Fünfundzwanzig
Der Rhetorik-Kurs war die reinste Qual.
Laurel spürte die Anspannung und merkte, dass sie auch den anderen nicht entging. Ihre Mitschüler sahen immer wieder zu David und Tamani, die sorgsam jeglichen Blickkontakt vermieden. Sie hatte mitgehört, wie Tamani Yuki erzählt hatte, dass er mit David zusammen drei Tage lang vom Unterricht ausgeschlossen war, aber dennoch zur Schule kommen musste. Doch Laurel hatte noch keine Gelegenheit gehabt, auch nur mit einem der Jungen darüber zu reden. David musste in der Mittagspause mit seiner Mutter zum stellvertretenden Rektor und Tamani hatte mit Yuki zusammen gegessen. Chelsea fehlte, weil sie bei einem Cross-Country-Training war, sodass Laurel sich die ganze Mittagspause über verrückt gemacht hatte. Und zwar allein.
»Okay.« Eine Minute nach dem Klingeln begann Mr Petersen mit dem Unterricht. Es war die längste Minute in Laurels Leben. »Bisher durften Sie alle Ihre eigenen Reden vortragen. Doch manchmal spielen die Worte der jeweiligen Rede gar keine so große Rolle. Heute werden Sie alle einmal die Rede eines anderen halten.«
Er wartete auf eine Reaktion der Schüler. Niemand sagte etwas.
»Jeder von Ihnen bekommt eine persönliche Aufgabe. Sie haben sechzig Sekunden Zeit, um sie durchzulesen und dreißig Sekunden für die Präsentation.«
Jetzt wurde doch gemurmelt.
»Wenn sie als Redner überzeugen wollen«, übertönte Mr Petersen den Lärm, »müssen Sie heute Ihre Mitschüler dazu bringen, sich mit Ihnen treffen zu wollen. Selbstverständlich bei einem alkoholfreien Drink.« Er schmunzelte über seinen lahmen Witz. Nachdem wieder niemand etwas dazu sagte, räusperte er sich und fuhr fort. »Ich habe das Material unter hohem Zeitaufwand zusammengestellt, deshalb wird die heutige Rede zu zehn Prozent in die Monatsnote der Präsentation einfließen«, erklärte er. »Nehmen Sie die Aufgabe also nicht auf die leichte Schulter.« Als die Schüler stöhnten, hob Mr Petersen die Hände. »Die Aufgabenverteilung ist dem Zufall überlassen. Machen Sie mit, Sie werden sich wundern, wie viel Spaß es macht.«
Das glaubte ihm keiner.
Die nächste Viertelstunde verbrachte Laurel angesichts der Vorstellungen ihrer Klassenkameraden mit Fremdschämen und der Angst davor dranzukommen. Die meisten schauspielerten mit großen Hundeaugen und übertriebenen Posen, während sie Mr Petersens kitschige Kontaktanzeigen bearbeiteten. Laurel konnte es fast nicht glauben, dass Erwachsene wirklich solche Dinge über sich selbst sagten wie Ich bin ein süßer Romeo ohne Julia oder Ich bin sinnlich, sexy und superlustig. Das konnten sie doch nicht ernst meinen?
»Tam Collins.«
Einige Mädchen in Laurels Nähe flüsterten aufgeregt. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Laurel wollte unters Pult kriechen und sterben.
Tam nahm den Zettel, den Mr Petersen ihm reichte, stellte sich vor die Klasse und las ihn genau sechzig Sekunden lang durch.
»Und … los«, sagte Mr Petersen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Tamani hob den Blick, aber anstatt zu reden, nahm er sich ein paar Sekunden Zeit, einigen Mädchen tief in die Augen zu sehen.
»Einsamer schottischer Single«, sagte er mit tiefer Stimme und starkem Akzent, »sucht schöne Frau.«
Alle menschlichen Mädchen in der Klasse seufzten auf. Laurel war gespannt, wie viele Freiheiten Tamani sich bei dieser Aufgabe erlauben würde.
»Ich suche nach der Einen, ohne die mein Leben nicht vollständig ist. Ich sehne mich nach einer Frau, mit der ich den Alltag teilen und der ich mein Herz schenken kann. Dabei geht es mir nicht so sehr ums Vergnügen als um eine feste Bindung und … Intimität.« Wenn jemand anders das gesagt hätte, gäbe es jetzt Pfiffe und Buhrufe. Doch aus Tamanis Mund klang der Satz wirklich einladend und sexy.
