16. Kapitel

IN DER NÄHE DES ROTKIEMENSEES, DATHOMIR

Am Morgen nach dem Funkenfliegen-Angriff war die Stimmung beim Clan-Konklave eine andere als zuvor. Obgleich er ein Außenweltler war, konnte Ben den Unterschied spüren, teilweise aufgrund seiner Empfänglichkeit für die Macht, teilweise durch schlichtes Beobachten.

Die Männer und Frauen beider Clans waren wachsamer, argwöhnischer. Das war nicht gut, da die Mitglieder jedes Clans denen des anderen schon von Natur aus skeptischer gegenüberstanden. Allerdings zeigte sich in ihrem Gang und in ihren Stimmen auch ein neuer Stolz.

Sie hatten zwei Angriffe der Nachtschwestern überstanden und waren noch immer zusammen, arbeiteten noch immer auf ihr gemeinsames Ziel hin. Ben konnte in ihren Augen förmlich die wachsende Überzeugung sehen, dass der Erfolg ihres Vorhabens unausweichlich war.

Gleichwohl, wenn er das erkennen konnte, galt das für die Nachtschwestern natürlich ebenso. Sie würden verärgert darüber sein, dass man sie in die Flucht geschlagen hatte, und noch erzürnter darüber, zwei der ihren verloren zu haben. Sie würden Vergeltung üben – und das bald.

Wenn sie zu lange warteten, würde die Vereinigung der Stämme, die sie zu verhindern suchten, bereits Geschichte sein.

Doch nichts davon beschäftigte Ben in diesem Moment wirklich. Er wollte einen Mörder fassen. Da es sich bei Shas Mörderin mit Sicherheit um eine Nachtschwester handelte, konnte ihn das zu anderen Nachtschwestern führen, wenn es ihm gelang, sie zu identifizieren.

An diesem Morgen wanderte er im Lager umher und stellte Fragen, während weitere sportliche Wettkämpfe stattfanden und die Bestattungsriten für die Opfer der Kodashiviper-Bisse geplant wurden. War Sha gestern unter euch? Wie hat sie sich verhalten? Was hat sie gesagt?

Weißt du, mit wem sie gesprochen hat, bevor sie zu dir kam? Weißt du, wo sie hingegangen ist, nachdem sie bei dir war?

Er erhielt einige Antworten. Sie hatte sich nach den Kindern der Herabregnenden Blätter erkundigt. Was genau wollte sie wissen? Bloß ihre Namen und ihr Alter.

Gegen Mittag kehrte er frustriert ins Lager der Außenweltler zurück. Er war nicht der Erste dort. Dyon war bereits vor Ort und kochte ihr Mittagessen. Er grinste zu ihm auf, während er in Transparistahlfolie eingewickelte Echsenkoteletts oben auf die glühende Asche legte. »Du bist ein ziemlich dämlicher Bursche, Ben. Das weißt du, oder? Hier tummeln sich eine Menge machtnutzender Mädels, die immer noch keinen Partner haben.«

»Ach, sei still!« Ben setzte sich, den Rücken an einen großen Felsen gelehnt. »Nein, sag was … Sag mir, was du über die Stammlose Sha weißt!«

»Hm.« Dyon runzelte die Stirn und dachte zurück. »Ihr Name war Sha’natrac Tsu.

Ursprünglich stammte sie von den Blaukorallentaucherinnen. Doch der Clan hat sie mit einem Todesmal belegt.«

»Warum?«

»Die Blaukorallen führten einen Kleinkrieg mit den Scherenfäusten, deren Name auf so eine Art großes, schwerfälliges Krebstier zurückgeht. Die Blaukorallentaucherinnen gehörten zu der neuen Sorte Clans, in denen Männer und Frauen gemeinsam herrschen, und die Scherenfäuste bestanden aus ehemaligen entflohenen Sklaven aus einer Vielzahl von Clans und einigen Frauen, die sich ihnen angeschlossen hatten. Beide Clans lebten in der Nähe des Meeres. Es war eine dieser Fehden, die sich über Jahre dahinzogen. Jedes Jahr verloren beide Seiten eine Handvoll Clan-Mitglieder bei Hinterhalten, oder sie verschwanden einfach.«

»Schon kapiert. Zwei Clans, die nicht intelligent genug waren, sich nicht gegenseitig auszulöschen.«

»Im Grunde war es tatsächlich so. Wie auch immer, in einer dieser seltenen Phasen der Vernunft, die die Dathomiri-Clans zuweilen befällt, versammelten sich die verfeindeten Gruppen zu einem diplomatischen Treffen, um ihre Differenzen aus der Welt zu schaffen. Sha gehörte zu dieser Gruppe, und sie verliebte sich in einen von den Scherenfäusten.«

