Vier

Laurel knallte die Tür zu und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie die Zeit noch mal zurückdrehen und das Klingeln ignorieren könnte, so wie David es vorgeschlagen hatte. Nicht, dass Klea sich hätte abhalten lassen, wenn sie die Tür nicht aufgemacht hätte, aber …

»Und?«

Laurel drehte sich blitzschnell um, so überrascht war sie, Tamanis Stimme zu hören. Er stand neben David im Flur. Beide hatten die Arme vor der Brust verschränkt.

»Wann bist du denn gekommen?«, fragte sie verwirrt.

»Ungefähr eine halbe Sekunde, bevor du die Tür geöffnet hast«, antwortete David für ihn.

»Was wollte sie?«, fragte Tamani. Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht so richtig hören, was sie gesagt hat. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gedacht, dass sie den Ort für euer Gespräch genau deswegen ausgewählt hat – als wüsste sie, dass ich da bin.«

Laurel schüttelte den Kopf. »Wir waren auf der Veranda, Tamani. Das ist ein ganz normaler Platz, um sich zu unterhalten.«

Tamani sah nicht überzeugt aus, doch er zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen. »Also, was ist los? Warum war Yuki dabei?«

»Wer ist Yuki?«, fragte David.

»Das Mädchen aus Japan«, antwortete Tamani schroff. »Die Austauschschülerin.«

Laurel starrte ihn an und fragte sich, ob er es vielleicht schon wusste. Doch dann fiel ihr ein, dass sie alle zusammen die Schule besichtigt hatten. Mr Robison hatte sie natürlich einander vorgestellt. Außerdem hätte Tamani es ihr doch gesagt, wenn er Bescheid gewusst hätte – oder?

»Sie ist eine Elfe«, sagte Laurel leise.

Das erstaunte Schweigen dröhnte ihr in den Ohren.

Tamani öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann lachte er verbissen. »Die Augen. Wie konnte ich das nur übersehen?« Er verzog grimmig entschlossen das Gesicht. »Das heißt, Klea weiß etwas über Elfen – also müssen wir davon ausgehen, dass sie deine wahre Natur herausgefunden hat.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas über Elfen weiß, und wenn ja, wie viel«, sagte Laurel bedächtig. »Sie hält Yuki für eine Nymphe.« Laurel setzte sich aufs Sofa, wo ihr David augenblicklich Gesellschaft leistete, und erzählte den Rest der Begegnung, während Tamani durchs Zimmer tigerte. »Ich mag sie nicht und ich traue ihr nicht, aber ich glaube nicht, dass Klea wirklich weiß, was Yuki ist.«

Tamani blieb stehen, die Fingerknöchel an den Mund gedrückt.

»Klea hat uns das Leben gerettet, sogar zwei Mal«, sagte David. »Aber es kann doch kein Zufall sein, dass sie noch eine Elfe an die Del-Norte schickt.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Laurel und versuchte, ihre Gefühle zu sortieren. Einerseits war sie begeistert. Noch eine Elfe, die wie ein Mensch lebte! Und nicht nur sozusagen verkleidet wie Tamani, sondern ebenfalls von Kindheit an von Adoptiveltern großgezogen. Laurel hätte Yuki deswegen am liebsten umarmt, ins Haus gezerrt und ausgefragt, weil sie alles über ihr Leben, ihren Alltag und ihre Methoden, mit all dem klarzukommen, wissen wollte. Wovon ernährte sie sich? Hatte sie schon geblüht? Doch wenn sie Yuki etwas von sich enthüllte, konnte sie es gleich Klea erzählen, und das kam für Laurel nicht infrage.

»Was wissen wir über Yuki?«, fragte David. Er sah Tamani an, der schon wieder die Arme verschränkte und den Kopf schüttelte.

»Fast nichts. Aber sie steht in irgendeiner Beziehung zu Klea, deshalb können wir ihr nicht trauen«, antwortete Tamani finster.

»Und wenn Klea die Wahrheit sagt?« So groß Laurels Skepsis in Bezug auf Klea auch war, so sehr hoffte sie, dass Yuki schlimmstenfalls eine harmlose Schachfigur war. Warum, wusste sie nicht genau. Vielleicht war es ein natürliches Bedürfnis, ihre Art zu verteidigen. Außerdem war Yuki so schüchtern und verängstigt. »Also, wenn sie hier spionieren soll, warum sagt sie uns dann überhaupt etwas?«

»Es gibt verschiedene Arten der Spionage«, sagte Tamani nachdenklich. »Yuki könnte ein Ablenkungsmanöver sein oder sich auf diese Weise tarnen. Die Tatsache, dass Yuki eine Elfe ist, hat nichts zu sagen, solange wir nicht wissen, was für eine.«

»Seid ihr nicht zum größten Teil Frühlingselfen?«, fragte David.

