Peregrine | Kapitel Sechzehn
Perry erwachte, als er Kirras Stimme hörte.
»Pe-re-grine …« Sie zog seinen Namen wie einen Singsang in die Länge.
Im ersten Moment war alles verschwommen, und er wusste nicht, wo er sich befand.
»Erkennst du mich?« Kirra beugte sich zu ihm hinunter. Dicht und immer dichter, bis Perry nichts außer ihrem Gesicht sah. Sie lächelte ihn an. »Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist. Ich fand es schrecklich, wie wir auseinandergegangen sind.«
Er hatte alles davor schrecklich gefunden – jede Sekunde, die er mit ihr gemeinsam verbracht hatte. Genau das wollte er ihr sagen, aber er konnte nicht sprechen.
Alles schien langsam und laut, als würde er es in einem Zerrspiegel sehen. Kirras Lippen wirkten zu schmal, ihr Gesicht war zu lang. Die Sommersprossen auf ihren Wangen wanderten über ihre Haut, breiteten sich im ganzen Gesicht und auf der Kopfhaut aus, wurden tiefdunkelrot, und plötzlich war sie nicht mehr Kirra.
Sie hatte sich in einen Fuchs verwandelt, mit schwarz glänzenden Augen und spitzen, messerscharfen Zähnen.
Panik ergriff ihn. Er versuchte, den Kopf und seine Arme zu heben, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Seine Glieder waren schwer wie Blei, er konnte nicht einmal blinzeln.
»Ich nehme an, du weißt, dass ich nicht freiwillig bei den Tiden war.«
Er hörte Kirras Stimme, doch sie kam aus dem Maul des Fuchses, der sie mit funkelnden Augen ansah.
»Sable schickte mich, um Cinder zu holen. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass du dich als eine so große Ablenkung entpuppen würdest. Außerdem waren wir gerade dabei, uns besser kennenzulernen. Aber ich tue immer, was Sable von mir verlangt. Das solltest du übrigens auch. Im Ernst. Ich möchte nicht, dass man dir wehtut, Perry.«
Der Fuchs wandte sich ab. »Kann er mich hören, Loran? Er scheint so weit weg zu sein.«
»Ich kann nicht hören, ob er hört, Kirra«, antwortete eine tiefe Stimme. »Dazu sind selbst meine Ohren nicht imstande.«
»Sind die Medikamente nötig? Er ist doch schon an die Pritsche gefesselt. Ich kann nicht einmal seine Stimmung wittern.« Der Fuchs verschwand aus Perrys Blickrichtung. »Wo sind die Maulwurf-Ärzte? Sable wird das auch nicht gefallen.«
Perry hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann entfernte sich Kirras Stimme.
Über sich sah er freigelegte Kabel und Rohre, die kreuz und quer über die metallene Raumdecke verliefen. Sie verschwammen vor seinen Augen, als befänden sie sich unter Wasser.
Da er nichts anderes tun konnte, begann er in der linken Ecke des Raums und prägte sich jede Einzelheit ein.
Er wusste, dass einige Zeit vergangen sein musste, weil Kirra zurückgekehrt war.
»Das ist schon besser«, sagte sie lächelnd. Sie setzte sich auf den Rand der Pritsche, und ihre Hüfte berührte seinen Unterarm. Sie war jetzt wieder sie selbst – kein Fuchs mehr.
»Ich habe dafür gesorgt, dass die Siedler die Dosis reduzieren«, erklärte sie. »Hab ich gern gemacht.«
Perry war jetzt in der Lage zu blinzeln. Sein Kopf war nicht mehr so benebelt wie vorhin, und seine Augen konnten Kirras Bewegungen folgen. Aber seine Gliedmaßen gehorchten ihm noch immer nicht, und er hätte nichts lieber getan, als seinen Arm von Kirras Hüfte wegzunehmen.
