sie Samstag nicht freilassen konntest«, meinte David, »so wie Muskeln, wenn man ihnen keine Pause gönnt.«
»Kann sein«, meinte Laurel, »und an diesem Wochenende wird es auch nicht besser.«
»Möchtest du lieber nicht tanzen gehen?«, fragte David mit einem kleinen Lächeln. »Ich reiße mich ohnehin nicht darum.« Er war nicht gerade begeistert von der Idee, mit Tamani dorthin zu gehen, obwohl seine Laune – minimal – besser geworden war, als er hörte, dass Yuki Tamani gefragt hatte.
»Das war klar«, antwortete Laurel. »Aber Chelsea freut sich und sie braucht das, erst recht nach der letzten Woche. Sie und Ryan müssen mal wieder etwas Schönes machen.«
»Warum darf ich Ryan nicht einfach eine reinhauen?«, knurrte David. Interessant, wie sehr er sich für Chelsea ins Zeug warf. Laurel wusste, dass sie seit vielen Jahren befreundet waren, aber als sie David die Sache mit Ryans Collegebewerbungen erzählt hatte, hätte sie eigentlich erwartet, dass er ihn verteidigen würde – schließlich waren David und Ryan auch Freunde, und Chelsea weigerte sich immer noch standhaft, Ryan auf die Sache anzusprechen.
»Es wird überhaupt nicht gehauen, David«, tadelte sie ihn. »Niemand wird gehauen.«
»Ja, Mama.« David rollte mit den Augen.
»Oh, und Tamani möchte uns alle vor dem Tanz noch treffen – Chelsea, dich und mich.« Das hatte er Laurel im Politik-Kurs gesagt, ohne seine Bitte näher zu erläutern. »Es geht um unsere Strategie, glaube ich. Er hat gesagt, es wäre wichtig.« Laurel rieb sich die Schläfen. Die Geschichte mit Yuki stresste sie fast mehr als lauernde Orks. Bei Orks wusste man wenigstens, mit wem man es zu tun hatte. Orks hatten nur Reichtum und Rache im Sinn und sie rissen gerne Leute in Stücke. Soweit Laurel wusste, waren Yuki und Klea wertvolle Verbündete – andererseits könnten sie genauso gut ihren Tod planen, oder Schlimmeres. Laurel hatte den Verdacht, dass ihre grässlichen Kopfschmerzen auf diese Ungewissheit zurückzuführen waren.
»Ist es schlimm heute?«, fragte David, streichelte ihre Schultern und beugte sich zu ihr hinab, um seine Stirn sanft an ihre zu legen.
Laurel nickte, aber nur ganz leicht, weil sie es schön fand, wenn ihre Gesichter so nah beieinander waren. »Ich muss nur mal kurz nach draußen«, sagte sie leise. »Raus aus diesen lichtlosen Gängen.«
»Hi, Laurel.«
Laurel hob den Blick und entdeckte Yuki. Sie lächelte.
Sie lächelte ihr zu.
Hinter Yuki entdeckte Laurel Tamani. »Hi«, gab Laurel nervös zurück.
»Du«, sagte Yuki, »ich wollte mich noch mal dafür bedanken, dass ihr mich neulich mitgenommen habt.«
»Oh.« Laurel war so überrascht, dass ihr dazu nichts einfiel. »Schön. Wir haben uns eben gedacht, dass es blöd sein muss, wenn man neu irgendwo hinkommt.«
»Manchmal schon. Und …« Sie warf Tamani einen raschen Blick zu und er lächelte sie aufmunternd an. »Ich war wirklich nicht sehr nett, aber ihr schon.«
»Na ja«, sagte Laurel, die sich mittlerweile echt komisch vorkam. »So großartig war es nun auch nicht.«
»Also, eigentlich wollte ich fragen, ob ihr was dagegen hättet, wenn Tamani und ich mit euch essen? Ihr geht immer nach draußen, oder?«
»Da ist es schöner«, antwortete Laurel ausweichend. »Äh, natürlich könnt ihr gerne mitkommen. Wenn ihr möchtet.« Darauf haben wir hingearbeitet, ermahnte sie sich.
Während Tamani und Yuki ihre Lunchpakete holten, ging Laurel zu ihrem Schließfach. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Sie freute sich auf die Mittagspause. Normalerweise wurde es besser, wenn sie zwischendurch nach draußen konnte, und sei es auch nur für wenige Minuten.
