Fünf

Tamani zog geräuschlos die Tür hinter sich zu und lief schweigend auf den Waldrand zu. Er hatte nicht viel Zeit – eine der weniger vergnüglichen Aufgaben bestand darin, sicherzustellen, dass David lebendig nach Hause kam, sobald Laurel in ihrem Heim in Sicherheit war. Tamani legte selbst wenig Wert darauf, dass der Menschenjunge weiteratmete, doch da Laurels Glück gleich nach ihrer Sicherheit kam, stand David unter Bewachung.

Aaron streckte die Hand nach Tamanis Arm aus, sobald er den ersten Baum hinter sich gelassen hatte. »Was ist los?«, fragte er leise.

»Es gibt Ärger«, antwortete Tamani finster.

Ärger traf die Sache nicht richtig. Jetzt, da er vor Laurel nicht mehr zuversichtlich erscheinen musste, ließ Tamani sich fallen, raufte sich die Haare – er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass sie so kurz waren – und spürte das ganze Ausmaß seiner Angst. Nicht zum ersten Mal wünschte er, Jamison würde Laurel zurückbeordern. Doch Jamison war davon überzeugt, dass es noch nicht so weit war und dass Laurel freiwillig kommen müsste.

»Es ist noch eine Elfe aufgetaucht«, sagte er.

Aaron zog eine Augenbraue hoch. »Shar hat nichts gesagt …«

»Mit der Jägerin, also nicht aus Avalon.«

Aaron sah ihn noch erstaunter an. »Unselig?«

»Unwahrscheinlich. Sie muss irgendwie eine … Wildelfe  … sein.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Aaron und kam mit den Fäusten auf den Hüften einen Schritt näher.

»Ich weiß«, sagte Tamani und warf einen prüfenden Blick auf das Haus, in dem zwei Gestalten im schwindenden Abendlicht durch die Küche wandelten. Er konzentrierte sich wieder auf die Unterredung mit Aaron, obwohl ihm vor Furcht die Luft wegblieb, während er gleichzeitig überlegte, was schlimmstenfalls passieren könnte.

»Was bedeutet das für uns?«, fragte Aaron.

»Keine Ahnung«, erwiderte Tamani. »Zunächst müssen wir wieder Verstärkung anfordern.«

»Noch mehr Leute?« Aaron starrte ihn ungläubig an. »Wenn das so weitergeht, holen wir bis zum Winter halb Avalon rüber.«

»Es geht nicht anders. Wir brauchen mindestens ein Aufgebot für die Bewachung des neuen Mädchens, vielleicht sogar zwei. Jamison hat mir versprochen, dass wir bei Bedarf mehr Wachposten bekommen, und ich möchte niemanden von Laurels Haus abziehen.«

Als Tamani Motorengeräusche hörte, hob er den Blick. Davids Auto – es dröhnte auf eine eigene Art, die ihm in den letzten Wochen allzu vertraut geworden war. Er musste los. Im Aufstehen holte er das Handy aus der Tasche. Während er David unbemerkt nach Hause begleitete, wollte er Shar noch einmal anrufen. Er drehte sich um und legte Aaron die freie Hand auf die Schulter. »Diese Elfe könnte alles zerstören, wofür wir gearbeitet haben. Wir müssen sie ernst nehmen.«

Er wartete Aarons Antwort nicht ab und folgte Davids Rücklichtern.

 

Was auch immer Yuki vorhatte, offenbar war es dafür erforderlich, Laurel unbedingt aus dem Weg zu gehen.

Erst dachte Laurel, Yuki wäre eben schüchtern, als sie auf jeden Annäherungsversuch ihrerseits nur ausweichend murmelte und sich rasch zurückzog. Wenn Laurel sie im Gang aufmunternd anlächelte, tat Yuki so, als hätte sie nichts gesehen. Als sie am Donnerstag Yuki trotz aller Bemühungen den ganzen Schultag über nicht einmal irgendwo entdecken konnte, wurde Laurel klar, dass sie ihr aus dem Weg ging. Sie wollte nicht zu Jamison gehen, ehe sie nicht irgendwas über Yuki herausgefunden hatte, aber die trügerische Elfe ließ sich nicht blicken.