»Ich bin Mitte Zwanzig, mag laute Musik, gutes Essen und …« Hier legte er eine dramatische Pause ein. » … und Bewegung. Ich suche ein kreatives, künstlerisch angehauchtes und musikalisches Mädchen« – er sah Laurel an, nur ganz kurz – »mit der gleichen Vorliebe für schöne Dinge, wie ich sie habe. Suchst du nach etwas Realem in dieser Welt der Illusionen? Ruf mich an. Für Affären bin ich nicht zu haben. Ich suche nach der wahren Liebe.«
Ohne ein weiteres Wort zerknüllte Tamani den Zettel, steckte ihn in die Tasche und setzte sich wieder.
Die Mädchen applaudierten wie wild, einige pfiffen begeistert.
Laurel wand sich innerlich und legte den Kopf auf den Tisch. Da musste sie jetzt durch, es half alles nichts.
Nach der Schule konnte Laurel gar nicht schnell genug wegkommen. Sie wusste, wie schwach ihre eigene Rede gewesen war, aber was konnte sie an so einem Tag schon erwarten?
Es war ihr gelungen, den ganzen Tag nicht mit David zu reden, aber sie konnte es nicht bis zum Sanktnimmerleinstag aufschieben. Doch was sollte sie sagen? Dass sie ihn noch liebte und nur nicht wusste, ob sie ihn genug und auf die richtige Weise liebte? Oder dass sie nicht sicher war, ob sie den Rest ihres Lebens auf die Chance verzichten sollte, mit Tamani zusammen zu sein – so richtig richtig reinen Gewissens, um zu testen, ob es so gut war wie in ihren Träumen? Dass sie voreilig gehandelt hatte, dass es ein Fehler war und sie ihn wiederhaben wollte? Oder dass sie Zeit brauchte – vielleicht ohne den einen und ohne den anderen –, damit sie herausfand, was sie wirklich wollte?
Auf dem Grundstück hatte es sich nicht wie ein Fehler angefühlt. Doch nachdem sie an diesem Morgen Davids Gesicht gesehen hatte, sehnte sie sich nach ihm. Sie wollte alles wieder gut machen. Und warum? Weil sie ihn wie einen Freund lieb hatte oder etwa, weil sie ihn zurückgewinnen wollte?
Würde er sie überhaupt noch wollen?
Darüber wollte sie nicht nachdenken, also parkte sie den Wagen und ging in das leere Haus, wo sie, wie ihre Mutter ihr am Morgen noch mal aufs Butterbrot geschmiert hatte, bleiben musste. Kein Problem – sie hatte genug Hausaufgaben auf. Außerdem könnte sie weiter an der Frage arbeiten, was für eine Elfe Yuki war. Es war kaum zu fassen, dass erst zwei Wochen seit dem Angriff der Orks vergangen waren. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. So war es immer mit der Zeit – sie raste, wenn Laurel es lieber gemütlich angehen ließe, und andererseits schlich sie manchmal unerträglich langsam dahin.
Doch statt direkt in ihr Zimmer zu gehen, sah Laurel träge den Stapel Post auf dem Küchentresen durch. Sie war immer noch enttäuscht, weil sie durch die Leuchtmitteltests nichts Brauchbares herausgefunden hatte. Tamanis Pflanzensaft hatte knapp vierzig Minuten geleuchtet – ein wenig länger als Laurels. Sie hatte gehofft, einen wesentlichen Unterschied zwischen den Elfenarten zu finden, doch mit Pflanzensaft war das offenbar nicht möglich – zumindest nicht ohne weitere Proben von anderen Elfen. Sie wünschte, sie könnte aufgrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung davon ausgehen, dass Yuki eine Frühlingselfe war, aber auf bloße Vermutungen zu bauen, konnte sie sich nicht leisten.
Unter einer Werbepostkarte von Publishers Clearinghouse entdeckte Laurel einen großen Umschlag, der an sie adressiert war. Ihre Prüfungsergebnisse! Die hatte sie ganz und gar vergessen, weil die Prüfung schon so lange zurücklag. Damals war sie noch mit David zusammengewesen und hatte jeden Tag mit ihm gelernt, um sich zu verbessern. Sie hatten vorgehabt, online nachzusehen, wie sie abgeschnitten hatten, um die Ergebnisse früher zu erfahren, doch Laurel war anscheinend nicht die Einzige, die es vergessen hatte. Sie schlitzte den Brief mit dem Brieföffner auf und hielt ihn einen Augenblick lang mit beiden Händen fest, ehe sie die Papiere entnahm.