»Kommst du klar?«, fragte David und schloss mit der Essensdose unter dem Arm sein Schließfach ab.
»Sie wird bemerken, was ich esse«, sagte Laurel. »Wieso hat Tamani das nicht verhindert?« Doch sie wusste genau, warum. Es war das Risiko wert. Wahrscheinlich.
David gab keine Antwort, sondern legte einfach den Arm um sie und ging mit ihr nach draußen.
Chelsea und Ryan saßen mit einigen anderen bereits vor der Schule und holten ihr Mittagessen heraus, als Laurel mit David zu ihnen stieß, nur knapp vor Tamani und Yuki. Sie fielen gar nicht auf, weil immer neue Schüler dazukamen und andere wieder gingen. Yuki setzte sich so, dass sie zwischen Laurel und Tamani landete.
Total unauffällig, was?, dachte Laurel. Drei Highschool-Schüler nebeneinander, die nur Obst und Gemüse aßen. Perfekt. Als ob das nicht jedem sofort auffiele. Laurel wollte ihren Salat schon gar nicht mehr essen, aber immerhin hatte sie sich an diesem Morgen viel Zeit für die Zubereitung genommen. Ihr Salat sah nach einer richtigen Mahlzeit aus, im Gegensatz zu dem Blattspinat mit Erdbeeren oder einem Stück Obst und einer kleinen Tüte Möhren, die sie sonst dabeihatte. Laurel machte eine Show daraus, eine Dose Sprite zu öffnen und einen großen Schluck zu trinken.
Yuki packte ihr Mittagessen aus, ohne sich irgendwie anzustellen. Laurel war völlig fasziniert, als sie sah, dass die kleine Tupperdose einen bleichen länglichen Haufen in der Größe eines Sandwichs enthielt, der mit dunkelgrünen Streifen verschnürt war.
»Was ist das?« Hoffentlich hörte sie sich freundlich genug an.
Yuki sah sie an. »Eine Kohlrolle«, lautete ihre schlichte Antwort.
Laurel wusste, dass sie Ruhe geben sollte, aber sie fand das, wovon Yuki immer mal wieder abbiss, völlig exotisch. Vor Neugier ließ sie alle Vorsicht fahren. »Was ist denn darum herum gewickelt?«
Yuki sah sie überrascht an. »Nori. Äh, also Algen. Kennst du bestimmt von Sushi.«
Laurel konzentrierte sich wieder auf ihr eigenes Essen, ehe sie zu viel Aufmerksamkeit auf sie beide lenkte. Sie fühlte sich plötzlich einsam, als sie Yuki zusah, wie sie ihre Kohlrolle aß und kalten Grüntee trank. Wie wäre es, wenn sie eine Elfenfreundin in der Menschenwelt hätte? Ein Mädchen, mit dem sie Geheimnisse über Tarnung und Obstrezepte tauschen konnte? Ihr wurde jetzt erst klar, wie gut Yuki und sie miteinander auskommen könnten. Wüsste sie doch nur, dass Yuki keine Bedrohung darstellte – für sie oder Avalon!
»Isst du nichts?«, fragte Yuki.
Laurel hob den Blick, aber Yuki redete gar nicht mit ihr, sondern mit Tamani, der lässig auf dem Rasen lag. Er zuckte mit den Schultern. »Alles bestens. Normalerweise gehe ich was essen, aber heute wollte ich dir lieber Gesellschaft leisten«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln und berührte ihr Knie.
Laurel wandte sich ab, ihre freundschaftlichen Gefühle für Yuki schmolzen dahin.
»Möchtest du etwas abhaben?«, fragte Yuki.
Laurel drehte sich nicht um, aber sie hörte zu und überlegte, wie Tamani sich da hinauswinden würde.
»Oh, nein danke. Es geht schon. Ich stehe nicht so auf Grünzeug.«
Laurel hätte sich beinahe an ihrer Sprite verschluckt. Tamani beobachtete sie mit lachenden Augen, aber Laurel legte David eine Hand aufs Knie und sah absichtlich an ihrem schelmischen Aufpasser vorbei.
Als Tamani am Abend der Tanzveranstaltung vor Laurel und ihren Freunden stand, kam er sich zu seinem Unbehagen wie ein Lehrer vor. Er hatte sie gebeten, früh zu Laurel zu kommen, während Ryan noch arbeitete, damit sie sich in aller Offenheit unterhalten konnten.