Als Laurel am Freitagmorgen zum Politik-Kurs kam, war Tamanis Platz leer. Sie fing gerade an, sich Sorgen zu machen, als er doch noch mit dem letzten Klingeln auf seinen Stuhl sank. Mrs Harms schrieb ihn nicht als verspätet auf, zog aber drohend eine Augenbraue hoch, als wollte sie sagen: beim nächsten Mal.

»Shar geht immer noch nicht an sein Handy«, flüsterte Tamani ihr ins Ohr, als Mrs Harms ihnen den Rücken zuwandte, um etwas an die Tafel zu schreiben.

Laurel warf ihm einen besorgten Blick zu. »Überhaupt nicht?«

»Nein.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Das muss nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben«, fügte er hinzu, als wollte er vor allem sich selbst überzeugen. »Shar hasst das iPhone. Er ist dagegen, dass wir menschliche Technologie benutzen, und behauptet, es wäre uns immer schlecht bekommen. Deshalb kann es sein, dass er so stur ist, es aus Prinzip nicht zu gebrauchen. Andererseits kann es … könnte es bedeuten, dass irgendwas passiert ist. Der Plan, heute zu fahren, gilt doch noch, oder?«

»Ja«, antwortete Laurel ernst. »Ich habe meinen Eltern schon Bescheid gesagt. Wir können gleich los.«

»Super.« Tamani klang nicht aufgeregt, sondern nervös.

»Wir werden doch zu Jamison gehen?«, fragte Laurel.

Als Tamani zögerte, sah sie ihn fragend an. »Ich weiß nicht«, gestand er. »Shar leidet unter Verfolgungswahn, wenn es um das Öffnen des Tores geht – erst recht ohne Vorwarnung.«

»Wir müssen zu Jamison«, sagte Laurel dringlich. »Darum geht es schließlich, oder?«

Tamani sah sie einen Augenblick lang so sonderbar an, dass sie fast glaubte, er wäre böse auf sie. »Für dich, würde ich sagen«, antwortete er unergründlich, schaute dann nach vorne und kritzelte wütend in sein Heft, während Laurel mitschrieb. Laurel wollte ihm in die Augen sehen, aber er mied konsequent ihren Blick. Was hatte sie bloß gesagt?

Kaum hatte es geklingelt, stand Tamani auf und verließ schnurstracks den Klassenraum. Als er in den Gang hinaustreten wollte, hörte Laurel auf einmal lautes Gepolter. Sie verdrehte sich den Hals und entdeckte David und Tamani Brust an Brust. Auf dem Boden lagen Bücher.

»Tschuldigung«, murmelte David. »Hab dich nicht gesehen.«

Tamani sah ihn wütend an, senkte den Blick und murmelte seinerseits, es täte ihm leid. Dann hob er die Bücher auf und ging weiter.

»Was war das denn?«, fragte Laurel, als sie neben David durch den Gang ging.

»Ein Versehen«, antwortete David. »Es klingelte und er kam rausgerannt. Ich konnte nicht mehr ausweichen.« Er zögerte, sagte dann aber noch: »Gut gelaunt sah er nicht gerade aus.«

»Er ist sauer auf mich«, sagte Laurel und beobachtete, wie Tamanis Rücken in der Menge verschwand. »Keine Ahnung, warum.«

»Was ist passiert?«

Laurel erklärte es ihm, als sie zu ihren Schließfächern gingen, die nebeneinander lagen. Im Abschlussjahrgang gab es die eine oder andere Vergünstigung.

»Glaubst du, es liegt daran, dass ich mir keine Sorgen um Shar mache?«, fragte sie.

