Aria | Kapitel Neunzehn

Aria starrte auf die schwarze Glaswand. Sie konnte nicht hindurchschauen, aber sie wusste, dass Perry dort auf der anderen Seite war.

»Was geht hier vor, Hess?«, fragte sie.

Hess faltete die Hände auf der Tischplatte und ignorierte sie.

Loran zog sie zum Tisch. »Hinsetzen.« Er drückte sie auf einen Stuhl und befahl Roar, neben ihr Platz zu nehmen. Aria spürte, dass Roar sie genau beobachtete und dass ihr Atem rasend schnell ging. Sie musste sich beruhigen, sich zusammennehmen.

Auf der anderen Seite des Tisches saß Soren neben seinem Vater. Er hatte frische Kleidung bekommen und seine nassen Haare nach dem Duschen zurückgekämmt, aber ihr fiel auf, wie eingesunken seine breiten Schultern waren und wie erschöpft sein Gesicht wirkte. Man hatte ihn zurechtgemacht, aber er schien unendlich müde zu sein.

Als sich ihre Blicke trafen, zuckte er entschuldigend die Achseln. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er sie verraten und sich mit Hess verbündet?

Ihr Blick wanderte hinüber zu Hess, und sie spürte, wie der Abscheu in ihr wuchs. Seine kantigen Gesichtszüge wirkten jetzt noch strenger, als sie sie in Erinnerung hatte, seine Augen schmaler und noch leerer. Andererseits hatte sie ihn in den Monaten zuvor auch nur durch ihr Smarteye in den Welten erlebt.

Bei diesen Treffen hatte er meist legere Kleidung getragen, gelegentlich einen Anzug und hin und wieder informelle Militärkleidung. Jetzt war er in eine imposante, beeindruckende Uniform gekleidet, mitsamt Ordensbändern und Rangabzeichen an Kragen und Ärmelaufschlägen.

Vier Wachen kamen durch die Tür, bewaffnet mit Gewehren, Pistolen und dem Elektroschocker, mit dem sie Perry und Roar ausgeschaltet hatten.

Furcht ergriff sie beim Anblick der vielen Waffen.

»Ist Perry da drin?«, fragte sie, so laut es ihre Kräfte erlaubten. »Warum sind wir hier?«

Dann betrat Sable den Raum, und ihre Stimmbänder versagten den Dienst.

Wenn Hess überhaupt keine Notiz von ihr genommen zu haben schien, so galt das nicht für Sable. Er lächelte und sagte: »Hallo, Aria. Schön, dich zu sehen. Ja, Cinder und Peregrine sind dort drüben. Du wirst sie schon bald wiedersehen.«

Sie wollte sich wieder zu der Glaswand umdrehen, aber Sable fixierte sie mit seinem Blick. Wieder spielten sich die letzten Sekunden auf dem Balkon in Rim vor ihrem geistigen Auge ab: Liv, die rückwärtstaumelnd auf den Steinen landete, den Bolzen von Sables Armbrust im Herzen.

»Ich glaube, jetzt sind alle da«, stellte Sable fest. »Wollen wir anfangen?« Kirra glitt auf den Sitz neben ihm und winkte Aria kurz zu.

Roar starrte Sable an, die gefesselten Hände zu Fäusten geballt.

»Als Erstes sollten wir über die Blaue Stille sprechen«, meinte Sable, »deswegen sind wir schließlich hier. Es dürfte hilfreich sein, wenn alle am Tisch die Herausforderungen kennen, denen wir auf dem Weg dorthin begegnen werden.«

»Warum sollte ich glauben, dass ihr überhaupt wisst, wo sie sich befindet?«, wandte Aria ein. »Warum sollte das irgendjemand von uns tun?«

Sable lächelte; seine hellen Augen zeigten keine Regung. Sie konnte nicht sagen, ob ihre Unterbrechung ihm gefallen oder ihn wütend gemacht hatte.

In seinem eng anliegenden schwarzen Mantel, mit der funkelnden Kriegsherrenkette um den Hals, schien er voller Tatendrang und vollkommen Herr der Lage zu sein. Dagegen wirkte Hess an seiner Seite eigentümlich sanft, fast schon harmlos.

»Dann beginne ich am besten damit, wie ich von der Blauen Stille erfahren habe, und lasse euch selbst entscheiden, ob ihr mir glaubt oder nicht. Vor drei Jahren geriet eines meiner Handelsschiffe, die Colossus, in einen heftigen Sturm und wurde aufs Meer hinausgetrieben. Die meisten Besatzungsmitglieder kamen dabei leider ums Leben, doch zwei Deckshände überlebten. Sie waren unerfahrene Seeleute, zufälligerweise beide Seher, und trieben wochenlang hilflos dahin, bis sie auf etwas schier Unglaubliches stießen.

Wir alle kennen die Äthertrichter, aber was diese Männer beschrieben haben, übertrifft das bei Weitem. Sie berichteten von einer Wand, vielmehr einem Wasserfall aus Äther. Eine Barriere, die vom Himmel herabfließt, sich endlos über den Horizont erstreckt, so weit das Auge reicht. Ein erstaunlicher Anblick, aber kein Vergleich mit dem, was dahinterliegt. Auf der anderen Seite sahen diese jungen Männer, durch kleine Lücken im Ätherstrom, einen klaren blauen Himmel. Keine Spur von Äther.«

»Wo sind diese Männer?«, fragte sie.

