Aria | Kapitel Dreiundfünfzig
»Bist du endlich fertig?«, fragte Roar. »Das hat ja ewig gedauert.«
Aria kam aus dem Belswan und stieg die Laderampe hinab. »Das war gerade mal eine Stunde, Roar.«
Hinter ihr führten die anderen Ratsmitglieder ihre Gespräche fort. Ihr Vater stritt mit Soren – ein Zustand, der Aria inzwischen schon sehr vertraut war –, während Marron und Molly gelegentlich beschwichtigend eingriffen. Die Sitzung war offiziell beendet, aber es gab noch so vieles zu entscheiden. Im Grunde hörten die Gespräche nie auf.
»Sag ich doch: ewig.« Roar grinste, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Siedlung. »Wie war’s beim Schwimmen?«, fragte er nach einer Weile.
»Gut. Es hilft wirklich enorm.« Seit ihrer Ankunft vor mehreren Wochen waren Perry und sie jeden Morgen gemeinsam schwimmen gegangen. Vor Anbruch der Dämmerung, wenn alle anderen noch schliefen. Die Bewegung hatte deutlich zur Heilung ihrer Verletzung beigetragen, und ihre Hand fühlte sich fast wieder normal an. Aber das Beste an ihren Schwimmausflügen war die Tatsache, dass Perry und sie Zeit füreinander hatten.
Als sie am Tag zuvor vom Strand zurückgekehrt waren, hatte er ihr erzählt, dass das Meer ihn an das Stammesgebiet der Tiden erinnerte und er sich der alten Heimat wieder verbunden fühlte. Es gefiel Aria, dass er seine Gedanken mit ihr teilte. Je mehr sie über Perry erfuhr, desto stärker wuchsen ihre Gefühle für ihn. Die Liebe zu ihm war wunderbar, und Aria fragte sich, ob sie jemals genug davon bekommen würde.
»Irgendwie hab ich den Eindruck, dass du nicht wegen meines unwiderstehlichen Charmes lächelst«, bemerkte Roar und riss Aria aus ihren Gedanken.
»Und ich hab irgendwie den Eindruck, du verbringst zu viel Zeit mit Soren. Du klingst schon fast wie er.«
Roar grinste wieder. »Na ja, Soren klingt nicht mehr wie er selbst. Also muss irgendjemand seine Rolle übernehmen.«
Aria lachte. Roar hatte recht. Nach Hess’ Tod und dem, was sich auch immer zwischen Soren und Brooke entwickelte, hatte sein arrogantes Auftreten deutlich nachgelassen. Inzwischen war Soren nur noch gelegentlich eine Nervensäge.
Während Aria und Roar dem Weg folgten, unterhielten sie sich über alle möglichen Dinge, wie immer leicht und unbeschwert. Als sie sich der Siedlung näherten, hörte Aria das Pochen von Hämmern und laute Rufe. Obwohl sie sich in den letzten Wochen an den Baulärm gewöhnt hatte, erfüllte er sie dennoch jedes Mal mit Hoffnung. Denn er bedeutete, dass Häuser errichtet wurden – eine Heimat.
Ein Teil ihrer Arbeit im Rat bestand in der Entwicklung von Langzeitplänen für die Stadt Cinder. Entwürfe für gepflasterte Straßen, ein Krankenhaus, eine Versammlungshalle. All das wollten sie auf Dauer errichten. Doch im Moment benötigten sie erst einmal ein Dach über dem Kopf. Einen Ort, wo sie nachts ihr müdes Haupt ausruhen konnten.
»Ich kann ihn nirgends sehen«, sagte Roar und schaute sich in der Siedlung um.
»Ich auch nicht.« Um sie herum herrschte eine Stimmung konzertierter Anstrengungen: Überall wurde gegraben, gemauert, ausgehoben und gezimmert, während Flea zwischen den Baustellen herumtrottete, als würde er den Fortgang der Arbeiten überwachen. »Nach dem Schwimmen heute Morgen hat er Talon auf einen Ausflug mitgenommen. Sie werden bestimmt bald zurück sein«, sagte Aria. Dies gehörte nun ebenfalls zu Perrys Tagesablauf – Zeit mit Talon zu verbringen, bei der Jagd, beim Wandern, worauf immer die beiden Lust hatten.
Aria ließ sich auf einer halb errichteten Wand nieder, gezimmert mit Nägeln aus der neuen Schmiede und mit Holzstämmen, die hoch oben in den Bergen geschlagen und dann über den Fluss transportiert worden waren. Irgendwann würde diese Wand einmal eine Außenmauer eines Hauses werden.
Und in diesem Haus würde es ein Obergeschoss mit einem kleinen Mangel geben: einem Riss im Dach, durch das man einen schmalen Streifen des blauen Himmels sehen konnte. Aria hatte das insgeheim mit Marron vereinbart – das Ganze sollte eine Überraschung werden.
Roar ließ sich neben ihr nieder. »Das heißt also, du willst einfach hier auf die beiden warten?«
»Klar.« Aria stieß ihn leicht mit der Schulter an und lächelte. »Das hier ist ein prima Ort zum Warten – das hier ist unser Zuhause.«