Als sie dann das Ergebnis entdeckte, quietschte Laurel vor Freude.
Sie hatte sich um Lichtjahre verbessert! Wahnsinn! Laurel lief zum Telefon und wählte Davids Nummer, doch dann merkte sie gerade noch, was sie da tat. Das hatte sie nicht gewollt. Egal was passierte, sie wollte unbedingt, dass sie Freunde blieben. Erst in diesem Moment ahnte sie, dass es vielleicht nicht dazu kommen würde.
Nein.
Wenn sie es nicht wenigstens versuchte, würde sie es nie erfahren. Also rief sie ihn an.
»Hallo?«
»David?«
»Hallo?«
Das war Davids Anrufbeantworter. Er fand es witzig, so zu tun, als wäre er wirklich am Telefon. Laurel dagegen ärgerte sich jedes Mal, aber sie hatte schon seit Monaten nicht mehr draufgesprochen.
»Weißt du was? Hinterlass mir einfach eine Nachricht.«
Laurel legte auf. Er würde sehen, dass sie angerufen hatte. Falls er heute ebenfalls seine Ergebnisse bekommen hatte, konnte er sich denken, warum sie mit ihm sprechen wollte.
Laurel schwang sich auf einen Barhocker und ließ die Hand, in der sie die Ergebnisse hielt, enttäuscht hängen. Die Trennung von David löste ganz offensichtlich nicht automatisch all ihre Probleme. Im Gegenteil, sie war ein Problem in sich. Und je länger sie damit wartete, es zu lösen, umso wahrscheinlicher würde David sich nach einer anderen umschauen und seine eigene Entscheidung treffen.
Die Vorstellung, er hätte eine andere, machte sie völlig fertig.
Laurel nahm die Papiere und ihren Rucksack und ging nach oben. Sie musste Abstand zu Tamani gewinnen und sich überlegen, was sie eigentlich wollte. Sie hatte sich schon einmal für David entschieden, zu hundert Prozent, und lange Zeit war es ganz wunderbar gewesen. Sie wollte dieses Gefühl zurückhaben, aber erst musste sie wissen, mit wem. Es konnte sein, dass es mit dem Küssen für eine Weile vorbei war. Sie wollte mit niemandem mehr knutschen. Sie brauchte einen klaren Kopf.
Laurel erschrak, als jemand leise an ihre Tür klopfte. »Darf ich reinkommen?«
Tamani.
Laurel versteckte die Prüfungsergebnisse unter ihrem Rucksack und ließ ihn herein.
»Entschuldige, dass ich nicht an der Haustür gewartet habe«, sagte er. »Aber da du Hausarrest hast, ist es sicher besser, wenn mich niemand sieht.«
»Du hast endlich begriffen, was für neugierige Nachbarn wir haben.« Laurel lachte gezwungen.
Tamani blickte auf seine Schuhe, aber dann hob er lächelnd den Kopf und machte mit ausgebreiteten Armen einen Schritt auf sie zu.
Alle Beschlüsse und Versprechungen lösten sich in Wohlgefallen auf, als sie sich an ihn schmiegte. Sie klammerte sich an ihn, und als er sich ganz behutsam von ihr lösen wollte, hielt sie ihn nur noch umso fester. Noch eine Sekunde, dann wollte sie ihn loslassen.
Noch eine.
Oder zwei.
Endlich zwang sie sich, die Arme hängen zu lassen und ihn nicht mehr anzusehen. Wenn sie das tat, würde sie ihn auch küssen, und wenn es erst so weit war, konnte sie einpacken. Dann würde sie für den Rest des Nachmittags nichts anderes mehr wollen außer ihn.
»Und?«, fragte Laurel, die sich sicherheitshalber auf ihrem Schreibtischstuhl niederließ, wo er nicht neben ihr sitzen konnte, »wie war das Gespräch mit Mr Roster?«
»Lächerlich. Überflüssig.« Tamani verdrehte die Augen. Er setzte sich auf ihr Bett und stützte sich auf den Ellbogen. Sie musste sich an den Armlehnen festklammern, um nicht zu ihm zu gehen – so sehr sehnte sie sich nach ihm. Sie wollte sich an seine Brust kuscheln und den Kopf unter sein Kinn stecken, damit sie die Vibrationen seiner Kehle spürte, wenn er sprach …
Konzentration!