David dachte nach. »Könnte schon sein«, stimmte er zu. »Du bist doch auch sauer auf ihn, wenn er sich weigert, sich Sorgen um mich oder Chelsea zu machen, oder?«

»Stimmt, aber das ist was anderes. Du oder Chelsea, ihr seid nicht Shar. Tamani macht sich keine Sorgen um euch, weil ihr ihm nicht wichtig seid«, erklärte Laurel und unterdrückte ihren ewigen Zorn auf Tamani, der die Menschen im Allgemeinen verachtete. »Ich habe keine Angst um Shar, weil er sich sehr gut um sich selbst kümmern kann. Das hat etwas mit … Respekt … zu tun.«

»Schon klar, aber wenn Tamani sich Sorgen macht«, sagte David leiser, »findest du dann nicht, dass du auch beunruhigt sein solltest?«

Das klang logisch und stimmte Laurel versöhnlicher – jedenfalls für den Moment. »Du hast recht«, sagte sie, »am besten entschuldige ich mich bei ihm.«

»Gut, dazu hast du heute Nachmittag ja genug Zeit«, sagte David verräterisch locker.

Laurel lachte und tat geschockt. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, David?«

»Nein! Na gut, ich wäre auch gern heute Nachmittag mit dir zusammen, also insofern wahrscheinlich doch.« Er zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich könnte mitkommen.« Nach einer kurzen Pause sah er sie mit gespielter Unschuld an. »Ich könnte im Wagen warten.«

»Das ist keine gute Idee, glaube ich«, erwiderte Laurel leise, als sie an das Gespräch dachte, das sie gerade mit Tamani geführt hatte. »Denn wir versuchen, ohne Vorankündigung nach Avalon zu kommen. Es würde ihnen wahrscheinlich den Rest geben, wenn du auch noch mitkämst.«

»Okay.« Nach einer weiteren Pause flüsterte er ihr leidenschaftlich zu: »Ich wünschte, ich könnte mit dir durch das Tor gehen.«

Es schnürte ihr die Kehle zu. Avalon war das Einzige, was sie niemals mit David teilen konnte. Und es ging nicht nur darum, dass die Elfen ihn nicht durch das Tor gehen ließen – Laurel sorgte sich auch darum, wie sie ihn behandeln würden, falls er es dürfte. »Ich weiß«, flüsterte sie und streichelte seine Wangen.

»Du wirst mir fehlen«, sagte er.

Sie lachte. »Ich bin doch noch gar nicht weg!«

»Ich weiß, aber du gehst in deinen Kurs. In der Zeit vermisse ich dich.«

Laurel gab ihm einen zärtlichen Klaps auf die Schulter. »Alter Schleimer.«

»Stimmt, aber du liebst mich.«

»Oh ja«, sagte Laurel und schmiegte sich in seine Arme.

Als die Schule an diesem Tag zu Ende war, ging Laurel direkt zum Parkplatz, weil sie wusste, dass Tamani sofort losfahren wollte. Zugegebenermaßen war sie auch ziemlich neugierig auf sein Auto. Eigentlich hätte sie sich denken können, dass er ein Cabrio fuhr. Tamani sagte nichts, öffnete ihr die Tür und schob das Verdeck auf.

In den ersten Minuten gab sich Laurel ganz der Faszination hin, Tamani Auto fahren zu sehen. Der Neuigkeitsfaktor, ihn in eindeutig menschlichen Situationen zu sehen, nutzte sich nur langsam ab.

Als Tamani auf den Highway einbog, brach Laurel endlich das Schweigen. »Es tut mir leid«, sagte sie.

»Was?« Tamani setzte eine täuschend arglose Miene auf.

»Dass ich dich nicht ernst genommen habe. In Bezug auf Shar.«

»Kein Problem«, erwiderte er zurückhaltend. »Das war eine Überreaktion von mir.«

»Nein«, widersprach Laurel. »Ich hätte richtig zuhören sollen.«

Tamani schwieg.

Jetzt wusste Laurel nicht mehr, was sie sagen sollte.

»Wenn ihm etwas passieren würde, wüsste ich nicht, was ich machen soll«, stieß Tamani schließlich hervor.

Laurel nickte nur, weil sie Angst hatte, er würde nicht weiterreden, wenn sie ihn unterbräche.

