Siebzehn
Laurel wollte eine Pause einlegen und ging kurz von der Tanzfläche auf die etwas kühlere, dafür schwer parfümierte Toilette. Sie sah unter den Türen der Kabinen nach, aber es war niemand da. Sie genoss den kurzen Moment des Alleinseins und reckte und streckte sich. Dann richtete sie ihr T-Shirt über der Blüte – die ein wenig schmerzte, weil sie so viele Tage hintereinander festgebunden war – und lehnte seufzend den Kopf an den kühlen Spiegel.
Sie ging wirklich gerne tanzen, jedenfalls eine Stunde lang. Doch danach wurde ihr immer mehr bewusst, wie dunkel der Raum war. Es gab nicht einmal Fenster, durch die der einfallende Sonnenschein sie erfrischen könnte. Außerdem kam ihr die Musik heute Abend besonders laut vor und sie hatte wieder schreckliche Kopfschmerzen.
Das kommt davon, wenn ich so lange nach Sonnenuntergang noch auf bin.
Doch das Ganze sollte sowieso nur noch eine halbe Stunde dauern. Laurel beugte sich über das Waschbecken und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Als sie sich mit einem Papiertuch abtrocknete, betrachtete sie ihren hellen Teint prüfend im Spiegel und fand – auch wenn es vielleicht reines Wunschdenken war –, dass ihr Kopf nicht mehr ganz so wehtat. Zum Glück war es kein steifer Tanzabend, alle trugen T-Shirts. Zu mehr hätte sie sich heute Abend auch nicht aufraffen können.
Die drei Pärchen hatten den Abend in Laurels Küche eingeläutet, wo sie sich über die Vorspeisen hergemacht hatten, die Laurels Mutter selbst zubereitet hatte. Es war interessant, Yuki aus dem Augenwinkel zu beobachten. Sie hatte die Häppchen vorsichtig an die Nase geführt, um etwas über die Inhaltsstoffe herauszufinden, ehe sie einen Bissen probierte. Eigentlich war sie echt nett, ein wenig schüchtern zwar, doch Laurel spürte, dass die Oberfläche trog. Es war lustig mit ihr, jedenfalls so lange Laurel nicht darüber nachdachte, dass Yuki nur als Date von Tamani hier war.
Nach dem kleinen Essen quetschten sich alle in das Cabrio – das war Tamanis Idee, weil er sie alle im Auge haben wollte. Es gab zwar nicht genug Gurte, aber wer vorne in der Mitte saß – Yuki zwischen Tamani und Laurel – musste einfach eine Jacke auf den Schoß legen, dann sah man es nicht. Doch ein Menschenpolizist hätte Tamani sowieso kein Knöllchen geben können.
Laurel ließ gedankenlos Wasser über ihre Fingerspitzen laufen, als sie hörte, dass einer ihrer Lieblingssongs gespielt wurde. Mit neuem Schwung kehrte sie auf die Tanzfläche zurück und suchte David. Verspielt knurrend sprang sie ihn von hinten an. Er nahm ihre Arme, beugte sich vor und hob sie hoch, bis sie kreischte. Dann wirbelte er sie herum und zog sie an die Brust, seine Nase an ihrer. »Tanzen?«, flüsterte er.
Sie lächelte und nickte.
David nahm ihre Hand und zog sie mitten auf die Tanzfläche. Laurel schmiegte sich an seine Brust und er hielt sie eng an sich gedrückt, die Arme auf ihrem Rücken, eine Hand auf ihrer Blüte, die andere darunter.
Als der Song verklang, grinste David und Laurel drehte sich einmal um sich selbst. Sie lachte und freute sich an den Lichtern oben an der Decke, die sich mit ihr zu drehen schienen. Sie wirbelte weiter, bis Tamani in ihr Blickfeld geriet. Er und Yuki hatten fast den ganzen Abend nur vorsichtig getanzt – eigentlich typisch bei einer ersten Verabredung – und schon gar nicht eng. Doch jetzt hatte Yuki ihre Schläfe an seine Wange gelegt. Tamani hielt locker die Arme um ihren Rücken geschlungen und runzelte die Stirn. Er tat jedoch nichts, um sie wegzuschieben oder den Abstand zu vergrößern. Laurel musste zusehen, wie er seufzend den Kopf an Yukis schmiegte.
