Vierunddreißig

Laurel stand vor dem Spiegel. Die Ironie, das Kleid, mit dem sie Tamani zum Samhain-Fest im letzten Jahr überrascht hatte, anlässlich eines Menschenballs mit David zu tragen, war ihr wohl bewusst. Doch es war ihr Lieblingskleid, und sie hatte seither keine Gelegenheit gehabt, es anzuziehen. Warum sollte sie sich dann ein anderes kaufen?

In zehn, falsch, in sieben Minuten würden alle unten sein, schick angezogen, und so tun, als würden sie einander mögen. Diesmal würden sie mit mehreren Autos zum Ball fahren. Tamani hatte darauf bestanden – für alle Fälle.

Auf den kalten regnerischen Herbst folgte ein weniger verregneter, doch deutlich kälterer Winter, und Laurel konnte nur hoffen, dass sie in ihrem leichten Kleidchen nicht allzu sehr auffallen würde. Ohne die Sonne, die ihr neue Kraft verlieh, konnte sie nicht auch noch eine Jacke anziehen. Das war zu beengend, zu ermüdend.

Was würde Tamani anziehen? Er war noch nie bei einem Menschenball gewesen, und sie überlegte, ob sie ihn hätte besuchen sollen, um nachzusehen, ob er etwas Passendes im Schrank hatte. Die schwarze Aufmachung inklusive Mantel, die er als ihr Begleiter in Avalon getragen hatte, war zwar atemberaubend, aber für eine Tanzveranstaltung an der Highschool weniger geeignet.

Nachdem sie sich für den funkelnden Haarschmuck entschieden hatte, der die Aufmerksamkeit von ihrer besorgten Miene ablenken sollte, die sie nicht mehr ablegen konnte, auch wenn sie extra viel lächelte, steckte sie sich die Spange ins Haar und riss sich vom Spiegel los.

»Du siehst wunderbar aus!«, rief ihre Mutter aus der Küche, als Laurel die Treppe hinunterkam.

»Danke, Mom.« Laurel lächelte über den Stress hinweg und legte ihrer Mutter die Arme um den Hals. »Das brauchte ich jetzt.«

»Ist alles okay?«, fragte ihre Mutter, löste sich von ihr und sah sie an.

»Ach, diese ganze Sache mit David und Tamani – denk bitte daran, dass du ihn vor Yuki Tam nennst – geht mir auf den Wecker. Und das ist ja bekanntlich nicht alles.« Sie hatte ihren Eltern erzählt, dass Klea wahrscheinlich eine Elfe war, der man nicht trauen konnte, aber sie konnten nichts tun, als weitermachen wie bisher.

Ihre Mutter drehte Laurel sanft um und massierte ihr den Rücken, so wie sie es gern hatte. »Wie geht es deinem Kopf?«, fragte sie und knetete ihren Nacken.

»Im Augenblick ganz gut«, antwortete Laurel. »Gestern war es ziemlich schlimm, aber nach Ende der Prüfungen erhoffe ich mir jetzt eine schöne entspannende Pause.«

Laurels Mutter nickte. »Ich bin zugegebenermaßen ein wenig überrascht, dass David dich heute Abend abholt.«

»Warum finden das bloß alle so erstaunlich?«, fragte Laurel genervt.

»Weil du mit ihm Schluss gemacht hast, was sonst?«

Laurel schwieg.

»Nach Thanksgiving war ich mir sicher, dass du mit Tamani gehen würdest.«

»Er muss Yuki bewachen.«

»Und wenn er das nicht müsste?«

Laurel zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«

»Jetzt hör mir mal gut zu«, sagte ihre Mutter und sah ihr direkt in die Augen. »Man kann es niemandem vorwerfen, wenn er Zeit für sich braucht. Ich bin die Letzte, die dir erzählen würde, dass man ohne Mann nicht glücklich wird. Aber wenn du etwas nicht zulassen willst, nur weil du Angst hast, David zu verletzen, muss ich dich vielleicht daran erinnern, dass du dann Tamani wehtun würdest, und David gleich mit, weil du ihm nicht erlauben würdest, sich neu zu verlieben. Wenn – und damit sage ich nicht, du solltest dich für ihn entscheiden, aber wenn du Tamani wirklich liebst und nur wegen David immer wieder abweist, könnte es sein, dass er dich nicht mehr will, wenn du noch lange für diese Entscheidung brauchst.« Endlich war ihre Mutter fertig. Lächelnd wandte sie sich wieder dem Dessert zu, das sie aus einem Teigbeutel zu kleinen essbaren Kunstwerken spritzte.

»Die isst kein Mensch, Mom.«

Ihre Mutter betrachtete besorgt ihren schönen Nachtisch. »Und warum nicht?«

»Weil sie einfach zu hübsch sind.«

»Genau wie du«, erwiderte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Als es klopfte, flatterten wieder die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Es machte sie fertig, dass es anscheinend egal war, wer vor der Tür stand. Sie machten sie alle gleich nervös.