»Oh nein, bitte, keine Liebesgeschichte!«

»Und dazu noch eine mit einem traurigen Ende. Die Friedensgespräche verliefen schlecht, die beiden Clans bekämpften sich abermals, und Sha und ihr Gefährte, die kein Geheimnis aus ihrer Beziehung gemacht hatten, waren mit einem Mal Verräter, weil sie nicht bereit waren, sich gegenseitig umzubringen. Sie liefen zusammen fort und wurden verstoßen. Am Ende landeten sie an einem Ort nicht allzu weit weg vom Raumhafen, ein gutes Stück von den Jagdrevieren ihrer ehemaligen Clans entfernt. Das muss vor etwa sieben Jahren gewesen sein.«

»Und? Was ist jetzt mit dem tragischen Ende?«

»Vor gut fünf Jahren fing sie an, ihre Dienste Besuchern des Raumhafens anzubieten, als Führerin. Sie nahm Kurieraufträge an, Jagdaufträge, Spionageaufträge und schien dabei die Jobs zu bevorzugen, die sie weiter und weiter von ihrer Heimat wegführten, insbesondere dann, wenn sie ihr die Gelegenheit boten, Clans zu treffen, auf die sie vorher noch nicht gestoßen war. Wenn Leute sie nach ihrem Ehemann fragten, sagte sie, er sei tot, und dass sie denjenigen töten würde, wer immer ihn umgebracht hatte. Mehr als das verriet sie allerdings nicht darüber.«

Ben sah ihn stirnrunzelnd an. »Das war’s? Das ist die ganze Geschichte?«

»Das ist die ganze Geschichte, soweit irgendjemand abgesehen von Sha sie kennt, ja.«

»Du hast es wirklich drauf, ein Epos wie dieses mit Leben zu füllen, Dyon! Wie kommt es, dass du nicht Historiker geworden bist?«

Dyon tat seine Bemerkung mit einem Wink ab. »Sei nicht sarkastisch zu dem Mann, der dein Essen kocht!«

»Um ehrlich zu sein, ist das ein guter Rat.« Ben schwieg. Dyons Geschichte deutete an, dass Sha womöglich auf die Mörderin ihres Mannes gestoßen war. Trotzdem warf die Geschichte mehr Fragen auf, als sie klärte. Wer hatte ihren Ehemann umgebracht, und warum? Und wie hätten die speziellen Fragen, die sie gestellt hatte, sie zu dieser Person geführt?

Etwas nagte an Ben, etwas, das Sha gesagt hatte, als sie einander das erste Mal begegnet waren.

Da war es, Worte über die Nachtschwestern. Sie verstecken sich, sie heilen, sie kommen zurück. Ist ihre Zahl gering, kommen sie, um eure Kinder zu holen. Und dabei hatte sie so unglücklich dreingeschaut, wenn auch bloß für einen Moment.

Ben starrte Dyon an. »Das ist es! Sie haben ihre Tochter geholt.«

»Wessen Tochter?«

»Ja, wessen Tochter?« Das war Luke, der sich im Schneidersitz neben das Feuer setzte.

»Ich glaube, Sha hatte eine Tochter, und die Nachtschwestern haben sie entführt.« Er erläuterte ihnen seine Gedanken.

Luke nahm von Dyon einen Becher Kaf entgegen und schüttelte den Kopf. »Das ist ziemlich dürftig, Ben.«

»Ich vertraue auf meine Instinkte. Ja, es ist dürftig, aber wenn es stimmt, würde das eine Menge erklären. Sie und ihr Scherenfaust-Ehemann führen ein Leben, weit fort von ihren Verfolgern, aber ebenso fort von dem Schutz, den ein Clan normalerweise bietet. Sie haben ein Baby, alles ist gut. Dann kommen eines Nachts die Nachtschwestern. Mit einem Mal ist ihr Baby verschwunden, und ihr Mann ist tot. Sie lässt sich für Missionen anheuern, die ihr ein Einkommen verschaffen, während sie nach ihrem Kind sucht.« Ben schaute sich um und suchte das Lager der Herabregnenden Blätter mit den Augen ab. »Und hier ist sie auf etwas gestoßen. Vielleicht hat eine der Herabregnenden Blätter ihr erzählt: Es gab da mal so ein Baby. Aber hier in aller Öffentlichkeit will ich nicht darüber reden. Jemand könnte uns hören. Machen wir doch einen kurzen Spaziergang zu den Bäumen des Drohenden Verderbens! «

Luke runzelte die Stirn. »Du gehst furchtbar schnodderig mit dem Tod einer Frau um.«

