Dreiunddreißig

Laurel kniete auf dem Boden und putzte den Boden ihres Schließfachs mit einem nassen Küchentuch. Das mussten alle Schüler machen, bevor sie in die Weihnachtsferien entlassen wurden. Eigentlich sollte sie dafür auch ein starkes Putzmittel benutzen, aber das Zeug war nicht gerade elfenfreundlich. Außerdem sahen die Lehrer nicht so genau hin. Man könnte glatt meinen, sie hätten es noch eiliger, in die Ferien zu verschwinden, als die Schüler.

»Hey, du lahme Ente, ich will los!«, scherzte Chelsea. »Du musst mit zu mir kommen, ich kann mich nicht entscheiden, was ich anziehen soll.«

Laurel lächelte entschuldigend. »Bin gleich fertig«, sagte sie und zeigte auf ihr Schließfach.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Chelsea und griff zu einer Küchenrolle, die ihnen von der Putzkolonne zur Verfügung gestellt worden war.

»Gerne. Du hilfst mir putzen, und ich sage dir, was du anziehen sollst. Ist doch gut, oder?«

»Unbedingt. Ziehst du das Kleid an?«

»Ich glaube schon«, antwortete Laurel. Chelsea meinte das Kleid, das Laurel aus Avalon mitgebracht und am Samhain-Fest getragen hatte. Seit sie Chelsea davon erzählt hatte, sollte sie das Kleid endlich zu irgendeinem Ball anziehen. »Ich habe nicht …«

Laurel hätte beinahe laut geschrien, weil ihr Kopf in einem buchstäblich blendenden Schmerz explodierte. Ein unheimlich pfeifender Wind pfiff ihr durchs Gehirn, gefolgt von Druck und Dunkelheit.

Dann war es wieder vorbei.

»Laurel, Laurel, was ist los?«

Als Laurel die Augen aufschlug, lag sie auf dem Boden. Anscheinend war sie rückwärts hingefallen. Chelsea kniete ängstlich neben ihr, doch Laurel setzte sich schnell wieder auf und schaute sich verlegen um. Hoffentlich hatte niemand gemerkt, dass sie einfach so umgefallen war.

Da traf sie Yukis Blick. Sie putzte ihr Schließfach auf der anderen Seite des Ganges und sah sofort wieder weg – dabei verdeckte sie mit ihrer zarten Hand ein Lächeln.

Für einen Moment überlegte Laurel, ob Yuki die Ursache ihrer Kopfschmerzen sein könnte. Sie war oft genug in der Nähe, wenn sie zuschlugen, andererseits hatte sie sich dermaßen in Laurels Leben gemischt, dass sie fast immer dabei war. Dazu kam, dass es nicht gerade als Elfenzauber bekannt war, jemandem Kopfschmerzen zu bereiten, und selbst wenn, gab es bessere Methoden, Laurel nicht merken zu lassen, was Yuki eventuell gerade vorhaben könnte. Doch auch das spielte keine Rolle mehr. Falls Yuki etwas plante, würde es in wenigen Tagen vorbei sein. Shar war gekommen und entwickelte mit Tamani in eben diesem Moment eine neue Strategie.

»Komm, bloß raus hier«, sagte Laurel peinlich berührt.

Chelsea legte schützend einen Arm um sie und brachte sie zu ihrem Auto.

Sie fuhren schweigend nach Hause. Erst fand Laurel das sonderbar, doch dann merkte sie, wie erholsam es war. Die ganze Woche über war sie beim kleinsten Geräusch zusammengezuckt, weil sie immer dachte, gleich würde etwas passieren. Yuki könnte herausgefunden haben, was sie über Klea wussten, oder Orks könnten durch die Wände in der Schule brechen, ach, sie wusste es auch nicht. Irgendetwas eben! Die Welt hatte sich verändert und keiner schien es zu merken. Yuki hing immer noch an Tamani, Ryan war immer noch ahnungslos und Laurel, David und Chelsea versuchten, normal zu reden und zu lachen. Und dann waren da noch die Abschlussprüfungen.

Im Moment wollte Laurel das alles beiseiteschieben. Sie war gern bei Chelsea. Egal, wie viele Abenteuer sie erlebte, in Chelseas Haus waren die einzigen Ungeheuer ihre Brüder, ihr Zimmer das einzige Durcheinander und die schwierigste Entscheidung, die Laurel hier abverlangt wurde, war jene zwischen einem schwarzen und einem roten Kleid.

»Ich würde das rote nehmen«, sagte Laurel, als Chelsea es zum dritten Mal anprobierte.

»Warum gehen wir eigentlich mit ihr zusammen auf den Ball?«, fragte Chelsea, während sie sich in dem mannshohen Spiegel in ihrer Schranktür betrachtete. »Wenn wir schon wissen, dass Yuki nur ein Ablenkungsmanöver ist, warum sollen wir sie dann noch im Auge behalten? Ich würde ihr so gern eins auswischen. Und wovon lenkt sie uns noch mal ab?«

»Von der Hütte«, antwortete Laurel, obwohl sie sich fragte, was sie Wertvolles bergen könnte, um sie davon fernzuhalten. »Soweit wir wissen, ist Yuki sich ihrer Rolle nicht einmal bewusst. Klea hat etwas von einem Puppenspieler, echt. Doch für alle Fälle sollen wir uns weiter so verhalten wie vorher, bis die Hütte gestürmt ist.«

»Und wann greifen sie an?«

Laurel zuckte die Achseln. Shar hatte es in der Schwebe gehalten, typisch. Es machte Tamani wahnsinnig, dass er es immer weiter hinausschob.