»Welche Strafe haben sie dir aufgebrummt?«, fragte Laurel, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie sich den diesbezüglichen Tratsch in der Schule angehört und bereits eine recht genaue Vorstellung davon hatte.
»Drei Tage Suspendierung in der Schule. David« – er sprach seinen Namen wie ein schmutziges Wort aus – »soll mir Nachhilfe geben, damit meine Noten besser werden.«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Laurel, lauter als beabsichtigt. Keine ihrer Quellen hatte verraten, dass die beiden zusammen lernen sollten. Das war schlecht.
Tamani machte ein höhnisches Geräusch.
»Tja.« Laurel schwieg kurz. »Er ist wirklich sehr gut in Nachhilfe.« Sie wusste, dass Tamani es nicht leiden konnte, wenn sie David lobte, aber so war es nun mal. Nach den vielen Jahren, in denen ihre Mutter sie zu Hause unterrichtet hatte, hätte sie ohne Davids Hilfe erhebliche Probleme in der Schule bekommen.
»Das bezweifle ich ja gar nicht. Aber diese ganze Notenvergabe ist eine Beleidigung. Ich habe noch nie ein so willkürliches, ungerechtes System erlebt. Die Art und Weise, wie Menschen ihre Unterschiede messen, ist …«
»Schlimmer als in Avalon?«
Tamani verzog den Mund. »Egal, jedenfalls bin ich froh, dass ich nicht wirklich Schüler an eurer Schule bin. Sonst wäre ich zu drastischen Maßnahmen gezwungen. Keine Ahnung, was ich drei Tage lang mit David anfangen soll.«
»Du könntest zur Abwechslung nett zu ihm sein.«
»Es ist jemand dabei, Laurel.«
»Ich meine es ernst. Schluss mit dem Angeben, Ärgern und all dem. Sei nett.«
»Ich werde ihn nicht ärgern, versprochen.«
Laurel nickte erfreut, aber sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Schließlich wechselte sie das Thema. »Und Shar ist jetzt hier in der Gegend?«
Tamani schüttelte den Kopf. »Nur für ein paar Tage. Er wird auf dem Grundstück gebraucht.«
»Wie ist er denn hierhergekommen? Hat er auch ein Auto?« Bei der Vorstellung, dass überall Elfen in Autos herumfuhren, musste Laurel lachen.
Tamani dagegen verzog beleidigt das Gesicht. »Tamani de Rhoslyn, Wächter, Fear-gleidhidh und Chauffeur, zu Diensten.«
»Wann denn bitte? Ich dachte, du hättest mich rund um die Uhr im Blick.«
»Nicht, wenn ich weiß, dass du zu Hause bist. Und wenn du im Bett liegst. Mein Handy nicht zu vergessen«, fügte er grinsend hinzu. »Aaron kann mich jederzeit anrufen, falls etwas schiefläuft.« Als er sich vorbeugte, freute Laurel sich über sein teilweise aufgeknöpftes Hemd. »Und dann eile ich dir zu Hilfe!«
Laurel ignorierte die Schwindel erregende Wärme, die sich in ihren Gliedern auszubreiten drohte. »Das ist gut«, sagte sie. Als ihr dann die Idee kam, dass ihr vielleicht – vielleicht – weniger eng um die Brust wäre, wenn die Schärpe ihre Rippen nicht so zusammendrücken würde, löste sie den Knoten und ließ ihre schlaffen Blütenblätter frei. Viel war ohnehin nicht mehr übrig. Sie fielen schon den ganzen Tag über aus. Am nächsten Tag konnte sie mit dem Versteckspiel aufhören, das konnte sie kaum erwarten.
Laurel erstarrte kurz, als ihr klar wurde, dass sie ihre Blüte heute vielleicht zum letzten Mal hatte verbergen müssen. In Avalon wäre das nicht nötig. Wenn sie dagegen aufs College ging, müsste sie die Blätter noch mindestens vier Jahre lang mit der Schärpe verbinden. Die Prüfungsergebnisse lagen immer noch unter ihrem Rucksack. Sie waren gut genug für ein erstklassiges College. Damit konnte sie es sogar in Berkeley versuchen. Im letzten Frühjahr hatten die schlechten Ergebnisse ihr die Entscheidung so gut wie abgenommen – zumal sie danach einen fantastischen Sommer an der Akademie verbracht hatte. Und jetzt? Wenn sie wollte, standen ihr völlig neue Möglichkeiten offen.
Die Wahlmöglichkeit zu haben fühlte sich im Moment mehr wie eine Qual als wie ein Segen an.