»Tut mir leid. Ermittlerhumor. Ich habe viele solcher Sachen gehört, als ich bei der Garde der Galaktischen Allianz war. Wie auch immer, es wäre hilfreich, wenn ich die Daten ein bisschen präziser eingrenzen könnte.«

»Vielleicht kann ich dir dabei helfen.« Dyon machte sich daran, in seinen vielen Westentaschen herumzuwühlen und holte schließlich ein zerschrammtes, robust aussehendes Datapad hervor. »Luke, könntest du das Feuer für einige Minuten übernehmen?«

»Natürlich.«

Dyon fing an, Befehle und Suchanfragen in sein Datapad einzutippen. »Es ist schön, dass es Kom-Verstärker und Satelliten gibt. Ich kann auf die Aufzeichnungen des Raumhafens zugreifen. Ich meine, auf Coruscant seid ihr natürlich an so was gewöhnt, aber hier … Ähm, Sha Tsu und Vagan Kolvy wurden erstmals registriert, als sie vor sieben Jahren und einem Monat den Raumhafen aufsuchten. Der Mann wurde das letzte Mal vor fünf Jahren und zehn Monaten gesehen. Vor fünf Jahren und acht Monaten stellte sich Sha dann für Aufklärungs-, Fremdenführer- und Jagdaufträge zur Verfügung.«

Ben dachte darüber nach. »Dann haben sie ihr Baby also aller Voraussicht nach …«

Luke warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Ihr theoretisches Baby.«

»Vor etwas mehr als fünf Jahren und acht Monaten überfielen sie ihr theoretisches Lager, ermordeten ihren theoretischen Ehemann und nahmen ihr theoretisches Baby mit.« Er ließ den Blick wieder über das Lager schweifen. »Es wäre ziemlich schwierig, ein neues Kind in einen Clan wie diesen einzuführen, nicht wahr?«

Dyon ließ sein Datapad zuschnappen. »Nein, aber es wäre schwierig, es unbemerkt zu tun.

Diese Leute führen eine harte, kalorienarme Existenz, deshalb kann allein schon aufgrund des zusätzlichen Körpergewichts niemand eine Schwangerschaft verbergen. Es gibt einen gewissen Austausch unter den Mitgliedern der Clans, sodass die Möglichkeit besteht, dass du, wenn du, sagen wir, im Nachbarclan eine Cousine hast, und diese Cousine stirbt, du ihr Kind adoptierst. Aber jeder weiß, dass das Kind ursprünglich von einem anderen Clan stammt.«

»Hmm.« Ben nahm von seinem Vater ein Stück in Folie eingewickeltes Fleisch entgegen und warf es von einer Hand in die andere, um sich nicht die Finger zu verbrennen. »Ich denke, nach dem Mittagessen werde ich anfangen, einige neue Fragen zu stellen.«

Sein Vater grinste. »Und wenn jemand dich auffordert, bei den Bäumen des Drohenden Verderbens mit ihr zu reden?«

»Dann sage ich Ja, schließe die Augen, und spitze die Lippen, um einen dicken Schmatzer einzuheimsen?«

»Na also, das nenne ich den Skywalker-Überlebensinstinkt!«

Ben hielt sich an seinen Plan. Nach dem Mittagsmahl wanderte er abermals durchs Lager, um neue Fragen zu stellen. Und das ist dein Kind? Wie alt ist es? Ich nehme an, sie ist die Tochter von einem Mitglied der Zerbrochenen Säulen? Hat sie irgendwelche Freundinnen in ihrem eigenen Alter?

Die Nacht brach herein, bevor er irgendwelche Antworten bekam, die für ihn von Interesse waren.

Während in der Ferne lautstark ein spezieller Ringwettbewerb zu Ehren derer stattfand, die den Schlangen zum Opfer gefallen waren, blickte Ben auf ein kleines, schwarzhaariges Mädchen hinab, das seinerseits feierlich zu ihm aufschaute. »Ist das deine Tochter?«

Halliava, die Gewinnerin des Kurzstreckenrennens für jene, die in den Künsten bewandert sind, und einiger anderer Wettbewerbe, schenkte ihm ein breites Lächeln, ein stolzes Lächeln. »Ja. Das ist Ara. Ara, das ist Ben. Er kommt von ganz weit weg, und er ist ein Hexen-Junge. Begrüße ihn so, wie es sich gebührt!«

Das Mädchen hob ein Patschehändchen, die Handfläche auf Ben gerichtet. »Willkommen an unserem Feuer. Wir haben Brot, Fleisch und Wasser.«

Halliavas Vorgabe kam als Flüstern: »Man nennt mich …«

»Man nennt mich Aradasa Vurse.«

Ben erwiderte den Gruß. »Man nennt mich Ben Skywalker.«

»Bist du wirklich ein Hexen-Junge?«

Er nickte. »Aber wir nennen uns selbst Jedi. Einige Jedi sind Jungen und andere sind Mädchen, und die Künste, die wir beherrschen, sind ein bisschen anders als eure.«

»Oh.« Plötzlich schüchtern, packte Ara den Oberschenkel ihrer Mutter und klammerte sich daran fest, jedoch ohne sich von Ben abzuwenden.