Sie schaute über seine Schulter und sagte: »Er sieht schon besser aus. Nicht wahr, Loran?«
Neben der Tür stand ein hagerer Mann, mit einer spitzen Nase und schmalen Augen, die an einen Falken erinnerten. Sein schwarzes Haar war voll und noch nicht ergraut, aber er strahlte Reife und Erfahrung aus. Perry schätzte den Soldaten auf Mitte vierzig. Das Geweih auf seiner Brust war nicht mit den üblichen purpurroten, sondern mit silbernen Fäden gestickt, was vermutlich auf einen höheren Rang in Sables Truppen hinwies.
»Sehr sogar«, bestätigte der Mann.
Nur zwei Worte, aber sie trieften vor Sarkasmus.
Kirra wandte sich wieder zu Perry. »Du warst so nah dran heute Morgen. Ich dachte, du würdest es schaffen. Und ich hatte mich schon so darauf gefreut, deine Gefangene zu sein.« Sie lächelte und kam näher heran. »Ach ja, was deinen Freund betrifft … das ist der Horcher, der zusammen mit Aria geflohen war, stimmt’s? Du hast mir nicht gesagt, dass er so ein Hübscher ist. Obwohl man ihn mit dir nicht vergleichen kann.« Ihr Blick wanderte über seinen Körper. »Falls du dir Sorgen um ihn machst: Das musst du nicht. Er ist in einer Zelle eingesperrt. Zusammen mit Aria.«
Perry kannte ihre Spielchen. Sie stellte seine Unsicherheiten bloß und nutzte sie aus.
»Wahrscheinlich wünschst du dir gerade, dass du dich auf die richtigen Leute verlassen hättest. Mit diesem Problem scheinst du immer wieder zu kämpfen.«
Perry schluckte; seine Kehle war so rau wie Borke. »Dir habe ich nie vertraut, Kirra.«
Sie blinzelte ihn überrascht an, und ihr Lächeln wurde breiter, als sie ihn sprechen hörte. »Ich weiß. Du siehst mich so, wie ich wirklich bin. Deshalb mag ich dich ja so sehr. Du kennst die Wahrheit, aber trotzdem hasst du mich nicht. Na ja, und außerdem siehst du sehr appetitlich aus. Noch mehr, wenn du dich bewegen kannst, aber …«
Sie schwieg, als die Tür aufglitt, und sprang von der Pritsche.
Der Mann, der den Raum betrat, war mittelgroß und kräftig, hatte sehr kurz geschnittenes schwarzes Haar und Augen in der Farbe von Wasser. Um seinen Hals hing eine funkelnde Kriegsherrenkette, deren Saphire und Diamanten auf dem eng anliegenden dunklen Mantel besonders gut zur Geltung kamen.
Sable.
Wut erfasste Perry wie eine Flutwelle. Er war nicht darauf vorbereitet, den Mörder seiner Schwester zu sehen, hatte nicht mit dieser ungeheuren Rage gerechnet. Er wollte Sable die Augen aus dem Kopf reißen, ihm die Finger und jeden einzelnen Knochen im Leib brechen. Aber dieser Drang blieb in seinem gelähmten Körper gefangen und fand kein Ventil. Er hämmerte in seinem Schädel und setzte Erinnerungen an Liv frei.
In seinem Kopf erwachte seine Schwester zum Leben. Sie warf sich die Haare über die Schulter, wenn sie lachte, kitzelte Talon, bis ihm Tränen über die Wangen liefen, knuffte Roar in den Arm wegen eines Scherzes, über den sie sich amüsierten.
Er fühlte sich so schwach, konnte die Erinnerungen nicht fortschieben. Zu seinem Entsetzen stauten sich Tränen hinter seinen Augen.
»Geh jetzt, Kirra«, sagte Sable ruhig. »Loran, bring mir einen Stuhl, und dann kannst du ebenfalls gehen.«
Beide befolgten seine Befehle, ohne zu zögern. Perry wartete darauf, dass Sable sich auf den Stuhl neben der Pritsche setzte und ihm mitteilte, was immer er ihm mitzuteilen hatte.
Aber das tat er nicht.