»Schon«, erwiderte Tamani. »Und ein starker Locker ist inmitten von Menschen so viel wert wie eine ganze Armee.«

David wurde blass, doch Laurel schüttelte den Kopf. »Klea hat gesagt, Yuki hätte keine besonderen Fähigkeiten.«

»Das kann genauso gut gelogen sein. Oder Yuki zeigt Klea einfach nicht, wozu sie in der Lage ist.« Er hielt inne und grinste. »Genaugenommen könnte Yuki auch Klea anlügen. Das wäre doch mal was.«

»Gut, was ist das Schlimmste, was uns passieren kann?«, fragte David. »Dass sie Chelsea oder mich dazu verlockt, eure Geheimnisse auszuplaudern?«

»Oder sie ist Funklerin und in diesem Augenblick mit im Raum, um uns zu belauschen«, sagte Tamani.

»Dazu sind Sommerelfen in der Lage?«, fragte Laurel.

»Einige«, antwortete Tamani. »Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sie sich das allein, ohne Anleitung beigebracht hat. Doch bis heute hätte ich auch geschworen, dass ich den Aufenthaltsort aller Elfen außerhalb von Avalon herbeten könnte. Insofern halte ich im Augenblick alles für möglich. Yuki könnte sogar eine Winterelfe sein.« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Bei der Vorstellung bekam Laurel Magenkrämpfe. »Oder eine Herbstelfe.« Er zögerte wieder und redete dann plötzlich ganz schnell, als würde er befürchten, jemand würde ihn nicht ausreden lassen. »Sie könnte sogar die Mixerin gewesen sein, die deinen Vater vergiftet hat.«

Das war ein Schlag für Laurel. »Was?«

»Ich … ich …«, stammelte Tamani. »Die Sache ist die: Sie könnte völlig harmlos sein, aber sie könnte eben auch sehr, sehr gefährlich sein. Deshalb müssen wir sofort etwas unternehmen.« Er ging der Frage aus dem Weg.

Doch Laurel ließ nicht so schnell locker. »Meinst du, als er vor zwei Jahren so krank war? Damals hast du behauptet, die Orks wären es gewesen.«

Tamani seufzte. »Sie könnten es getan haben. Doch über die Jahrhunderte, in denen wir mit Orks zu tun hatten, ist es nie vorgekommen, dass sie solch ein Gift benutzt haben. Sie sind grausam und manipulieren gern alles … aber sie sind keine Mixer. Als dein Vater damals krank wurde, dachten wir …«

»Ihr dachtet, es wäre das Werk einer Herbstelfe gewesen?« , fragte Laurel ausdruckslos. Auf einmal schien das schrecklich schlüssig.

»Ja. Nein. Wir dachten, vielleicht …«

»Und das habt ihr mir verschwiegen?« Laurel wurde wütend. Was hatte Tamani noch alles für sich behalten? Er sollte ihr das Reich der Elfen näherbringen, statt sie im Dunkeln zu lassen! »Seitdem war ich zwei Mal in der Akademie! Dort, wo praktisch alle Herbstelfen leben! Du hättest mir etwas sagen müssen!«

»Ich habe es versucht«, protestierte Tamani. »Aber Shar hat mich davon abgehalten. Mit Recht. Wir haben Nachforschungen betrieben. Außer dir ist seit Jahrzehnten kein Mixer ohne ständige Überwachung durch eins der Tore gegangen. Wir lassen die Elfen nicht einfach so aus Avalon heraus.«

»Mich schon«, beharrte Laurel.

Tamani lächelte zart, beinahe traurig. »Du bist etwas ganz Besonderes.« Er räusperte sich und fuhr fort. »Wir wollten unbedingt verhindern, dass du in die Akademie kommst und alle Mixer dort des Mordversuchs an deinem Vater verdächtigst. Zumal es wahrscheinlich keiner von ihnen war.«

Laurel dachte darüber nach. Sie kannte mehrere Herbstelfen, die sich auf Tiergifte spezialisiert hatten. Dazu gehörte auch Mara, die seit Langem einen Groll gegen Laurel hegte. »Und jetzt glaubst du, Yuki hatte etwas damit zu tun?«, fragte sie. Sie konnte nicht weiter ihren Verdächtigungen nachhängen, sondern musste sich auf die unmittelbar bestehende Gefahr konzentrieren.