Das Elfenpaar drehte sich langsam zur Melodie, doch plötzlich sah Tamani Laurel direkt in die Augen. Sie erwartete, dass er einen Anflug von schlechtem Gewissen zeigen, Yuki zurückstoßen und ihre Umarmung beenden würde, aber er tat nichts dergleichen. Sein Blick war ruhig und gelassen, er gab seine Gefühle nicht preis. Dann schloss er mit voller Absicht die Augen und legte die Wange wieder an Yukis Stirn. Laurel erstarrte innerlich.
Doch plötzlich war David wieder da und wirbelte sie zu sich herum. Als sie zu ihm aufsah, lächelte er sie liebevoll an. Er hatte von diesem Augenblick – diesem fürchterlichen herzzerreißenden Augenblick – nichts mitbekommen. Sie rang sich zu den letzten Tönen ein Lächeln ab. David verflocht seine Finger mit ihren und sie gingen an den Rand der Tanzfläche. Laurel widerstand der Versuchung, sich umzusehen. Als sie stehenblieben und sie einen Blick wagen konnte, ohne dass David Verdacht schöpfte, suchte sie den Raum nach Tamani ab, bis sie ihn endlich an der entgegengesetzten Seite der Turnhalle entdeckte. Er lachte über etwas, das Yuki gesagt hatte.
»Hey, David«, sagte Laurel, die einen solchen Kloß im Hals hatte, dass sie kaum noch lächeln konnte. »In einer Viertelstunde ist hier sowieso Schluss, können wir nicht vielleicht jetzt schon fahren?«
Er sah besorgt auf sie hinab. »Geht es dir nicht gut?«
»Doch«, sagte Laurel immer noch lächelnd. »Ich habe nur Kopfschmerzen, schon den ganzen Abend.« Sie lachte trocken. »Ich bin allergisch gegen diese Schule, wetten? Die laute Musik macht es auch nicht besser.«
»Verstehe.« David zog sie wieder an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Nach dem letzten Tanz kann es sowieso nicht mehr besser werden. Ich hole Tam.« Er musste lachen. »Er und Yuki wollen bestimmt auch lieber gehen, ob sie es nun zugeben oder nicht.« Er wollte sich umdrehen, aber Laurel nahm seine Hand und hielt ihn zurück.
»Können wir nicht einfach laufen?«, fragte sie. »Es ist nur eine halbe Meile bis nach Hause. Früher sind wir immer gelaufen, bevor wir beide ein Auto bekommen haben.«
David lächelte nicht mehr. »Ist das dein Ernst? Ich dachte, wir sollten unbedingt zusammenbleiben.«
»Stimmt, aber …« Sie schaute schnell zu Tamani. Er hatte sie noch nicht gesehen, aber das war nur eine Frage der Zeit. »Seit vielen Monaten ist es nicht mehr richtig gefährlich gewesen. Und in unserer Stadt liegen jetzt, was weiß ich, eine Million Wachposten auf der Lauer.«
»Und mindestens ein Ork«, wandte David ein.
»Außerdem gehe ich bekanntlich nirgends hin«, sagte Laurel, ohne darauf einzugehen, »ohne meine geliebte Ausrüstung mitzunehmen.« Sie ging zur Garderobe und holte ihre Tasche. »Uns droht keine Gefahr. Bitte! Wir waren den ganzen Abend lang noch nicht richtig allein. Ich möchte nur ein wenig Ruhe haben.«
»Es ist kalt.«
Laurel grinste. »Ich halte dich warm.«
»Ausgerechnet du, du Kaltblütler«, sagte er lachend. Doch er nahm seine Jacke vom Haken und legte ihr eine Hand auf den Rücken, um sie zu der Flügeltür am Ausgang der Turnhalle zu führen.
Laurel war sehr erleichtert, als sie endlich in dem ruhigen, fast leeren Innenhof stand.
»Danke«, sagte Laurel und zeigte auf die Hintertür. »Komm, wir gehen da raus.«
Sie waren erst wenige Schritte gegangen, als hinter ihnen die Tür der Turnhalle aufflog und an die Wand schlug. Als Laurel und David sich umdrehten, stürmte Tamani heraus und ließ den Blick in jede Ecke wandern, ehe er Laurel endlich entdeckte.
