Einundzwanzig
Tamani sah zu, wie David rasch das Auto umrundete, um Laurel die Tür aufzuhalten. Nachdem sie Hand in Hand die Schule betreten hatten, holte Tamani seine verhassten Handschuhe aus dem Rucksack. Noch eine Woche, höchstens zwei, dann konnte er sie endlich wegwerfen, hoffentlich für alle Ewigkeit.
Er machte den Klettverschluss zu und betrachtete seine Hand. Noch immer spürte er ihre Finger auf seiner Schulter, ihre Hand unter der seinen. Vielleicht hätte er doch schärfer rangehen sollen, dann hätte er mehr davon gehabt. Doch für wie lange? Einen Tag? Möglicherweise hätte es sogar eine Woche gedauert, bis sie Schuldgefühle bekommen und erneut einen Schlussstrich gezogen hätte – einen Schlussstrich unter ihn.
Tamani folgte David und Laurel in die Schule. Sein suchender Blick fand sie sofort. Sie standen beisammen und hatten ihn noch nicht bemerkt. David hatte ihr locker den Arm um die Schultern gelegt und Tamani kämpfte mit seiner Eifersucht. Er wusste, dass romantische Verbindungen sowohl bei Elfen als auch bei Menschen nicht in Stein gemeißelt waren, schon gar nicht unter sehr jungen Liebenden. Laurel hatte ihm selbst früher einmal gesagt, sie wäre nicht auf der Suche nach »der einen großen Liebe.« Tamani klammerte sich an diese Worte, auch wenn sie sich nicht gerade entsprechend verhielt.
Als sich eine kühle Hand um seinen Knöchel schlang, kehrte Tamani schlagartig in die Wirklichkeit zurück.
»Ich habe dich angesprochen, aber du hast mich nicht gehört«, sagte Yuki in ihrem perfekten akzentfreien Amerikanisch.
»Sorry.« Aufmerksamkeit und Alarmbereitschaft gehörten eigentlich zu den Hauptanforderungen seines Jobs. Wenn er sich auch nur einen Augenblick ablenken ließ, könnte es für Laurel das Ende bedeuten. Darum wollte Shar Tamani anfangs gar nicht herschicken. Er schalt sich selbst, weil er es zugelassen hatte, dass seine Gefühle für Laurel sie in Gefahr gebracht hatten, wenn auch nur sehr kurz und geringfügig. Dann lächelte Tamani Yuki zu, belauschte aber gleichzeitig weiter Laurels Unterhaltung.
Yuki erwiderte sein Lächeln und fragte ihn, ob er etwas im Fernsehen gesehen hätte, von dem er noch nie gehört hatte. Er schüttelte den Kopf und bat sie, ihm davon zu erzählen. Von da an ging es wie von selbst. Sie quasselte ohne Ende über menschliche Musiker, Internetklatsch und Fernsehprogramme mit grotesken oder erniedrigenden Inhalten, aber so konnte er einfach freundlich alles abnicken, was sie sagte.
Laurel wollte gerade zu ihrem ersten Kurs gehen, als Yuki noch lang und breit erklärte, inwiefern sich japanische aidoru von amerikanischen Filmsternchen unterschieden. Tamani ging nur einen kleinen Schritt zur Seite, damit er Laurel besser im Auge behalten konnte, während sie sich durch die Schüler drängte. David nahm er erst wahr, als der ihn heftig anrempelte, aus dem Gleichgewicht brachte und ihm Yukis Hand entriss.
»Pass doch auf!«, rief Tamani, der David am liebsten die Nase gebrochen hätte. Oder das Genick.
Doch David sah sich nur zufrieden um, ehe er einfach weiterging. »Sorry, Mann«, äffte er Tamanis Akzent nach. »Das tut mir ja soo leid.«
»Keine Ahnung, was Laurel an dem findet«, sagte Yuki missbilligend. »Sie ist vielleicht ganz nett, aber er ist … irgendwie hart drauf.«
Tamani nickte und suchte Laurel, aber Yuki berührte ihn zaghaft an der Schulter und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er wollte sie gerade beruhigen, als er Laurel entdeckte.