»Es wäre möglich, wenngleich nicht sonderlich wahrscheinlich. Sie ist so jung. Dazu kommt, dass Barnes sich unserer Zaubertränke erstaunlich gut erwehrt hat. Vielleicht war er auch in anderer Hinsicht ein besonders begabter Ork. Ich weiß nur eins: Yuki sollte nicht hier sein. Eine Wildelfe können wir nicht gebrauchen.«

»Moment mal«, sagte David, beugte sich vor und legte Laurel eine Hand aufs Knie. »Falls Yuki deinen Vater vergiftet hat, dann im Auftrag von Barnes – doch wenn sie für Barnes gearbeitet hätte, was hat sie dann jetzt mit Klea zu schaffen? Klea hat Barnes getötet.«

»Vielleicht hat Barnes sie gefangen gehalten und Klea hat sie befreit«, schlug Laurel vor.

»Warum sollte sie dir das verschweigen?«, fragte David. »Was soll dann die Lüge, dass Yuki Waise ist?«

»Da sind wir wieder an dem Punkt, dass Klea lügen könnte. Wir drehen uns im Kreis«, sagte Tamani erschöpft.

Daraufhin schwiegen sie lange, bis Laurel den Kopf schüttelte. »Das passt alles nicht zusammen. Wir wissen gar nichts außer dem, was Klea uns erzählt hat.« Sie zögerte. »Was mich wirklich interessieren würde, wäre Yukis Version der Geschichte.«

»Kommt nicht infrage«, widersprach Tamani auf der Stelle.

Laurel warf ihm einen bösen Blick zu, weil er so gar nicht darauf einging. »Und warum nicht?«

Als Tamani ihren Ärger bemerkte, schaltete er einen Gang zurück. »Ich glaube, es ist zu gefährlich«, sagte er leise.

»Kannst du sie nicht dazu verlocken?«, fragte David.

»Das klappt unter Elfen nicht so gut«, sagte Laurel. Doch bei ihr hatte es auch funktioniert, bevor sie wusste, was sie war – vielleicht war das doch eine gute Idee von David.

Tamani schüttelte den Kopf. »Es könnte schlimm enden. Wenn sie überhaupt nicht darauf ansprechen sollte, dann weil sie über Verlockung Bescheid weiß, und dann wüsste sie, dass ich ein Elf bin. Das kann ich nicht riskieren, ehe wir mehr wissen.«

»Aber wie sollen wir es anstellen, mehr zu erfahren?«, fragte Laurel ratlos. Die Ausweglosigkeit ihrer Situation machte sie rasend. »Wir wissen nicht, wer die Wahrheit sagt und wer lügt. Vielleicht sagt ja niemand die Wahrheit!«

»Ich denke, wir sollten Jamison aufsuchen«, sagte Tamani nach einer Pause.

Laurel nickte eifrig. »Gute Idee.«

Tamani holte etwas aus der Tasche und tippte darauf herum.

»Hilfe, ist das etwa ein iPhone?«, fragte Laurel, lauter und schriller, als sie beabsichtigt hatte.

Tamani blickte mit ausdrucksloser Miene zu ihr hoch. »Ja, und?«

»Er hat ein iPhone«, sagte Laurel zu David. »Mein Elfenbewacher, der normalerweise ohne fließendes Wasser lebt, hat ein iPhone. Das. Ist. Fantastisch. Jeder auf dieser Welt hat ein Handy, nur ich nicht. Unglaublich.« Ihre Eltern bestanden immer noch darauf, dass Handys etwas für Erwachsene und Collegestudenten waren. So was von altmodisch.

»Als Kommunikationsmittel ist es unverzichtbar«, verteidigte sich Tamani. »Ich muss leider zugeben, dass die Menschen den Elfen hinsichtlich der Verständigung weit überlegen sind. Hiermit kann ich Botschaften sofort überliefern. Ein paar Tasten und schon kann ich mit Shar reden! Erstaunlich.«

Laurel verdrehte die Augen. »Mir ist klar, was die Dinger können.« Ein schmerzlicher Ausdruck verzerrte ihr Gesicht. »Und Shar hat auch eins?«

»Allerdings funktioniert es bei uns nicht ganz so gut wie bei den Menschen«, sagte Tamani nachdenklich, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Unsere Körper transportieren elektrischen Strom nicht auf dieselbe Weise, deshalb muss ich das Display oft mehrmals antippen, bevor es reagiert. Trotzdem kann ich mich wirklich nicht beklagen.«

David sah Laurel verständnisvoll an. »Du kannst jederzeit meins benutzen.«

Tamani murmelte wütend ein unverständliches Wort. »Er geht nicht ran.« Er steckte das Handy in die Tasche und stand grübelnd da, die Hände auf den Hüften.