Draußen wartete Tamani auf der Veranda. Er war allein und trug einen schwarzen Smoking. Das volle Programm mit Frackschößen, einer glänzenden weißen Weste und weißer Krawatte. Obwohl zum Winterball geladen war, wusste Laurel, dass die meisten Jungen höchstens einen normalen Anzug mit Schlips tragen würden. Dennoch wäre Tamani wahrscheinlich nicht der einzige im Smoking – David stand auch darauf –, doch er würde am förmlichsten gekleidet sein. Als Laurel sich Sorgen um seinen Aufzug gemacht hatte, war sie nicht darauf gekommen, dass er zu gut angezogen sein könnte.

Sie nahm seine umwerfende Erscheinung in sich auf und merkte, dass er fast so nervös aussah, wie sie sich fühlte. Das war sehr ungewöhnlich für Tamani. »Geht es dir nicht gut?«

Er beugte sich vor. »Sind die anderen schon da?«

Laurel schüttelte den Kopf.

»Gut.« Tamani ging ins Haus und zog die Tür hinter sich zu. »Yuki hat mich gebeten, sie nicht abzuholen.«

»Wie, sie hat abgesagt?«

»Nein. Angeblich ist sie spät dran, wir sollen uns direkt auf dem Ball treffen. Irgendetwas stimmt da nicht.«

»Sie weiß, dass ich ein Dessert geplant habe. Vielleicht will sie keine Aufmerksamkeit auf ihre Essgewohnheiten lenken. Sie weiß schließlich nicht, dass wir alle wissen, was sie ist. Also, außer Ryan natürlich. Ich würde das so machen, kann ich nur sagen«, fügte sie leise hinzu.

»Kann sein. Aber sie hat sich komisch angehört, am Telefon.«

Laurel hob den Kopf, als es klingelte. »Es sind aber Wachposten an ihrem Haus postiert, oder?«

Tamani nickte. »Viel nützt das im Moment auch nicht. Sie hat ihr Haus heute Abend in eine Festung verwandelt. Die Vorhänge sind zugezogen und ein Bettlaken hängt über dem Vorderfenster. Da ist was faul.«

»Wir können nicht viel machen, ehe wir uns mit ihr auf dem Ball treffen«, flüsterte Laurel. Nach einer Pause flüsterte sie noch leiser: »Du siehst fantastisch aus.«

Tamani war überrascht, doch dann lächelte er. »Danke, du aber auch. So wie jeden Tag.«

Es klingelte noch mal – direkt an ihrem Ohr – und Laurel schob Tamani in die Küche. Sie öffnete die Tür und begrüßte David, Chelsea und Ryan.

»Mensch, Laurel!«, rief Chelsea und fiel Laurel um den Hals. Sie trug das rote Kleid, wie Laurel es ihr empfohlen hatte. Es schmeichelte ihrem Teint und betonte das Grau in ihren Augen. »Toll siehst du aus! Ist das das Kleid … von dem du mir erzählt hast?«

»Ja«, sagte Laurel und breitete den Rock ein wenig aus. »Ich hatte echt Glück, so etwas Schönes zu finden.« Zu finden, ha! In Avalon fand man wirklich die schönsten Sachen auf dem Marktplatz und nahm sie einfach mit.

»Tja, in einer Viertelstunde müssen wir zu dem Ball und man hat mir Nachtisch versprochen«, sagte Chelsea und lächelte keck. »Ryan hat mir zum Abendessen kein Dessert gegönnt, deshalb wäre ich echt froh, wenn ich hier eins kriegen könnte.«

»So ein Quatsch«, widersprach Ryan und schob sie sanft Richtung Küche. »Ich habe gesagt, sie könnte auch zwei Desserts essen. Sie hat mich nur nicht beim Wort genommen.«

Chelsea grinste ihn an und ging mit ihm in die Küche. Laurel sah ihnen wehmütig nach. Nach dem, was Chelsea ihr neulich erzählt hatte, fielen ihr die Begegnungen mit Ryan schwer. Er wirkte immer noch total verliebt. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf erinnerte sie daran, dass er Chelsea in Bezug auf seine Collegebewerbungen angelogen hatte, aber musste sie ihn deshalb wie aus heiterem Himmel verlassen?

Nun hatte Laurel Zeit für David, der hinter ihnen hereingekommen war. Er trug ein eng geschnittenes Smokingjackett über einem schwarzen Seidenhemd mit Mandarinkragen und einem großen glänzenden Knopf anstelle einer Fliege. Er hatte sich verändert, seit sie ihn vor zwei Jahren kennengelernt hatte. An diesem Abend sah er ganz in Schwarz so elegant, so gut aus, als könnte er es mit allem und jedem aufnehmen.

