Zweiundzwanzig

Laurel fing Chelsea vor ihrem Klassenraum ab. »Du und Ryan, wollt ihr vielleicht mit uns draußen essen?«

»Klar, warum nicht?«, fragte Chelsea.

»Ich dachte nur, weil ihr manchmal für euch sein wollt«, erwiderte Laurel. Allerdings kam das in letzter Zeit seltener vor, zumal Chelsea sich standhaft weigerte, Ryan wegen Harvard zu fragen. Anscheinend blieb es doch nicht ohne Folgen, wenn sie über ein so wichtiges Thema nicht redeten. »Ich wollte mich nur vergewissern.« In Wirklichkeit wollte sie nicht mit David allein sein. Noch nicht. Sie war immer noch sauer, weil er morgens Tamani »aus Versehen« angerempelt hatte, und hatte keine Lust, sich mit den Ausrastern der beiden Typen zu beschäftigen.

Laurel hörte den Aufruhr, ehe sie etwas sah. Gerade als sie mit Chelsea um die Ecke bog, schlug David Tamani ins Gesicht. Im nächsten Augenblick packte Tamani David am Hemd und rammte ihm die Faust in den Bauch. Er krümmte sich und rang nach Luft, während Tamani bereits zum nächsten Schlag ausholte.

»Tamani!« Laurel lief auf die beiden zu und drängte sich durch die Zuschauer.

Als Laurel aus der Menge platzte, ließ Tamani David los, gab ihm jedoch noch einen letzten Schubs.

»Was zum Teufel soll das werden?« Laurel sah von einem zum anderen.

»Er hat angefangen!«, rief David, der schon wieder auf Tamani losgehen wollte.

»Er hat mich geschlagen«, sagte Tamani. Er trug Laurel seine Beschwerde in aller Ruhe vor, die Hände lässig in die Hüften gestützt. »Was sollte ich machen? Nichts?«

»Du hast mich provoziert, das weißt du ganz genau!« David stürzte sich auf ihn, doch Ryan packte ihn von hinten und hielt ihn zurück. David schüttelte Ryans Arm ab, aber er machte keinen weiteren Versuch, Tamani anzugreifen.

»Ich bitte dich«, sagte Tamani zu David. »Du hattest mich doch vom ersten Tag an auf dem Kieker. Gib es wenigstens zu.«

»Mit dem größten Vergnügen«, knurrte David.

»Schluss jetzt!«, schrie Laurel. »Ich fasse es nicht … was ihr … ach, vergesst es!«, sagte sie böse und hob die Hände, um allen Protest abzuwehren. »Ich soll mich entscheiden? Prima, dann mache ich das mal. Ich entscheide mich dafür, mit euch beiden nichts mehr zu tun zu haben! Wenn ihr euch so benehmt, könnt ihr mir gestohlen bleiben! Mir reicht’s.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und drängte sich durch die Zuschauer zum Ausgang.

»Laurel!« Als sie hörte, wie verzweifelt David klang, drehte sie sich ein letztes Mal um.

»Nein«, sagte sie gelassen. »Ich fechte das nicht noch mal aus. Das war’s mit uns.« Dann lief sie weg. Sie hörte Schritte hinter sich, aber sie blieb nicht stehen, sie konnte und wollte es nicht.

»Mr Lawson! Was geht hier vor?« Diese Stimme würde sie überall wiedererkennen, das war Mr Roster, der stellvertretende Rektor. »Mr Collins! Kommen Sie sofort zurück, Tam Collins!«

Laurel lief weiter, niemand befahl ihr stehen zu bleiben. Sie raste durch die Eingangstür, froh, dass sie am Morgen mit dem eigenen Auto zur Schule gefahren war, statt sich von David oder Tamani mitnehmen zu lassen. Wütend steckte sie den Schlüssel ins Schloss und schoss zum ersten Mal mit Karacho aus einer Parklücke. Auf dem Parkplatz liefen noch nicht so viele Schüler herum, sodass Laurel nicht einmal bremsen musste, ehe sie an dem ersten Stoppschild anhalten musste.

Ihre Hände steuerten von selbst auf die 101, und erst, als sie die Strecke zur Hälfte hinter sich hatte, merkte Laurel, dass sie zu ihrem alten Haus fuhr. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass sie seit ihrem Umzug vor allem nach Orick gefahren war, um Tamani zu besuchen. Jetzt lief sie vor ihm davon.

Und vor David auch.

Darüber wollte sie nicht nachdenken.

Es nieselte, aber Laurel ließ die Fenster offen. Die Windschutzscheibe war verregnet und ihr Haar feucht, doch sie strich es sich nur aus dem Gesicht. Erst als sie in die nicht asphaltierte Einfahrt einbog, fing es richtig an zu regnen und die Tropfen prasselten ohrenbetäubend durch das Kronendach. Jetzt kurbelte Laurel die Fenster hoch, riss die Tür auf und brachte sich lieber in dem Häuschen in Schutz, als in den Wald zu laufen.

Außerdem hätte ihr eine Predigt von Shar gerade noch gefehlt. Es war nicht ausgeschlossen, dass er ihr ins Haus folgte, aber im Wald würde sie nicht um ihn herumkommen.