Laurel starrte ihn an, seine angespannten Schultern, die selbstbewusste Haltung. Er war erst seit zwei Wochen zurück und schon hatte sich Laurels Leben in das reinste Chaos verwandelt.

In ein sexy, sexy Chaos.

Zum Glück trug er diesmal ein Hemd. Sie räusperte sich, schaute weg und konzentrierte sich auf die Unterhaltung.

»Wir müssen zum Grundstück fahren«, sagte Tamani und zog einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Komm.«

»Was, wie? Moment!«, sagte Laurel. David stand mit ihr auf. »Wir können heute Abend nicht zum Grundstück fahren.«

»Und warum nicht? Wir müssen Jamison die Neuigkeit erzählen. Ich fahre.«

Das hörte sich aus Tamanis Mund nun grundverkehrt an. »Weil es schon sechs Uhr ist. Gleich kommen meine Eltern nach Hause und ich muss noch Hausaufgaben machen.«

Tamani sah sie verwirrt an. »Ja, und?«

Laurel schüttelte den Kopf. »Tamani, ich kann nicht. Ich habe hier noch einiges zu erledigen. Fahr du doch, dafür brauchst du mich nicht. Außerdem«, sagte sie mit Blick zum Himmel, der sich bereits rot verfärbte, »wird es bald dunkel. Die ganze Sache macht mich total nervös, und ich möchte, dass wir heute alle vor Sonnenuntergang zu Hause sind. Schließlich hast du mir selbst gesagt, dass Orks in der Gegend sind.«

»Darum muss ich bei dir bleiben«, beharrte Tamani. »Das ist meine Aufgabe.«

»Gut, die Highschool ist meine Aufgabe«, sagte Laurel. »Ganz zu schweigen davon, dass ich für die Sicherheit meiner Familie und meiner Freunde zuständig bin. Aber wozu hast du dein Handy? Ruf Shar später noch mal an, er soll ein Treffen mit Jamison am Wochenende vereinbaren. Dann kann er herauskommen und mit uns reden. Freitag müssen wir nur bis mittags in die Schule, danach könnten wir hinfahren. Oder am Samstag, wenn noch genug Zeit bleibt, um im Hellen nach Hause zu fahren.«

Auch wenn es Tamani nicht gefiel, konnte sie sehen, dass er ihr zähneknirschend recht gab. Jetzt, kurz vor der Dämmerung ins Auto zu springen und die einstündige Fahrt zum Grundstück zu erzwingen, war wirklich keine gute Idee. »Einverstanden«, sagte er. »Aber dann fahren wir Freitag, nicht erst Samstag.«

»Nach der Schule«, sagte Laurel.

»Direkt nach der Schule.«

»Kein Problem.«

Tamani nickte grimmig. »Dann wäre es besser, wenn David jetzt nach Hause führe. Gleich geht die Sonne unter.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zur Hintertür. Laurel lauschte, ob sie zuschlug, hörte aber nichts. Doch als sie in die Küche lugte, war er nicht mehr zu sehen.

David schmiegte das Gesicht an ihren Hals und blies ihr seinen heißen Atem auf die Haut. Sie wollte ihn an sich ziehen, ihn festhalten, doch das musste warten. Obwohl Tamani ihr versichert hatte, alles im Griff zu haben, war es Laurel wichtig, dass David zu Hause war, bevor die Sonne ganz unterging.

»Du musst wirklich gehen«, flüsterte sie. »Ich möchte nicht, dass du nach Einbruch der Dunkelheit draußen bist.«

»Mach dir um mich nicht so viele Sorgen«, sagte David.

Laurel löste sich aus der Umarmung und blickte zu ihm hoch. »Doch«, sagte sie sanft. »Was soll denn ohne dich aus mir werden?« Diese Frage klang nicht mehr rein hypothetisch, aber eine Antwort wollte sie darauf nicht haben.