Ben schenkte Halliava ein freundliches Lächeln. »Wie alt ist sie, vier?«

»Fünf und eine Jahreszeit. Sie ist klein für ihr Alter.« Halliava zuckte die Schultern. »Aber man weiß nie, wie schnell sie wachsen. Ich bin groß, und ihr Vater war sehr groß. Wir haben oft gescherzt, dass er halb Rancor wäre.«

»Er war groß?«

»Er starb, bevor Ara geboren wurde. Er war ein Krieger der Zerbrochenen Säulen. Wir heirateten beim alljährlichen Konklave vor etwa sechs Jahren, und am Ende der Zusammenkunft trennten sich unsere Wege. Als ich das nächste Mal etwas über ihn hörte, war er zu Tode gestürzt, als er auf hohe Bäume kletterte, um Eier aus Nestern zu plündern.«

»Das tut mir leid.«

Sie zuckte erneut die Schultern.

»Wie ich höre, waren auch die Umstände ihrer Geburt schwierig.«

Halliava bedachte ihn mit einem kleinen, fragenden Stirnrunzeln. »Wer sagt das?«

»Das habe ich vergessen. Mein Vater hat am Lagerfeuer Geschichten erzählt. Bevor ich geboren wurde, hat meine Mutter mich in ihrem Bauch von einer Schlacht oder Planetenkatastrophe zur nächsten geschleppt, und einer von euch Herabregnenden Blättern wollte diese Geschichte überbieten.«

»Oh. Nun ja. Ich war betrübt über Dasans Tod und hatte niemandem erzählt, dass ich sein Kind erwarte. Ich ging für den Clan auf eine letzte lange Aufklärungsexpedition, in dem Wissen, dass ich kurz nach meiner Rückkehr niederkommen würde … doch als ich auf meiner Reise am weitesten von Zuhause weg war, rutschte ich in eine Schlucht und brach mir das Bein. Ich wäre beinahe verhungert, was meiner Ansicht nach der Grund dafür ist, dass Ara so klein ist. Erst nach ihrer Geburt war ich in der Lage, zu den Herabregnenden Blättern zurückzukehren.«

»Du bist offensichtlich eine starke Frau.«

Sie schenkte ihm ein weiteres Lächeln, in dem weder Schuldgefühle noch Falschheit lagen.

»Unter den Herabregnenden Blättern gibt es keine Schwächlinge.«

Er winkte Ara zu. »Schön, dich kennengelernt zu haben, Ara.«

Das kleine Mädchen salutierte ihm, doch auf halbem Wege ging ihr Salut in ein Winken über.

Ben drehte sich um und ging nach einem letzten freundlichen Nicken an Halliava zum nächsten Lagerfeuer. Dort würde er sein Täuschungsmanöver fortsetzen, sich mit so vielen Clan-Mitgliedern wie möglich zu unterhalten, um ihre Traditionen besser zu verstehen.

Halliavas Geschichte war unwahrscheinlich, aber möglich. Dasan von den Zerbrochenen Säulen war tatsächlich einen Monat nach der Clan-Zusammenkunft vor sechseinhalb Jahren gestorben, auch wenn sich niemand an seine Heirat mit Halliava erinnern konnte. Jedoch fanden nicht all diese Vereinigungen offiziell statt oder wurden publik gemacht.

Halliava war wirklich drei Monate nach jenem Konklave zu einer langwierigen Aufklärungsmission aufgebrochen und erst Monate später wieder zurückgekehrt, jetzt mit dem Baby Ara in ihren Armen.

Verdammt noch mal! Ben wollte nicht, dass sich sein Verdacht als wahr erwies. Eigentlich mochte er Halliava. Und womöglich irrte er sich. Er würde ein besseres Gefühl dafür gewinnen können, ob er recht hatte, wenn ihm etwas widerfuhr, das ihn seine Nachforschungen einstellen ließ – ein glaubhafter Unfall oder ein Mordversuch.

Er erinnerte sich daran, dass er überleben musste, wenn er seine Ziele erreichen wollte: einer toten Frau Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen und ein Nest von Nachtschwestern zu entlarven.

Von Nachtschwestern und vielleicht auch von Sith, die mit ihnen unter einer Decke steckten.