»Nicht länger verfügbar.« Sable breitete die Hände aus – eine eindeutige Geste. »Ich musste dieses Wissen schützen.«

Er war völlig skrupellos, gab ganz offen zu, dass er die Seeleute umgebracht hatte, ohne die geringste Reue zu zeigen. Aria schaute sich am Tisch um. Niemand schien überrascht.

»Sie glauben diese Geschichte einfach so, ohne Beweise?«, fragte sie Hess.

»Sie erhärtet unsere Theorien.«

»Welche Theorien?«, hakte sie nach. Endlich gab es Informationen. Sie wollte alles wissen.

Sable nickte Hess zu, der die Frage beantwortete. »Es handelt sich unter anderem um eine seit Langem bekannte Theorie, welche die Störung des Erdmagnetismus mit dem Aufkommen des Äthers in Zusammenhang bringt. Norden und Süden, die magnetischen Pole, begannen sich zu verschieben und setzten damit einen Prozess in Gang, der noch längst nicht beendet ist. Aber man nimmt an, dass bei diesem Prozess magnetische Taschen entstehen und sich ähnlich miteinander verbinden wie Wassertropfen. Wir glauben, dass die Blaue Stille eine dieser Taschen ist: ein Magnetfeld, das den Äther fernhält. Was diese beiden Männer gesehen haben, war die Grenze – ein Ätherstrom, der so weit wie möglich in diesen Bereich vorgedrungen ist und sich dort zu einer Mauer verdichtet hat.«

»Warum wussten wir das nicht vorher?«, fragte Aria zornig.

»Diejenigen, die es wissen mussten, wussten es«, stellte Hess klar. »Und dieses Wissen führte zu nichts. Wir haben intensive Forschungen betrieben, aber nichts herausgefunden. Schließlich gaben wir die Idee auf.«

Es gab so viel zu begreifen und einzuordnen. Arias ganzer Körper war wie betäubt. »Und was ist mit dem Plan, die Barriere zu durchbrechen?«

Hess schaute zu der Glaswand. »Es ist uns nicht gelungen, den Äther mit technologischen Mitteln zu kontrollieren. Andere Ansätze, biologischer Art etwa, könnten möglicherweise noch Erfolg haben. Der Zentralrat Grüne Biosphären – die Forschungsgruppe, zu der deine Mutter gehörte – hatte hauptsächlich zum Ziel, das Erbgut so zu verändern, dass ein Leben in den Biosphären langfristig möglich war. Aber der ZGB führte daneben auch einige experimentelle Projekte durch. Bei einigen dieser Forschungsprogramme, etwa zur Immunsteigerung, ging es darum, uns außerhalb der Biosphären wieder lebensfähig zu machen. Andere Projekte wiederum befassten sich mit der Evolutionsbeschleunigung.«

Da ihre Mutter Genforscherin gewesen war, wusste Aria bereits, worauf das Ganze hinauslief. Für die anderen fuhr Hess mit seiner Erklärung fort.

»Der ZGB wollte Menschen mit einer hohen genetischen Plastizität, also einer extrem formbaren dann, schaffen, die sich rasch an jede Umgebung anpassen können. Mit anderen Worten: Chamäleons, die sich auf der Zellebene verändern, an jede außergewöhnliche Atmosphäre anpassen können und unter allen Bedingungen lebensfähig sind.«

Während Hess sprach, gab Sable einem seiner Männer, der an der Tür stand, ein Zeichen. Daraufhin betraten Soldaten der Hörner den Raum und postierten sich entlang der Wand. Kurz darauf folgten die Wachen von Hess. Beide Gruppen schienen sich in diesem Raum unbehaglich zu fühlen.

»Der ZGB hatte bereits Außenseiter gesehen, die diese Form der beschleunigten Evolution durchlaufen hatten und sich durch verbesserte sensorische Fähigkeiten auszeichneten.« Hess schaute zu Roar. »Aber was mit dem Programm erreicht wurde, übertraf alle Erwartungen: Die Testpersonen passten sich nicht nur an den Äther an, der Äther passte sich auch ihnen an.«

Er unterbrach sich kurz, und für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Stille im Raum. Aria hörte nur ein Klingeln in den Ohren. Als er weitersprach, begann sie, Wachposten, Soldaten und Waffen zu zählen.

»Nach kurzer Zeit wurde das Projekt als gescheitert erachtet. Es gab Unsicherheiten, die nicht zu erklären waren. Wie immer, wenn ein Problem gelöst wird, besteht die Möglichkeit, dass sich daraus weitere Probleme ergeben. Die Wissenschaftler hatten zwar herausgefunden, wie sie Menschen mit dynamischem Erbgut schaffen konnten, aber sie wussten nicht, wie sie diese Dynamik wieder eindämmen konnten. Die Versuchspersonen verschieden wenige Jahre nach ihrer Erschaffung. Sie waren nicht lebensfähig. Sie … zerstörten sich selbst.«

Wieder schaute Hess zu der Glaswand und sagte dann: »Alle bis auf einen.«