Sie schaute sich um und klammerte sich mit böser Miene an die Gurte ihres Rucksacks. Tamani musste zwei Mal hinsehen, aber es stimmte! Er war es nicht, den sie so anfunkelte.
Sie war böse auf David.
Welch willkommene Abwechslung!
Doch auch in Tamani schmorte es weiter. Er fand es nur noch furchtbar, dass er die ganze Sache nicht mit seinem Rivalen ausfechten konnte. Er hätte so gern mit David gekämpft und ihm Laurel weggenommen, aber er konnte ihr nicht einmal von Elf zu Elfe den Hof machen – sonst hätte er sie beide verraten. Kochend vor Wut durchlitt er den Politik-Kurs. Laurel saß nur wenige Zentimeter von ihm entfernt am nächsten Pult – aber das hatte nichts zu sagen. Sie könnte genauso gut hundert Meilen weit weg sein. Tausend. Eine Million.
Außerdem war sie noch dazu eine Herbstelfe, was ihm auf eine andere Art Beschränkungen auferlegte. Doch darüber dachte er nur ungern nach.
Nachdem der Unterricht zur Hälfte vorbei war, schob Laurel ihm einen Zettel zu. Er warf einen flüchtigen Blick darauf: die Ergebnisse des Leuchtmitteltests mit seinem Pflanzensaft. Siebenunddreißig Minuten, genau in der Mitte zwischen Yuki und Laurel. Tamani musste zugeben, dass er keinen Schimmer hatte, was das bedeuten könnte – wenn es denn wichtig war. Er zückte einen Stift, um ihr zu antworten. Seinen ersten Versuch radierte er wieder aus und versuchte es noch einmal. Doch er fand nicht die richtigen Worte. Hatte er überhaupt noch Zugang zu ihr? Mit einem schweren Seufzer steckte er den Zettel mit all den ausradierten Antworten ein, ohne Laurel anzusehen – möglicherweise bemerkte sie es nicht einmal.
Sie winkte ihm mit besorgter Miene zu, als sie in den Gang hinausging, aber auch das kam Tamani vor, als würde sie sich über ihn lustig machen. Er stand schwerfällig auf, packte die Bücher und das Schreibzeug, diese belanglosen Requisiten, ein und ging zu seinem nächsten Kurs.
Danach hatte er endgültig genug. Er begleitete Yuki zu ihrem dritten Kurs, doch er selbst konnte keine weitere Unterrichtsstunde über sich ergehen lassen. Nachdem er eine Zeit lang ziellos auf dem Schulgelände hin und her gelaufen war, ging er zum Parkplatz und setzte sich ins Auto. Mit offenem Verdeck und aufgeknöpftem Hemd ließ er sich von der Sonne bescheinen, die durch die herbstlichen Wolken drang.
Einige Minuten vor dem Klingeln zur Mittagspause schleppte Tamani sich in die Schule zurück, weil er sich mal wieder ermahnt hatte, dass es sich lohnte – die Kopfschmerzen, die Wut und die Angst, dass es niemals besser würde. Denn hier konnte er ihr in die Augen sehen und sich in ihrem Lächeln sonnen – selbst wenn es gar nicht für ihn bestimmt war. Es war es wert, täglich diese Qualen zu erleiden.
Aber schön musste er es deshalb noch lange nicht finden.
In der Eingangshalle war niemand. In einigen Minuten wurden die Menschenmassen wieder losgelassen. Sie würden aus den Klassenräumen strömen und sich geradezu überschlagen, um etwas zu essen zu bekommen – diese gierigen Biester. Er drehte an seinem klebrigen Schließfachschloss – auch wenn es ihm ganz egal wäre, wenn jemand etwas daraus klauen würde – und riss es auf. Dann warf er seinen Rucksack hinein und überlegte, was er mit der Mittagspause anfangen sollte. Ob Yuki vielleicht Lust hatte, mit Laurel und ihren Freunden zu essen? Er wollte Laurel sehen, aber noch eine Begegnung mit David würde ihn definitiv überfordern. Das ging heute gar nicht.