»Da bist du ja«, sagte er, sobald er in Hörweite war. »Wo willst du hin?«
»Nach Hause«, antwortete Laurel mit gesenktem Blick. »Wir laufen. Es ist nicht weit, ihr könnt ja noch weitertanzen.«
»Kommt nicht infrage«, sagte Tamani genervt.
»Hey!«, sagte David. »Hab dich nicht so!«
Tamani seufzte und sprach leiser. »Warte bitte kurz, Laurel. Ich habe den Auftrag, dich zu beschützen, und das kann ich nicht, wenn du dich mitten in der Nacht allein davonstiehlst.«
»Sie ist nicht allein«, widersprach David.
»Aber so gut wie. Du kannst sie nicht beschützen.«
»Ich …«
»Versuch gar nicht erst, so zu tun, als hättest du heute Abend deine Pistole dabei«, unterbrach Tamani ihn. »Ich habe dich gründlich gemustert.«
David machte den Mund wieder zu. Wie oft hat David noch seine Pistole dabeigehabt? Das hätte sie doch merken müssen – so oft konnte das gar nicht sein. Oder?
Tamani ballte die Fäuste, aber dann ließ er wieder locker, hob den Kopf und sah sie erstaunlich ruhig an. »Ich will mich dir gar nicht in den Weg stellen, David. Doch wir müssen uns an den Plan halten, auch wenn alles sicher zu sein scheint. Bitte wartet hier, ich hole die anderen, dann fahre ich euch nach Hause. Dort könnt ihr dann allein sein … und machen, was ihr wollt. Aber lasst es zu, dass ich euch sicher nach Hause bringe, bitte.«
Laurel sah David an, aber sie wusste schon, dass er Tamanis Meinung war. Er hatte von Anfang an nicht mit ihr nach Hause gehen wollen.
»Ist gut«, sagte Laurel kleinlaut.
»Danke.« Tamani eilte in die Turnhalle zurück. Kaum war die Tür hinter ihm zugegangen, spürte Laurel Davids Hand auf ihrer Schulter.
»Tut mir leid, dass ich uns nicht schnell genug herausgebracht habe«, sagte er. »Aber so fühle ich mich doch besser«, fügte er nach einer Pause hinzu.
»Es passiert doch sowieso nichts!«, rief Laurel völlig fertig. »Es ist Ewigkeiten her, da wird auch heute Abend keiner angreifen!«
»Ich weiß«, sagte David und nahm ihre Hände. »Aber es schadet auch nichts, auf der sicheren Seite zu sein. Wenn wir zu Hause sind, können wir die anderen wegschicken und einen Film gucken und alles andere vergessen. Was hältst du davon? Noch zehn Minuten, dann haben wir unsere Ruhe.«
Laurel nickte, sie traute ihrer Stimme nicht. Das war genau das, was sie wollte, was sie dringend brauchte: einen Abend mit David.
Kurz darauf kam Tamani mit den anderen aus der Turnhalle.
Laurel lächelte entschuldigend und sah sie an. »Tut mir leid, dass ich so ein Spielverderber bin«, sagte sie mit letzter Kraft. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und die Musik gibt mir den Rest.«
»Kein Problem«, sagte Chelsea und hängte sich bei ihr ein. »Lange wird ohnehin nicht mehr getanzt.«
Nach kurzem Blickkontakt mit Chelsea stieg Laurel hinten ein und setzte sich zwischen die beiden Jungen, während Chelsea vorne bei Yuki und Tamani Platz nahm. Tamani warf ihr einen langen fragenden Blick zu, aber dann schaute er auf die Straße und ließ den Motor an.
Laurel sah zu, wie die dunklen Häuser an ihnen vorbeirauschten, und überlegte, wie absurd es war, dass Tamani glaubte, sie beschützen zu müssen. Es spielte keine Rolle mehr, was Jamison ihr früher einmal über Venusfliegenfallen erzählt hatte. Barnes war tot. Barnes war schlau gewesen; der würde tatsächlich auf der Lauer liegen und Pläne schmieden, bis Laurel unvorsichtig würde. Doch der Rest seiner Bande zog es vor, sich zu verstecken.