»Shar ist … wahrscheinlich würde ich sagen, so etwas wie ein Bruder, wenn ich wüsste, wie das wäre.« Er sah sie kurz an, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ich verdanke ihm alles, was ich jetzt bin. Ich war offiziell nicht einmal alt genug, als er es sich schon auf die Fahne schrieb, einen spitzenmäßigen Wachposten aus mir zu machen.« Jetzt lächelte Tamani wieder. »Ich habe es vor allem ihm zu verdanken, dass ich dich wiedergesehen habe.«

»Es geht ihm bestimmt gut«, sagte Laurel möglichst zuversichtlich. Sie wollte nicht herablassend klingen. »Ich schließe aus allem, was du mir erzählt hast, und daraus, wie ich ihn erlebt habe, dass er wirklich unglaublich ist. Ich bin sicher, er ist okay.«

»Hoffentlich«, sagte Tamani und fuhr noch ein wenig schneller.

Laurel blickte auf die Straße, aber aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass Tamani immer wieder zu ihr herübersah. »In der Schule redest du kaum mit mir«, sagte sie einige Minuten später, als Tamani auf der Überholspur dahinraste und an einem Konvoi von Wohnmobilen vorbeifuhr. Sie war beeindruckt. Das Auto war ein Schaltwagen und er kam mit der Kupplung entschieden besser zurecht als sie kurz nach ihrem Führerschein.

Tamani zuckte die Achseln. »Nun, eigentlich tun wir ja so, als würden wir uns nicht kennen.«

»Stimmt, aber in Politik redest du mit mir. Dann könntest du mir in den Gängen wenigstens zuwinken.«

Tamani sah sie kurz an. »Das scheint mir keine gute Idee zu sein.«

»Und warum nicht?«

»Wegen Yuki. Klea. Den Orks – kannst du dir aussuchen.« Er überlegte. »Es gefällt mir einfach nicht an einem Ort, wo zu viele Elfen aufeinanderhocken. Ich würde es gern tun«, dabei lächelte er, »aber ich glaube, es wäre nicht gut.«

»Wie recht du doch hast!«, antwortete Laurel gespielt munter. »Stattdessen halten wir unsere Freundschaft unter der Decke, und wenn uns dann zufällig jemand so wie jetzt in einem Auto sieht, denkt er, ich betrüge meinen Freund. Das ist ja so viel besser. Wieso bin ich darauf nicht eher gekommen?« Sie sah ihn von der Seite an. »Glaub mir, in Kleinstädten sind Skandale viel interessanter als Vegetariergruppen.«

»Was soll ich also tun?«, fragte Tamani.

»Wink mir in den Gängen zu«, sagte Laurel nach reiflicher Überlegung. »Hör auf, mich in Rhetorik nicht zu beachten. In ein paar Wochen ist das alles völlig normal. Sogar für Yuki oder Klea, falls es sie überhaupt interessiert.«

Tamani grinste. »Du hältst dich wohl für oberschlau.«

»Ich halte mich nicht dafür«, sagte Laurel lachend und neigte den Kopf, damit der Wind ihr langes goldenes Haar nach hinten wehen konnte. »Ich bin es.« Nach einer kurzen Pause wagte sie einen weiteren Vorschlag. »Du könntest dich auch mit David anfreunden.« Als Tamani nichts sagte, schaute sie ihn prüfend an. Er runzelte die Stirn. »Ihr habt mehr gemeinsam, als du denkst. Vergiss nicht, dass wir alle in einem Boot sitzen.«

Er schüttelte den Kopf. »Das würde nicht hinhauen.«

»Und warum nicht? Er ist nett. Es würde dir im Übrigen nicht schaden, einige menschliche Freunde zu haben.« Damit sprach sie das Thema an, in dem sie die Wurzel des Problems vermutete.

»Darum geht es nicht«, sagte Tamani mit einer vagen Geste.

»Worum denn dann?«, fragte Laurel entnervt.

»Ich habe keine Lust, einem Typen näherzukommen, dem ich unbedingt die Freundin ausspannen will.«

Den Rest der Fahrt verbrachte Laurel damit, schweigend aus dem Fenster zu sehen.