Mit jeder Minute, die verging, wuchs Perrys Aufregung. Noch immer wirkten die Drogen in ihm, beeinträchtigten sein Denken und machten sein Blut schwer. Er konnte sich nicht gegen seine Gefühle wehren, spürte, wie ihm die Kontrolle über die Realität entglitt, während schreckliche Bilder vor seinem geistigen Auge erschienen: klaffende, blutende Wunden, verbranntes Fleisch, vergiftete Adern – eines schlimmer als das andere.
Er hatte Sable fast vergessen, als sich der Kriegsherr schließlich an ihn wandte.
»Deine Stimmung ist matt, aber was ich wittere, ist wirklich außergewöhnlich. Allerdings glaube ich nicht, dass das nur an mir liegt. Die Arznei, die du bekommen hast, hat eine leicht psychotrope Wirkung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir das besonders gut gefällt. Es war übrigens Hess’ Idee, nicht meine. Damit solltest du demoralisiert werden. Ich habe ihm gesagt, das sei nicht nötig, aber es beunruhigte ihn, dass eure Mission beinahe erfolgreich gewesen wäre. Mich persönlich hat eure Leistung beeindruckt. Ich habe mich umgesehen und weiß: Was ihr getan habt, war nicht leicht.«
Perry zwang sich, nicht darauf zu reagieren. Er würde Livs Mörder nicht den Gefallen einer Antwort erweisen.
Sable trat an die Pritsche und schaute auf ihn herab. Wieder fesselten seine Augen Perrys Aufmerksamkeit. Klar, aber von dunkelblauen Ringen umgeben, studierten sie Perry mit einer Mischung aus eiskalter Berechnung und Amüsement. »Ich bin übrigens Sable.«
Er zog den Stuhl näher heran, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Es war wohl unvermeidlich, dass wir beide uns begegnen, meinst du nicht auch? Ich kannte deinen Vater, deinen Bruder und deine Schwester. Es kommt mir vor, als habe alles hierhergeführt. Zu uns beiden.
Allerdings glaube ich nicht, dass dein Vater viel von mir gehalten hat«, fuhr Sable beiläufig fort, als seien sie alte Freunde. »Wir trafen vor vielen Jahren aufeinander, als wir noch Stammesversammlungen abhielten. Jodan war still und zurückhaltend in Gegenwart von Fremden, ähnlich wie du, aber mit Vale bin ich besser zurechtgekommen.
Dein älterer Bruder war clever und ehrgeizig. Ich habe die Zeit genossen, als er mich besuchte, um die Hochzeit mit deiner Schwester auszuhandeln. Während seines Aufenthalts in Rim führten wir lange Gespräche … Dabei ging es häufig um dich.«
Perry biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat. Er wollte nichts davon hören.
»Vale machte sich deinetwegen große Sorgen. Er fürchtete, du hättest es auf die Kriegsherrenkette der Tiden abgesehen, und bat mich, dich zu mir in mein Haus zu holen, als Teil der Vereinbarungen wegen Olivia. Er wollte dich aus dem Weg haben, Peregrine. Und ich habe eingewilligt. Menschen, die Furcht in anderen erwecken, sind mir besonders lieb. Ich wollte dich unbedingt kennenlernen. Doch kurz darauf erhielt ich einen Brief von Vale, in dem er mir mitteilte, er habe andere Vorkehrungen für dich getroffen. Wir wissen beide, wohin das geführt hat.«
Sable schaute hinauf zur Decke und sog die Luft tief ein. Die Edelsteine an seiner Kriegsherrenkette schimmerten und funkelten. Das grobe Metall der Tiden-Kette – seiner Kette – verblasste dagegen.
»In deiner Situation wäre ich mit Vale genauso verfahren«, gestand Sable. »Verrat ist nicht akzeptabel. Ich bin genauso verfahren, und das bringt mich zu deiner Schwester Olivia.«
Bevor er es unterdrücken konnte, stieg ein gurgelndes Geräusch in Perrys Kehle auf.