»Zunächst möchte ich euch vor dem Ork warnen, über den wir gestolpert sind …«
»Laurel hat gesagt, der Ork wäre tot«, wurde er von Chelsea unterbrochen, die ein wenig blass geworden war.
Tamani wurde aus Chelsea nicht so recht schlau, aber sie schien das Herz am rechten Fleck zu haben. »Als ich mit ihm fertig war, war er tot, das stimmt«, bestätigte Tamani.
Er hätte beinahe gelächelt, als Chelsea zufrieden nickte. Er hatte mit ihr nie mehr im Besonderen über die Ereignisse im letzten Herbst geredet, konnte sich aber denken, dass die Entführung durch Orks eine recht traumatische Einführung in das Übernatürliche darstellte.
»Aber es gab noch einen, und der ist entkommen. Und allein die Tatsache, dass sie uns über den Weg gelaufen sind, bedeutet, dass sie entweder leichtsinnig oder frech werden. Wir müssen heute Abend auf jeden Fall sehr vorsichtig sein. Vor allem, da Yuki und Ryan auch dabei sind.«
»Ist Klea inzwischen aufgetaucht?«, fragte Laurel.
Tamani schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein, aber Yuki hat behauptet, sie hätte sie vor ein paar Tagen getroffen. Das bedeutet entweder, dass Yuki ihren Bewachern entkommen wäre – was eher unwahrscheinlich ist – oder dass Klea an ihnen vorbei ins Haus geschlichen ist –, was noch unwahrscheinlicher erscheint. Ich denke, dass Yuki lügt, aber ich wüsste nicht, warum. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Entschuldige bitte, wenn ich das ausspreche, was offensichtlich ist«, sagte David in einem Tonfall, der Tamani gar nicht gefiel. »Aber können wir Klea nicht einfach anrufen? Laurel hat doch ihre Nummer. Mann, sogar ich habe ihre Nummer.«
»Und was willst du sagen?«, funkelte Tamani ihn an. »Dass wir sie zum Tee einladen?«
»Wir könnten uns etwas ausdenken, warum Yuki sie brauchen würde.«
»Und dann würde sie kommen, merken, dass Yuki ihre Hilfe nicht nötig hat, und fragen, warum wir gelogen haben. Und dann?« Er schwieg lange genug, um zu betonen, dass David darauf keine Antwort wusste, ehe er fortfuhr. »Auch wenn Klea mir Kopfschmerzen bereitet, stellt Yuki uns im Moment vor viel größere Rätsel. Erst müssen wir herausfinden, wie gefährlich sie ist, dann konzentrieren wir uns wieder voll auf Klea.«
»Ich arbeite daran«, sagte Laurel mit einem verzweifelten Unterton. »Ich habe ein Stückchen von meiner Blüte abgeschnitten und in Zuckerwasser unter die Leuchtkugel gestellt. Als ich den Leuchtstoff hinzugefügt habe, hat er einige Stunden gehalten. Deshalb glaube ich, dass es mit der Leuchtkugel funktioniert.«
»Und so sollte es doch sein, oder?«, fragte Tamani. Meistens fand er Laurels Mixerei undurchschaubar, aber er freute sich, wenn sie in ihrer Elfenrolle Erfolge feierte.
»Schon, aber ich weiß nicht, ob uns das etwas nützt. Ich habe es auf meiner Haut ausprobiert. Sie reagiert und leuchtet eine Zeit lang, aber auf Haar, einigen Tropfen Pflanzensaft oder etwas ganz anderem könnte auch die Wirkung unterschiedlich sein. Ich brauche dringend eine Probe von Yuki, damit ich das Gleiche wie mit meiner eigenen machen und endlich Äpfel mit Äpfeln vergleichen kann.«
»Ich werde mein Bestes tun, eine von ihr zu bekommen«, sagte Tamani nachdenklich.
»Logo!«, murmelte David.
Tamani sah ihn böse an.
»Jungs …«, sagte Laurel warnend.
»Tut mir leid«, sagte David leise.
Laurel sah Tamani auffordernd an, aber er schwieg. Er hatte sich nichts vorzuwerfen.
»Außerdem wollte ich mit euch noch über die Sicherheitsvorkehrungen sprechen«, sagte Tamani. »Wenn möglich, sollten wir die ganze Zeit zusammen bleiben. Die Orks haben Laurel schon früher über den Duft ihrer Blüte aufgespürt und wir werden nach Sonnenuntergang draußen sein. Höchste Vorsicht ist geboten. Die Hoffnung auf einen ereignislosen Abend müssen wir dennoch nicht aufgeben.«
»Na toll.« Chelsea verdrehte die Augen.