»Hmpf. Tamani ist der Chef, oder ist es Shar?« Sie blickte in den Spiegel, als Laurel wieder die Schultern hob, und fasste ihre Locken auf dem Scheitel zusammen. »Findest du nicht, dass es sich mit meinem Haar beißt?«

»Im Gegenteil, ich finde, es betont das Rotbraun ganz hervorragend«, sagte Laurel, die froh war, dass sie nicht mehr über Yuki reden musste. »Du siehst klasse aus. Ryan wird tot umfallen.« Sie grinste.

Chelsea hörte auf zu lächeln.

»Was?«, fragte Laurel. »Geht es immer noch um die Sache mit dem College? Wenn du nicht fragst, wirst du die Wahrheit erst in ein paar Monaten erfahren.«

Chelsea schüttelte den Kopf.

»Was denn dann?«, fragte Laurel.

Chelsea kam vom Spiegel zu Laurel und setzte sich neben sie aufs Bett.

»Sag’s mir«, meinte Laurel leise.

Chelsea kamen die Tränen.

»Was ist denn, Chelsea?« Laurel legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Seit Tagen zerbreche ich mir den Kopf, wie ich es dir sagen soll, sodass du es verstehst. Nicht, dass du nachher nicht mehr meine Freundin bist.«

»Oh, Chelsea«, sagte Laurel sofort. »Ich werde immer deine Freundin bleiben, du bist die beste Freundin auf der ganzen Welt. Nichts, was du mir sagen wolltest, könnte etwas daran ändern.«

»Ich mache nach dem Ball mit Ryan Schluss.«

Laurel wurde blass. Was hatte sie erwartet? Das jedenfalls nicht. »Warum? Ist was passiert?«

»Außer dass ich ständig zur Unzeit davonlaufe und mein halbes Leben vor ihm geheim halte?«

Laurel fand das nicht lustig. »Ich meine, hat er irgendwas gesagt? Oder du?«

Chelsea schüttelte den Kopf. »Nein, Ryan geht es gut. Uns geht es gut. Er hat sich nicht in Harvard beworben, na und? Kann doch gut sein, dass sie mich auch nicht nehmen. Nur weil er nicht nach Harvard will, heißt das noch lange nicht, dass er mich nicht mehr mag«, sagte sie mit Bitterkeit in der Stimme. »Es heißt nur, dass es ihm wichtiger ist, in Kalifornien zu bleiben.« Sie atmete tief durch. »Ich kann nicht im Ernst von ihm erwarten, dass er meinetwegen seine Träume aufgibt. Es hat eigentlich mehr mit dir zu tun.«

»Mit mir?«, fragte Laurel geschockt. »Was habe ich denn getan?«

»Du hast mit David Schluss gemacht«, antwortete Chelsea leise.

Laurel blickte auf ihren Schoß. Jetzt wusste sie, was kommen würde.

»Ich dachte, es wäre vorbei. Wirklich. Und ich war glücklich mit Ryan, sehr glücklich sogar. Aber dann hast du dich von David getrennt, und er war so traurig, und mir wurde klar, dass ich ihn damals, als ihr zusammengekommen seid, eigentlich nur loslassen konnte, weil er glücklich war. Und jetzt, da er das nicht mehr ist …« Sie machte eine Pause, um sich wieder in den Griff zu bekommen. »Wenn er nicht glücklich ist, bringe ich es auch nicht fertig, glücklich zu sein.«

Laurel schwieg. Sie war noch nicht einmal eifersüchtig, sie fühlte sich wie betäubt.

»Ich werde ihn nicht anbaggern«, erklärte Chelsea, als könnte sie Laurels Gedanken lesen. »Das wäre nicht fair und dir gegenüber nicht loyal. Aber«, und hier holte sie tief Luft, »falls er mich nach all diesen Jahren doch bemerken sollte, und ich das verpasse, weil ich mich dazu zwinge, mit Ryan zusammenzubleiben, dann …« Sie kämpfte mit den Tränen. »Dann würde ich mich dafür hassen. Deshalb will ich einfach nur da sein … für den Fall, dass er mich braucht. Und da du meine beste Freundin bist, dachte ich, es wäre nur fair, es dir zu sagen.«

Laurel nickte, doch sie konnte Chelsea nicht ansehen. Sie hatte recht, es war nur fair. Eigentlich würde es sogar alles vereinfachen. Wenn es zwischen David und Chelsea funkte, hätte jeder jemanden.

Warum musste sie dann innerlich so bitterlich weinen?

Sie saßen schweigend in Chelseas Zimmer, bis Laurel Chelsea die Arme um den Hals warf und sie fest drückte. »Zieh das rote Kleid an«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Das steht dir am besten.«