Als sie ein verlassenes Stück Straße zur Hälfte passiert hatten, sah Laurel einen großen Schatten, der sich vom Straßenrand vor Tamanis Wagen warf. Laurel konnte gar nicht so schnell schreien, wie Tamani bremste – doch es war zu spät. Das Auto krachte mit einem dumpfen Aufprall in das Etwas hinein, und Laurel wurde in ihren Gurt geschleudert, der in ihre Schulter einschnitt, ehe sie wieder nach hinten geworfen wurde.
David fluchte und riss an seinem Gurt. Vorne entdeckte Laurel die erschlafften Airbags vor Tamani und Chelsea.
Airbags.
Anschnallgurte.
Yuki.
Die Türen wurden geöffnet, und alle versuchten, sich zu befreien, doch Laurel sah nur Yuki, die über dem Armaturenbrett hing. Sie stöhnte und wollte sich aufrichten. Durchsichtiger Pflanzensaft tropfte von ihrer Stirn. Die Jungen hatten noch nichts gemerkt, sie waren alle um das Auto herum gelaufen, um nachzuschauen, womit sie zusammengestoßen waren. Laurel musste etwas tun; Ryan durfte das auf keinen Fall sehen!
»Chelsea, gib mir dein T-Shirt!«, zischte sie und kletterte von hinten nach vorne.
»Aber …«
»Sofort!«, brüllte Laurel und wünschte, sie könnte ihr erklären, dass sie ihr eigenes T-Shirt wegen der Blüte nicht nehmen konnte.
Nach kurzem Zögern zog Chelsea rasch das T-Shirt über den Kopf und enthüllte einen Halbschalen-BH aus schwarzer Spitze. Betreten nahm Laurel das T-Shirt, beugte sich vor und drückte es ans Yukis Kopf.
»Was?«, murmelte Yuki und blinzelte.
»Halt still«, sagte Laurel leise. »Wir hatten einen Unfall – du hast eine Kopfwunde und musst dich zusammenreißen, sonst finden sie es alle heraus.« Sie betonte die letzten Worte ganz besonders.
Yuki riss die Augen auf und nickte. Dann zuckte sie zusammen. »Aua«, sagte sie und biss die Zähne zusammen. Der Schmerz war nun stärker als ihre Desorientierung.
Laurel sah erschrocken hoch, als die anderen vor dem Auto anfingen zu schreien. Im Scheinwerferlicht des Cabrios tauchten drei Gestalten in blauen Overalls auf, die an ihren ungleichmäßigen knurrigen Gesichtern sofort zu erkennen waren.
Orks.
Auf einmal flog etwas durch die Luft und knallte auf die Motorhaube. Jemand schlug mit dem Kopf hart gegen die Windschutzscheibe und fügte dem brüchigen Netz noch einen sternförmigen Riss hinzu. »Ryan!«, schrie Chelsea, aber Ryans Kopf rollte schlaff hin und her. Seine Lider flatterten noch einmal, ehe sie sich schlossen.
»Her mit dem Mädchen!«, brummte ein Ork. »Dann müssen wir niemandem wehtun.«
Tamani sprang vor und trat mit einem lauten Knack! gegen den Kopf des Orks, der rückwärts taumelte, während Tamani zur Seite sprang, um dem unbeholfenen Schlag eines anderen Orks auszuweichen.
»Chelsea!«, sagte Laurel scharf. »Nimm dein T-Shirt und halt es Yuki an den Kopf.«
»Ich kann nicht«, sagte Chelsea, die an ihr vorbei wollte. »Ich muss – Ryan – ich muss zu ihm …«
Laurel packte Chelsea am Arm. »Chelsea, wenn du auf die Motorhaube steigst, wirst du noch mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Bleib hier und hilf mir, das ist die beste Art und Weise, auch ihm zu helfen.«
Chelsea hatte die Augen panisch weit aufgerissen, doch sie nickte. »Okay.«
»Dann übernimm meinen Posten hier.«
Chelsea legte ihre warmen Hände auf Laurels, um ihren Platz einzunehmen.