»Angenehm ereignislos«, sagte Tamani und lächelte. Das Menschenmädchen gefiel ihm immer besser. Er holte sein Handy heraus, um auf die Uhr zu sehen. »In einer Viertelstunde hole ich Yuki ab.«
»Und meine Mutter kann jeden Moment hier sein, um mit mir ein paar elfenfreundliche Vorspeisen zuzubereiten«, sagte Laurel.
»Dann wären wir alle so weit«, sagte David, legte den Arm über das Sofa und um Laurels Schultern.
»Wir könnten doch Was bin ich? spielen«, schlug Chelsea vor.
Alle sahen sie verblüfft an.
»Doch nicht mit euch«, sagte Chelsea. »Mit ihm.«
Tamani starrte sie schweigend an. »Das Spiel kenne ich leider nicht.«
»Ach, es ist ganz einfach«, erwiderte Chelsea. »Das spielst du mit Laurel schon die ganze Zeit, aber sie fragt dich nie irgendwelche witzigen Sachen. Doch, sie hat mir erzählt, ein paar Stücke von Shakespeare wären eigentlich Elfensagen. Ich warte schon eine reine Ewigkeit darauf, dir die wirklich interessanten Fragen zu stellen!«
»Äh, okay«, sagte Tamani, der nicht recht wusste, was er sich darunter vorstellen sollte.
»Gut, beschränkt sich das auf Shakespeare oder haben unsere beiden Kulturen noch mehr Geschichten gemeinsam?«
»Oh!« Tamani lachte und setzte sich auf einen Sessel neben Chelsea. »Doch, es gibt eine ganze Menge. Märchen und Sagen sind in Avalon sehr beliebt. Die Sommerelfen widmen dem Erzählen von Geschichten ihr ganzes Leben, ob sie nun tanzen, musizieren oder malen. Doch die Menschen sind so unglaublich erfinderisch und lassen sich immer neue Dinge einfallen, um eine Geschichte interessant, aber falsch zu interpretieren. Dennoch stammen viele Menschenmärchen ursprünglich aus dem Elfenreich.«
Chelsea ließ sich nicht beirren. »Aschenputtel.«
»Nein«, widersprach Tamani. »Elfen tragen sowieso nur selten Schuhe. Und jemanden gut zu finden, nur weil er die richtige Schuhgröße hat? Das ergibt doch weder für Elfen noch für Menschen einen Sinn.«
»Und was ist mit der guten Fee?«, fragte Chelsea unverzagt weiter.
»Völlig überflüssig. Unsere Kürbisse werden auch ohne Magie so groß. Und selbst eine Winterelfe könnte Mäuse nicht in Pferde verwandeln.«
»Die Schöne und das Biest.«
»Die Geschichte einer Elfe, die sich in einen Ork verliebt. Die Gruselgeschichte für die meisten Setzlinge. Allerdings wird aus dem Ork niemals ein schöner Prinz.«
»Rapunzel.«
»Ein total misslungener Dünger.«
Chelsea quiekte. »Däumelinchen.«
»Das ist eine falsche Deutung anatomischer Grundlagen. Wir werden wirklich aus Pflanzen geboren, aber so klein sind wir nie. Allerdings soll es schelmische Funkler gegeben haben, die zu Missgeburten winziger Elfen beigetragen haben.«
»Nenn mir eine Geschichte, bei der ich überrascht wäre.«
»Kennst du den Rattenfänger von Hamelin?«, fragte Tamani nach kurzem Nachdenken.
Chelsea verstand ihn nicht auf Anhieb. »Meinst du Hameln?«
»Stimmt, das hört sich richtiger an. Das ist nämlich kein Märchen, das ist wirklich passiert«, sagte Tamani todernst. »Und die Geschichte wurde auch kaum verstümmelt. Der Rattenfänger war ein äußerst mächtiger Frühlingself. Die meisten von uns können höchstens ein oder zwei Tiere auf einmal verzaubern, aber der Rattenfänger hatte eine ganze Stadt im Zaubergriff. Für dieses Kunststück wurde er am Ende hingerichtet.«
»Und was hat er mit den Kindern gemacht?«, fragte Chelsea.