Tamani hörte Schritte und drehte sich um. Ausgerechnet David sah ihn vom anderen Ende des Gangs grimmig an. Gleichzeitig kamen auch einige andere Schüler aus seiner Klasse – offenbar hatten sie heute eher Schluss. Wie ging noch mal diese Redensart der Menschen – wenn man vom Teufel sprach?
Tamani wusste, er sollte die dummen Blicke des Jungen und seine blöden Anstrengungen, ihm immer voraus sein zu wollen, ignorieren. Er war zu schlau, um sich mit einem Menschen anzulegen. Er hatte eine Aufgabe zu erledigen.
Trotzdem erwiderte er Davids zornigen Blick ohne Abstriche.
David wurde langsamer und blieb dicht vor Tamani stehen. Die Atmosphäre kühlte sich deutlich ab.
»Hast du ein Problem, Lawson?«, fragte Tamani.
David wusste nicht genau, was er tun sollte. Er hätte nicht gedacht, dass es so weit kommen würde. Doch Tamani hatte in den letzten zwei Jahren gelernt, wie stur und hartnäckig dieser Menschenjunge sein konnte. Er würde keinen Rückzieher machen. »Du kennst mein Problem nur zu gut«, antwortete David.
»Habe ich das richtig verstanden«, sagte Tamani und trat noch näher an seinen Gegner heran, »dass dein Problem etwas mit mir zu tun hat?«
»Mit dir habe ich nur Probleme.« David ließ sich nicht lumpen und machte den letzten Schritt auf Tamani zu.
Tamani spürte, wie sich alle Blicke auf sie richteten. »Jetzt sag mir, was du wirklich denkst«, sagte Tamani so leise, dass niemand mithören konnte.
»Dafür reicht nicht mal mein Wortschatz aus.« David verschränkte die Arme vor der Brust.
Das war keine Beleidigung, höchstens schlauer Quatsch, aber dem war schwer beizukommen, das musste Tamani zugeben. »Zum Glück«, sagte Tamani mit einem gemeinen Grinsen, »kenne ich viel mehr Wörter als du, òinseach.« Er schleuderte David das gälische Wort mit so viel Bosheit ins Gesicht, dass die Übersetzung mit Sicherheit nicht dagegen angekommen wäre. Es klingelte zum Mittagessen, doch Tamani hörte es kaum.
»Du willst mich nur provozieren«, sagte David, aber das klang nicht überzeugt. Er zauderte. »Du willst nur, dass Laurel sauer auf mich ist. Damit sie Mitleid mit dir kriegt.« Immer mehr Schüler bildeten einen Kreis um die beiden und hofften, etwas geboten zu bekommen.
»Nicht doch«, sagte Tamani und legte David die Fingerspitzen einer Hand auf die Brust. »Du sollst kapieren, wer du bist, burraidh.« Er schubste ihn fest genug, dass David einen Schritt zurücktreten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Die Mischung aus Verwirrung und Wut hatte den gewünschten Effekt. David preschte wieder vor und schubste Tamani viel fester. Er hätte einfach stehenbleiben oder David mit runterziehen können. Stattdessen taumelte er erst mal rückwärts, um dann mit ausgestreckten Händen auf David loszugehen. Er zog eine richtige Show ab, legte jedoch keine Kraft in den Stoß. Trotzdem musste David diesmal zwei Schritte zurückgehen. Ehe er sich wieder gefangen hatte, war Tamani bei ihm und stieß kraftvoll zu. David knallte voll an die Schließfächer.
»Jetzt geht’s ab!«, rief ein Schüler. Die anderen freuten sich: »Schlägerei! Schlägerei! Schlägerei!«
Oh ja, dachte Tamani. Ein Tier, das in die Enge getrieben wird, kämpft immer.
Als David Tamani mit Wucht ins Gesicht schlug, musste der Elf zugeben, dass der Junge einen guten Schlag hatte. Doch Tamani steckte den Schmerz zufrieden weg. David hatte zuerst zugeschlagen. Jetzt war er Freiwild.