»Hi«, sagte Laurel plötzlich schüchtern. Er musterte ihr Kleid, und sie konnte sehen, wie er sich einen Reim darauf machte. Doch als er sie ansah, konnte sie nicht erraten, was er dachte.

»Du siehst schön aus.« Mehr sagte er nicht.

 

Als David auf den Parkplatz der Highschool einbog, war Laurel ein nervöses Wrack. Obwohl sie versucht hatte, Tamani zu beruhigen, fand auch sie es höchst untypisch für Yuki, sich so zu verspäten. Ausgerechnet jetzt, da ihrer aller Aufgabe nur noch darin bestand, sie in Schach zu halten, bis sie mehr über Klea wussten. Doch Laurel blieb nichts anderes übrig, als sich bei David einzuhaken und Gelassenheit auszustrahlen, während er sie zum Eingang führte.

Tamani überholte Laurel und eilte in wenigen langen Schritten auf die Schule zu. Dort wartete Yuki in einem silbernen Ballkleid auf ihn, das offenbar handgeschneidert war. Das Kleid war wie ein traditioneller Kimono eng um ihren Körper gewickelt und trug einen V-Ausschnitt zur Schau, den Laurel schockierend tief fand. Doch statt aus schwerem Brokat war Yukis Gewand aus leichtem Satin mit einem Chiffonschleier, der in der sanften Abendbrise um ihre Knöchel wehte. Oben stand er leicht von den Schultern ab und die Flügelärmel waren mit etwas Glänzendem gesäumt. Um die Taille trug sie einen spitzenbesetzten Obi, den sie auf ihrem Rücken zu einer ausufernden Schleife geschlungen hatte, sodass dieser fast völlig bedeckt war. Ihr schwarzes Haar, das in weichen Löckchen schwang, streifte gerade noch den oberen Teil der Schleife. Ihre glänzenden grünen Augen waren dramatisch schwarz geschminkt, die Lippen leuchteten in sinnlichem Rot. Sie sah außerordentlich schön aus.

»Geht es dir gut?«, fragte Tamani und strich ihr über die Schulter, woraufhin Laurel Davids Arm noch fester umklammerte. Es war ganz offensichtlich, dass es ihr bestens ging. Wahrscheinlich wollte sie nur nicht zugeben, dass sie Stunden gebraucht hat, um sich aufzubrezeln, dachte Laurel frustriert darüber, dass Yuki es grundlos geschafft hatte, ihr und Tamani solche Sorgen zu bereiten. Sie strahlte in der Dämmerung und sonnte sich in Tamanis Aufmerksamkeit. Ihr Gesicht leuchtete auf, als er mit ihr redete, und Laurel hätte ihr am liebsten direkt eine gescheuert.

Sie machte eine halbe Drehung, um sich von Yuki und Tamani abzuwenden und auf David zu konzentrieren. Er war schließlich ihr Date an diesem Abend und nach einigen beruhigenden Atemzügen gingen sie Arm in Arm in die Turnhalle. Die Schülervertretung hatte sich selbst übertroffen. Die Decke war mit schwarzem Tüll verkleidet, der am Boden zu kissenförmigen Häufchen zerschmolz. Lampen in Form von Eiszapfen hingen dicht an dicht, sodass der Eindruck eines schwarzen Himmels mit unzähligen strahlenden Sternen entstand. Die üblichen Klappstühle waren mit Stoff überzogen, so wie Laurel es bisher nur hin und wieder bei Hochzeiten oder in gehobenen Restaurants erlebt hatte. Am Buffet gab es eine überwältigende Auswahl von Petit Fours, die selbst Laurel, die sie nicht essen konnte, köstlich anmuteten. Zwei Ventilatoren mit gekräuselten Bändchen sorgten für einen gesunden Luftaustausch, während es in der Turnhalle immer voller wurde.

»Wow«, sagte David. »Das ist noch toller als letztes Jahr.«

Als ein neuer Song gespielt wurde, nahm er Laurels Hand von seinem Arm und zog sie auf die Tanzfläche. »Komm, tanz mit mir«, sagte er leise und führte sie weit in die Mitte, von wo man den Eingang nicht mehr sehen konnte – sicher kein Zufall, dachte Laurel. Dann schlang er die Arme um sie und sie wiegten sich zur Musik.

»Du siehst heute wirklich unglaublich aus!«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Laurel senkte die Lider und lächelte. »Vielen Dank. Du aber auch. Schwarz steht dir gut.«

»Ich muss zugeben, dass meine Mom mir geholfen hat, es auszusuchen. Lachst du mich jetzt aus?«

Laurel grinste. »Nein. Deine Mutter hatte immer schon einen hervorragenden Geschmack. Aber du trägst die Sachen und kannst alles Lob einheimsen.«

»Hey, schön, dass du es gemerkt hast.«