»Yuki!« Laurel hielt Yukis Gesicht in Händen und hoffte, dass sie ansprechbar war, doch ihr Blick ging noch immer ins Leere. »Hol dein Handy raus, ruf Klea an!« Da sie die Katastrophe nicht vor ihr verbergen konnten, sollte sie ruhig um Hilfe rufen.
Laurel sprang auf den Rücksitz und grifff nach ihrer Tasche, um eine Zuckerglaskugel in der Größe einer dicken Murmel herauszuholen. Dann ballte sie die Faust darum, stürmte aus dem Auto und lief nach vorne. Als sie um die Scheinwerfer bog, griff ihr jemand an den Bauch und riss sie zu Boden. Im Fallen warf sie Tamani die Kugel vor die Füße und hörte, wie sie zerbrach.
Dichter Qualm wallte vom Asphalt hoch und hüllte die Kämpfer in einen Nebel, in dem sich das Licht der Scheinwerfer brach. Kaum sah sie die Rauchwolken, drehte Laurel ihre Schulter und rammte dem Angreifer den Ellbogen ins Fleisch.
David stöhnte und fasste ihren Arm, um einen zweiten Schlag zu verhindern. »Ich bin’s!«, sagte er erstickt. »Ich konnte nicht zulassen, dass sie dich entdecken.«
»Tut mir leid!«, flüsterte Laurel und konzentrierte sich wieder auf den Qualm, der so dicht war, dass keine Bewegungen zu erkennen waren. Sie starrte in den Nebel – der Zaubertrank sollte endlich wirken!
Jemand taumelte aus der Rauchwolke, und Laurel schöpfte Hoffnung, doch es war nur Tamani. Er warf sich auf die Motorhaube, zog die Beine an und verpasste zwei Orks, die ihm gefolgt waren, Tritte. Als sie rückwärts umfielen, hatte er genug Zeit, zwei Messer zu ziehen und mit dem einen weit auszuholen. Das Blut spritzte nur so und der zweite Ork verschwand im Qualm. Tamani hielt Ausschau nach den anderen.
»Eigentlich dürften sie gar nicht mehr kämpfen können!« , rief Laurel von Panik erfüllt. Die Kugel enthielt ein Serum, das die Iris von Tieren angriff und sie zeitweise blendete. Auf Elfen hatte es dagegen keine Wirkung. »Sie müssten blind herumlaufen! David, ich muss etwas tun!« Sie wollte aufstehen, aber David hielt sie eisern fest.
»Was? Die bringen dich um!«, flüsterte David. »Glaub mir, das Beste, was du für ihn tun kannst, ist an Ort und Stelle zu bleiben.«
Er hatte recht, doch Laurel fühlte sich wie die letzte Verräterin, als sie wieder in die Hocke ging, sicher in Davids Arme geschmiegt, und Tamani zusah, der um sein Leben kämpfte. Um ihrer aller Leben. Sie beobachtete, wie er herumwirbelte, sich drehte, antäuschte; sie hörte das Sirren der Messer in der Luft, das Stöhnen der Orks, wenn Tamanis Klingen ins Ziel fanden. Er war schnell, aber das musste er auch sein – ein, zwei Schläge von einem Ork, und es wäre vorbei gewesen. Der Kampf konnte nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben, doch es kam Laurel ewig vor, bis ein Ork schrill aufheulte und zusammenbrach. Die beiden anderen liefen fort, in den Wald hinein.
Laurel spähte um einen Autoreifen herum und wartete auf eine neue Angriffswelle, aber es war totenstill.
Sie lugte über die Wagentür ins Auto, wo Chelsea immer noch ihr T-Shirt auf Yukis Kopf drückte. Sie sah unverwandt auf Ryan, der reglos auf der Motorhaube lag. Tamani stand gebückt mit den Händen auf den Knien und hielt sich mühsam aufrecht. Er rang nach Luft.
»Tam!«, rief Laurel hilflos. Ihre Stimme brach, als sie aufstand.
Tamani warf ihr einen flüchtigen Blick zu, doch dann rief er: »David!« und hievte den toten Ork hoch. »Hilf mir! Schnell!«
David rannte zu ihm, nahm den anderen Arm des Orks und zerrte ihn mit Tamani an den Straßenrand, wo sie ihn hinter einem Zaun versteckten.
