Peregrine | Kapitel Zwanzig
Die Lautsprecher in der Decke hatten jedes Wort übertragen.
»Ich … ich bin ein Außerirdischer?«, fragte Cinder entsetzt. Der Geruch seiner Furcht erfüllte den Raum.
»Nein. Das hat er nicht gesagt.« Perry zerrte an seinen Fesseln, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Nur zu gern hätte er das Glas zwischen den beiden Räumen zerschlagen, um zu Aria zu gelangen.
Und zu Sable.
Sie hatten nicht nur jedes Wort gehört, sondern auch alles beobachten können, aber Perry wusste, dass man von der anderen Seite nicht in ihren Bereich des Raums sehen konnte. Immer wenn Aria oder Roar hinüberschauten, wanderten ihre Blicke suchend umher, richteten sich aber nie auf ihn oder Cinder.
Cinder zog die Augenbrauen zusammen; er wirkte verzweifelt. »Aber ich hab doch gehört, was dieser Mann gesagt hat. Er hat das Wort außerirdisch benutzt.«
»Er hat außergewöhnlich gesagt und auch das Wort Chamäleon, aber so was bist du doch nicht, oder?«
»Nein. Aber sie haben mich in einem Experiment erschaffen – dieser Teil stimmt.«
»Du selbst hast dich zu dem gemacht, der du bist. Nicht die Wissenschaftler.«
»Er hat gesagt, ich werde mich selbst zerstören. Er hat gesagt, ich werde sterben. Er hat gesagt …«
Cinder verstummte, als Sables Stimme über die Lautsprecher in den Raum drang.
»Wir brauchen Cinder, um die Ätherbarriere zu durchbrechen. Er ist der Einzige, der das kann.«
Aria schüttelte den Kopf. »Nein. Es würde ihn umbringen. Und er wird es für euch nicht tun.«
Sable und Hess sahen einander an. Dann antwortete Sable: »Ich denke, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, dass wir uns nur für deinen zweiten Einwand interessieren. Daher hätte euer ›Besuch‹ hier zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können.«
Dann stand er vom Tisch auf und trat an die Glaswand. »Hess, bitte machen Sie das Ding transparent.«
Die Glasscheibe verlor plötzlich ihre leicht rauchige Tönung – die Perry zuvor gar nicht bemerkt hatte –, und in dem anderen Raum drehten sich zwei Dutzend Köpfe gleichzeitig um.
Ruckartig sprang Aria auf. Angst blitzte in ihren Augen auf – ein Anblick, den er kaum ertragen konnte. »Hess!«, schrie sie. »Was haben Sie getan?«
»Es war eine notwendige Maßnahme.« Hess stand auf und trat zu Sable. »Ihnen wurden Beruhigungsmittel verabreicht, um sie gefügig zu machen. Anders konnten wir den Jungen nicht unter Kontrolle bringen.«
»Das wird sich bald ändern«, verkündete Sable. Er ging an der Glaswand entlang und blieb dann vor Cinder stehen. »Du kannst uns doch hören, oder?«
»Ja«, knurrte Perry und antwortete für Cinder. »Wir können euch hören.«
Sable lächelte, als gefalle ihm Perrys Reaktion. »Gut. Cinder, wie du gerade erfahren hast, bist du der Schlüssel zu unser aller Überleben. Du bist der Einzige, der das Tor zur Blauen Stille öffnen kann. Wir brauchen dich. Damit du uns helfen kannst, darfst du keine Beruhigungsmittel mehr bekommen; du musst zuerst wieder zu Kräften gelangen, um deine Gabe zur Gänze nutzen zu können. Doch wir dürfen nicht zulassen, dass du deine Fähigkeit dazu einsetzt, uns zu schaden, Cinder.«
Damit wandte er sich zu Perry. »Und dabei kannst du helfen. Nach dem, was Kirra mir erzählt, hat Cinder schon einmal sein Leben für dich riskiert. Er schaut zu dir auf und wird tun, was du sagst.«
Perrys Blick wanderte zu Kirra. Vor zwei Wochen hatte Cinder den Äther zurückgehalten, damit die Tiden sicher in die Höhle gelangen konnten. Sie war dabei gewesen und musste es Sable berichtet haben.
»Cinder muss das Gleiche für uns tun, was er für euch getan hat«, fuhr Sable fort. »Und dafür brauchen wir deine Hilfe: Halte den Jungen bei der Stange, wenn er von den Beruhigungsmitteln entwöhnt wird. Ermutige ihn zur Kooperation. Er hat die Möglichkeit, Leben zu retten. Er kann ein Held werden, Peregrine. Ein Märtyrer.«
»Ein Märtyrer?«, flüsterte Cinder neben ihm. Seine Stimme zitterte vor Angst.
»Er ist doch noch ein Kind!« Die Worte drangen aus Perrys Mund, bevor er sie aufhalten konnte.
»Er ist dreizehn«, bemerkte Kirra spöttisch. »Also wohl kaum noch ein Kind.«
»Ihr habt keinerlei Druckmittel«, stellte Hess klar. »Wir haben alle Fäden in der Hand.«
Das traf zu. Sie hatten Roar und Aria in ihrer Gewalt und konnten ihn dadurch zwingen, sich zu fügen. Dennoch durfte er nicht zustimmen.
Neben ihm begann Cinder zu weinen. »Ich kann nicht!« Er schaute Perry an. »Du weißt, was dann mit mir passiert.«
Perry wusste es nur zu genau: Beim letzten Mal, als Cinder den Äther gerufen hatte, hatte er dabei fast sein Leben verloren. Was Sable nun von ihm verlangte, würde seinen sicheren Tod bedeuten.
Als Kriegsherr hatte er Menschen, die ihm am Herzen lagen, zum Wohle des Stammes in Gefahr bringen müssen, aber das hier … ein Opfer? Das konnte er nicht von Cinder verlangen.
»Er wird für keinen von euch etwas tun«, sagte Perry entschieden und schaute von Hess zu Sable. »Genauso wenig wie ich.«
Wieder war Sables Stimme über die Lautsprecher zu hören. Er klang ein wenig selbstgefällig, als er sagte: »Wir werden es auf meine Art versuchen müssen.« Dann hob er eine Hand und fuhr fort: »Cinder, ich möchte, dass du über folgende vier Worte nachdenkst: Ist es das wert?
Wenn du zu fliehen versuchst oder deine Fähigkeiten gegen uns einsetzt, dann solltest du dir diese Frage stellen. Du solltest an Peregrine denken – an Perry da neben dir – und dir überlegen, wie viel er dir bedeutet. Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn er deinetwegen leiden müsste. Denn das wird er, wenn du nicht genau das tust, was ich sage … und mit ihm wird es nicht aufhören.
Aria. Roar. Selbst das Mädchen bei den Tiden, von dem Kirra sagt, dass du es so gerne magst. Ich habe sie alle in meiner Hand. Und ich glaube nicht, dass du ihre Schmerzen – oder ihr Blut – auf dem Gewissen haben willst. Aber wenn du uns hilfst, wird deinen Freunden nichts geschehen. Ich nehme sie alle mit auf die Reise zur Blauen Stille, wo sie unter meinem Schutz leben werden. Das sollte eigentlich unmissverständlich sein, meine ich. Hast du alles verstanden?«
»Ja«, seufzte Cinder.
»Sehr gut.« Sables Augen funkelten. »Dann will ich dich noch einmal fragen: Wenn du dich wieder erholt hast, wirst du dann genau das tun, was ich dir sage? Kann ich dir vertrauen, dass du mir gehorchst, Cinder? Wirst du deine Kraft in meinen Dienst stellen?«