Sable zog die Augenbrauen hoch. »Eine frische Wunde? Das ist es für mich auch.« Er nickte und schwieg; ein entrückter Ausdruck trat in seine Augen. »Liv war großartig. Wild. Wenn man in ihrer Nähe war, glaubte man, Feuer zu atmen. Du sollst wissen, dass ich sie gut behandelt habe. Ich wollte nur das Beste für sie …«
Er rutschte an die Stuhlkante und beugte sich näher zu ihm hinab. »Es fällt mir leicht, mit dir zu reden. Nicht nur, weil du so ein guter Zuhörer bist.«
Zuerst dachte Perry, er würde sich über ihn lustig machen, aber Sables Gesichtsausdruck wirkte nachdenklich und entspannt.
»Du bist ein Witterer und ein Kriegsherr«, fuhr er fort. »Du verstehst meine Position wie kein anderer. Und du weißt, wie schwer es ist, vertrauenswürdige Menschen zu finden. Dass es unmöglich ist. Menschen gehen aus den nichtigsten Gründen aufeinander los. Für eine Mahlzeit werfen sie eine Freundschaft über Bord; für einen warmen Mantel rammen sie einander ein Messer in den Rücken. Sie stehlen, lügen und betrügen. Sie gieren nach dem, was sie nicht haben können, und was sie haben, reicht ihnen nicht. Wir sind schwache, bedürftige Kreaturen. Wir sind nie zufrieden.«
Sable kniff die Augen zusammen. »Witterst du es genauso oft wie ich? Die Scheinheiligkeit, den Mangel an Anstand? Es ist unerträglich. Ich bin es so leid, und ich weiß, dass du genauso empfindest.«
»Nein«, widersprach Perry. Er konnte sich nicht länger zurückhalten. »Menschen sind nicht perfekt, aber das bedeutet nicht, dass sie verderben wie Milch.« Seine Stimme war heiser und leise, kaum hörbar.
Sable schaute ihn lange prüfend an. »Du bist noch sehr jung, Peregrine. Mit der Zeit wirst du meine Ansicht teilen.« Er legte eine Hand auf das goldene Geweih auf seiner Brust. »Ich lüge nicht. Als ich Liv erzählte, ich würde ihr die Welt zu Füßen legen, habe ich die Wahrheit gesagt. Ich hatte vor, es zu tun. Und als ich sie dann besser kennenlernte, wollte ich es. Ich hätte ihr alles gegeben, was sie verlangte, wenn sie nur zu mir gestanden hätte.
Ich wusste von deinem Freund Roar. Dein Bruder hat mir von den beiden erzählt, als wir den Handel abschlossen. Als Olivia dann mit monatelanger Verspätung zu mir kam, lange nach der Zeit, auf die Vale und ich uns geeinigt hatten, wusste ich, warum. Ich habe meine Horcher überall, und in jedem Winkel des Waldes dienen mir Seher als meine Augen. Aber Liv kam dennoch zu mir. Sie entschied sich für mich, und das hat sie mir auch gesagt. Ich antwortete ihr, sie müsse sich vollkommen sicher sein, denn sie könne ihre einmal getroffene Entscheidung nicht umkehren. Sie schwor, sie wolle nicht zurück, und versprach, sie gehöre mir.«
Sable beugte sich noch weiter vor und sagte fast flüsternd: »Ich bin ein ehrlicher Mann. Ich hörte, das seist du auch. Ich erwarte das Gleiche von anderen. Du nicht? Ist das zu viel verlangt?«
Antworte nicht, ermahnte Perry sich selbst. Diskutiere nicht. Sag nichts. Gib ihm nicht, was er will.
Sable lehnte sich wieder zurück und schlug die Beine übereinander. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich habe unser Treffen sehr genossen, und ich freue mich auf unsere nächste Unterhaltung – die wir schon bald führen werden.«
Damit erhob er sich. Als er zur Tür ging, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und seine Augen wurden kalt wie der Tod. »Weißt du, Peregrine, du warst nicht der Einzige, den dein Bruder aufs Kreuz gelegt hat: Er versprach mir eine Braut, doch er verkaufte mir eine Hure.«