»Um den kümmere ich mich später«, sagte Tamani und lief zum Auto zurück. »Jetzt den hier.«
Zum ersten Mal konnte Laurel einen Blick auf das Hindernis werfen, mit dem sie zusammengestoßen waren. Es handelte sich eindeutig um eine Leiche. Die leblosen Augen, die dicke Nase und das dünne Haar mit kahlen Stellen ließen sie erschauern. Das Wesen trug Lumpen und ähnelte mehr einem Tier als einem Menschen – wie Bess, der Ork, den Barnes wie einen Hund an der Kette gehalten hatte.
»Ein minderwertiger Ork«, sagte Tamani. »Ein Opfer. Sie haben in Kauf genommen, dass er sterben würde, und ihn einfach vors Auto geworfen. Hilf mir, David.« Er packte die Arme des zweiten Orks und David nahm die dicken kurzen Beine. Er wandte den Kopf ab, um nicht hinzusehen, vielleicht aber auch wegen des Gestanks.
Als sie zum Wagen zurückliefen, stöhnte Ryan auf und wollte sich umdrehen. »Er wacht auf«, sagte Laurel und klammerte sich an Davids Arm. »Er muss auf den Rücksitz, sonst merkt er noch was.«
David schlang die Arme um Ryan, zog ihn von der Motorhaube und schleppte ihn mit viel Mühe auf den Rücksitz des Cabrios.
»Was ist passiert?«, fragte Ryan und legte die Hand auf seinen schmerzenden Hinterkopf.
Es war körperlich zu spüren, wie alle die Luft anhielten. »Autounfall«, antwortete Laurel zaudernd. »Du hast dir den Kopf gestoßen.«
Ryan stöhnte wieder und sagte: »Dann habe ich morgen wohl eine Beule, was?« Er schloss die Augen, murmelte etwas und wurde anscheinend erneut bewusstlos.
Das brachte alle in die Gegenwart zurück. Tamani musterte Chelsea und Yuki prüfend von oben bis unten. »Geht’s?«, fragte er Yuki hastig.
»Einigermaßen«, antwortete Chelsea für sie. »Sie hat Klea angerufen. Aber sie ist ziemlich benebelt.«
Tamani seufzte. »David«, sagte er und drehte sich um.
David stand wie vom Blitz getroffen da und starrte die halbnackte Chelsea an. Es war ihm entsetzlich peinlich.
»David!«, sagte Tamani lauter und fasste seine Schulter. David zuckte zusammen und hob mit rotem Kopf den Blick.
»Ihr müsst hier weg, ehe jemand kommt«, sagte Tamani so leise, dass Yuki ihn nicht hören konnte.
»Wo gehst du hin?«, fragte Laurel.
»Ich muss die Spur suchen. Du musst nach Hause.«
»Aber das Auto …«
» … fährt noch«, sagte er und drückte ihr die Schlüssel in die Hand. »Los jetzt. Bring sie alle zu dir. Dort seid ihr sicher.« Er wollte sich schon umdrehen, aber Laurel hielt ihn am Arm fest.
»Tam, ich …«
Blitze explodierten in ihrem Kopf. Sie ging in die Knie und drückte die Hände an ihre Schläfen, als Schmerzen wie Messer durch ihr Bewusstsein fetzten. Sie wollte schreien, sie versuchte es. Schrie sie? Sie wusste es nicht. Sie hörte nur ohrenbetäubenden sinnlosen Lärm.
Und dann war es wieder vorbei, kaum dass es begonnen hatte.
Sie fiel auf die Straße, völlig überwältigt, weil der Schmerz so plötzlich nachgelassen hatte. Sie zitterte am ganzen Körper und brauchte mehrere Sekunden, um zu merken, dass alles um sie herum nass war, weil sie so heftig schwitzte – etwas, das sie nie zuvor erlebt hatte. Jemand rief ihren Namen, immer wieder. David? Tamani? Sie konnte es nicht sagen. Laurel wollte den Mund öffnen und antworten, aber sie konnte die Lippen nicht bewegen. Ihr wurde schwarz vor Augen und das war schön. Sie spürte gerade noch, wie jemand sie hochhob, dann flatterten ihre Lider und die Dunkelheit schloss sie in ihre Arme.