»Das ist eine ziemlich lange Geschichte. Ganz am Schluss hat er sie über eine Klippe springen lassen. Bis sie alle tot waren.«
Chelsea und Laurel starrten Tamani erschrocken an. Keiner sagte etwas.
»Vielleicht nicht unser schönstes Märchen«, stöhnte Tamani schließlich.
»Und was ist mit den Camelotsagen?«, fragte Chelsea, die sich als Erste erholte, weiter. Ihre Augen glänzten so, dass Tamani glaubte, nach diesen Geschichten hätte sie schon die ganze Zeit fragen wollen.
»Was soll damit sein?«
»Laurel hat mir den Teil erzählt, den du ihr verraten hast, und dass König Artus wirklich gelebt hat. Aber was ist mit dem Rest? Mit Lancelot? Und Guinevere? Und der Tafelrunde?«
Tamani zögerte – diese Geschichte würde er lieber für sich behalten, zumal auch David zuhörte. Andererseits würde es noch sonderbarer erscheinen, wenn er sich verweigerte, so sehr wie Chelsea in Fahrt war. »Laurel hat dir von den Unseligen erzählt, nicht wahr?«
»Oh ja«, antwortete Chelsea andächtig.
»Du weißt also, dass der Selige Hof mit König Artus verbündet war?«
»Königin Titania hat das in die Wege geleitet.«
»Genau. Und nach menschlichem Brauch wurde das Bündnis mit einer Hochzeit besiegelt.«
»Wie, ein Mensch hat eine Elfe geheiratet?«
»Richtig!« Tamani musste schmunzeln. »Guinevere war auch eine Frühlingselfe.«
Chelsea machte große Augen. »Aber ich dachte, wenn ein Bund durch eine Ehe besiegelt wurde, dann damit ein Erbe später über beide Königreiche herrschen konnte …«
»Es ist nicht bekannt, ob man am Seligen Hof wusste, dass Guinevere keine Kinder von Artus bekommen konnte. Damals war man noch nicht so schlau wie heute – doch es ist möglich, dass die Elfen es wussten und … vergaßen, es Artus gegenüber zu erwähnen.«
Chelsea sperrte Mund und Augen auf.
»In Artus Gefolge gab es viele Elfen, unter anderem Nimue und ihren Sohn Lancelot. Lancelot war Artus’ Freund, aber er war auch Guineveres Fear-gleidhidh.«
»Ihr was?«
Tamani war auf einmal stolz, weil Laurel mit ihren Freunden nicht über diesen Ausdruck gesprochen hatte. »Das bedeutet Wächter, Beschützer.« Tatsächlich lag noch sehr viel mehr in diesem Wort, aber Tamani hatte das Gefühl, ohnehin schon zu viel zu verraten.
»Guinevere heiratete also Artus, und als ihr Elfenwächter seine Nase in alles steckte und sie entführte, war es mit Camelot aus und vorbei?« Alle schauten auf, als David das Wort ergriff.
»Du kannst es noch so sehr verdrehen«, sagte Tamani mit fester Stimme, »aber Lancelot war Artus’ geringste Sorge. Als herauskam, dass König Artus und Guinevere keine Kinder bekommen konnten, tippten viele Menschenritter auf Hexerei. Guinevere bat Lancelot um seinen Schutz und seine Liebe. Doch in Camelot war bereits der Teufel los. Machen wir es kurz: Guinevere stand schon fast auf dem Scheiterhaufen und Lancelot konnte sie gerade noch retten und nach Avalon zurückbringen.«
»Und wenn Lancelot nun nicht dagewesen wäre?«, fragte David. »Und wenn Guinevere eine echte Chance gehabt hätte, mit Artus glücklich zu werden? Für mich hört es sich immer noch so an, als wäre Lancelot an allem schuld.«
Tamani sah, dass Chelsea und Laurel einen Blick wechselten. Jedem im Raum war klar, dass es nicht mehr um Lancelot und Guinevere ging. Da er Laurel nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, tat Tamani so, als würde er auf sein Handy sehen, und stand auf. »Kann schon sein«, sagte er. »Aber Artus war ein großer König, erst recht für einen Menschen, und wenn ihr mich fragt, verlor er lieber im Kampf, als dass er sich einen leichten Sieg schenken ließe.« Nach einem langen Blick zu David lächelte er. »Bin gleich wieder da«, sagte er und ließ die Schlüssel um seinen Zeigefinger kreisen. Dann ging er und schloss die Tür, ohne sich noch einmal umzusehen.