In Gedanken versunken machte Laurel sich an dem Knoten der Schärpe zu schaffen, die ihre Blüte hielt. Ihre welkenden Blütenblätter sprangen nicht mehr frisch hervor, sondern hingen schlaff herunter. Während sie noch mit hochgezogenem T-Shirt auf das Häuschen zuging, legten sich die Blätter zur Blüte. Dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss, der hakte, weil sie ihn so lange nicht benutzt hatte. Als sie die Hand auf die Klinke legte, hörte sie, wie ein anderes Auto auf der langen Einfahrt vorfuhr. Sie suchte bereits nach einer passenden Waffe, als ihr einfiel, dass die Wachposten für einen etwaigen Feind zuständig waren.

Doch als Tamanis Cabrio um die Ecke bog, bekam sie es mit einer ganz anderen Angst zu tun.

Das Verdeck war unten und er war klitschnass. »Laurel!«, rief er und sprang aus dem Wagen, bevor er zum Stehen kam.

»Nein!«, schrie Laurel durch den Regen, der auf das Blechdach der schmalen Veranda trommelte. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, ohne die Klinke loszulassen. »Ich bin hier, weil ich von dir weg wollte!«

Tamani blieb kurz an dem niedrigen Holzzaun stehen, doch dann ging er entschlossen weiter.

»Ich will dich nicht hier haben«, sagte Laurel, als er näher kam.

»Ich bin aber schon da«, erwiderte er leise. Er stand dicht vor ihr, ohne sie zu berühren. Er versuchte es nicht einmal. »Also stellt sich die Frage, ob du möchtest, dass ich wieder gehe.«

»Ja, das will ich.« Tamani konnte Laurel im lauten Regen kaum verstehen.

»Und warum?«

»Du … wegen dir ist alles so verworren«, sagte sie. Wütend wischte sie die Tränen ab, die sie nun doch nicht mehr zurückhalten konnte.

»Das Gleiche könnte ich von dir sagen«, meinte Tamani und sah sie bohrend an.

»Und warum bist du dann hier?«

Er hob die Hände und machte Anstalten, ihre Arme zu fassen, aber ehe er sie berührte, ließ er sie wieder fallen. Dann sagte er, als wäre das die einzige Erklärung, die sie benötigte: »Weil ich dich liebe.«

»Komische Art, das zu zeigen.«

Tamani seufzte schwer. »Gut, das war nicht gerade eine meiner Sternstunden. Ich war sauer, tut mir leid.«

»Und was ist mit Yuki?«

»Mit Yuki? Ich …« Tamani zog die Stirn kraus. Als ihm etwas dämmerte, machte er große Augen. »Oh, Laurel, du glaubst doch nicht etwa …«

»Sie hat dich sehr gern.«

»Und ich würde jede Minute, die ich mit ihr verbracht habe, sofort gegen eine Sekunde mit dir tauschen. Immer wenn ich mit Yuki zusammen bin, muss ich ihr etwas vorspielen. Das reine Theater. Ich muss herausfinden, was sie ist und was sie vorhat, damit du weiterhin in Sicherheit bist!«

Laurel musste schlucken. Das hörte sich nach der Wahrheit an. Einen Augenblick sinnierte sie, ob das als Erklärung nicht tatsächlich ausreichte. Doch sie riss sich zusammen, er hatte ihre Frage nur zum Teil beantwortet, und da er nicht Gedanken lesen konnte, musste sie ihn wohl oder übel fragen, wenn es ihr so wichtig war.

»Was würde dich mehr verletzen: Wenn ich mit David zusammen wäre, weil ich ihn liebe oder weil ich dich eifersüchtig machen will?«

»Verletzen?«, fragte Tamani sofort, ehe er begriff, worauf sie hinauswollte. Dann hielt er inne und sah sie an. Sie standen immer noch auf der Veranda im Regen, der zu einem leisen feuchten Zischen auf dem Blech- und Kronendach verebbt war. Doch obwohl es meilenweit das einzige andere Geräusch war, hörte Laurel es nicht, so laut und abgerissen atmete sie selbst.

Leise, fast unhörbar, flüsterte Tamani: »Ich würde nie etwas tun, nur um dich zu verletzen.«

»Ach nein?«, fragte Laurel, und dann schrie sie die Frage hinaus, die sich seit so vielen Tagen in sie hineingefressen hatte. »Und was ist mit dem Tanz? Als ich dich angesehen habe, hast du weggeguckt und sie fester an dich gezogen. Warum hast du das getan? Wozu, wenn nicht, um mich zu verletzen?«

Er wandte den Kopf ab, als hätte sie ihn geschlagen, doch er zeigte kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil, er machte einen gequälten Eindruck. »Ich habe die Augen geschlossen«, sagte er so leise und erstickt, dass sie ihn kaum verstehen konnte.

»Was?«, fragte sie, weil sie gar nichts mehr begriff.

Tamani hob die Hand als Zeichen dafür, dass er noch nicht fertig war. Laurel begriff, dass er die Worte kaum herausbrachte. »Ich habe die Augen geschlossen«, fuhr er nach einigen hastigen Atemzügen fort, »weil ich mir vorgestellt habe, sie wäre du.« Dabei sah er sie an, offen und ehrlich, seine Stimme ein Lied des Leidens.

Ohne nachzudenken, zog Laurel ihn an sich und spürte in seinem Kuss eine Leidenschaft, einen Hunger, gegen die sie nicht ankam. Er stützte sich mit beiden Händen am Türrahmen ab, als hätte er Angst, sie zu berühren. Sie schmeckte die Süße seines Mundes, spürte die Wärme seines Körpers. Da ihre Hand noch immer auf der Klinke lag, öffnete sie die Tür. Unter ihrem gemeinsamen Gewicht flog sie auf und Laurel taumelte rückwärts – die Hand in seinem Haar zog sie ihn mit ins Häuschen.