Aria | Kapitel Neun
Sie verabredeten folgenden Plan: Mittels einer fingierten Nachricht an den Dragonwing würden sie darum bitten, eine Patrouille zu schicken, um der Besatzung eines abgestürzten Belswan zu helfen – also ihnen.
Wenn der Befehl von einem Siedler-Kommandanten kam, erklärte Aria, würden die Piloten keinen Grund haben, ihn zu überprüfen. Sobald die Patrouille am Belswan eintraf, würde sie in einen Hinterhalt geraten. Die Gruppe musste dann die Crew überwältigen, das Patrouillenschiff übernehmen und, verkleidet als reguläre Besatzung, zum Komodo zurückkehren.
Genau so war Aria auch in Bliss eingedrungen, auf der Suche nach ihrer Mutter: Sie hatte die Uniform einer Wache angezogen und war einfach durch das Haupttor spaziert.
Warum gegen den Feind kämpfen, wenn man ihn an der Nase herumführen konnte?
»Das gefällt mir«, sagte Roar, als sie mit ihrer Erklärung fertig war. »Das ist ein verdammt guter Plan.«
Aria fing seinen Blick auf und lächelte ihn dankbar an.
»Auf diese Art würden wir sehr nah herankommen«, stimmte Perry zu und nickte. »Näher als mit allen anderen Möglichkeiten, die wir haben.«
Aria schaute zu Soren hinüber, der gedankenverloren in die Ferne starrte. Sie fragte sich, was er von diesem Plan hielt.
»Es hängt alles von dir ab«, sagte sie. »Das Ganze funktioniert nur, wenn du in das Kommunikationssystem des Komodo eindringen kannst.«
Soren sah sie an und nickte. »Das kann ich. Kein Problem.«
Daran hatte sie nie gezweifelt. Trotz all dem Ärger, den er machte, besaß Soren eine einzige Fähigkeit, auf die sie sich noch immer hatte verlassen können. In gewisser Hinsicht hatte damit auch alles angefangen.
Soren stand auf. Der entrückte Ausdruck in seinen Augen war verschwunden, und er schien es gar nicht abwarten zu können, sich an die Arbeit zu machen. »Ich werde eine Schwachstellenanalyse der Angriffsoberfläche des Komodo durchführen.«
Aria hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Nach den ausdruckslosen Gesichtern um sie herum zu urteilen, war sie nicht die Einzige.
Soren rollte mit den Augen, hob eine Hand und bewegte die Finger hin und her. »Du weißt schon, das Sicherheitssystem ein wenig befummeln, um herauszufinden, womit ich es zu tun habe.«
Jupiter lachte prustend, verstummte aber sofort, als Perry aufstand.
»Äh, ’tschuldigung«, sagte Jupiter.
Aria hatte ganz vergessen, wie gebieterisch Perry auf andere wirkte. Wenn er wollte, konnte er Menschen mit einem Blick zum Schweigen bringen.
»Mach dich an die Arbeit, Soren«, befahl er und wandte sich dann an Brooke und Roar. »Lasst uns draußen anfangen. Ich will, dass das ganze Terrain abgesucht wird. Wenn wir sie in die Falle locken wollen, müssen wir den besten Platz dafür finden.«
Brooke schaute Soren an und bewegte ebenfalls die Finger ihrer ausgestreckten Hand hin und her. »Das bedeutet, dass wir die Gegend ein wenig befummeln werden, Siedler. Herausfinden, womit wir es zu tun haben.«
Soren ließ Brooke nicht aus den Augen, während sie ihren Bogen nahm und zusammen mit Perry und Roar das Hovercraft verließ.
»Wie war noch gleich ihr Name?«, erkundigte er sich, als sie fort war.
Aria stand auf und versuchte, ein Lächeln zu verbergen. »Laurel«, sagte sie aus einer Laune heraus. Soren ärgerte jeden in seiner Umgebung – sollte er zur Abwechslung mal das Opfer sein. »Ich glaube, sie mag dich, Soren.«
Damit marschierte sie ins Freie.
Perry schnallte sich gerade ein schwarzes Holster um, in dem eine Siedler-Pistole steckte. Seine Bewegungen wirkten völlig selbstverständlich, obwohl es kaum eine Woche her war, dass er zum ersten Mal eine solche Waffe in der Hand gehalten hatte. Sein Bogen und sein Köcher lagen ebenfalls vor ihm. Aria lächelte. Statt eine Waffe aus ihrer oder seiner Welt zu wählen, hatte er sich für beide entschieden.
»Brauchst du mich?«, fragte sie. Sie konnte das Gelände mindestens ebenso gut auskundschaften wie Roar und Brooke, die bereits in der Dunkelheit verschwunden waren.
Perry blickte auf. Er hatte seine Haare mit einem Lederband zurückgebunden, aber eine Strähne hatte sich gelöst und fiel ihm ins Gesicht – eine blonde Welle, die auf seiner Braue lag. »Willst du eine ehrliche Antwort?«
Aria machte sich auf einen Kommentar über ihren Arm gefasst. »Immer«, sagte sie.
»So lautet auch meine Antwort. Aber vermutlich ist es besser, wenn du hierbleibst und alles im Auge behältst.« Er grinste, während er sich Bogen und Köcher über die Schulter hängte. »Ich würde es ja selbst tun, aber ich habe Angst, meine Faust könnte sich in Sorens Gesicht verirren.«
Während sie ihm nachschaute, wurde sie das Gefühl nicht los, dass er sich viel zu schnell verabschiedet hatte. Dabei hatte er doch gerade noch gesagt, dass er sie immer brauchte. Warum konnte sie sich nicht auf diesen Gedanken konzentrieren?
Als er den Waldrand erreichte, rief sie ihm nach: »Sei vorsichtig!«
Es war nicht nötig, ihn daran zu erinnern. Sie tat es nur, um Zeit zu gewinnen und ihm noch ein paar Sekunden länger nahe zu sein.
Er drehte sich im Gehen um und legte eine Hand auf sein Herz.
Soren hatte im Cockpit inzwischen sein Smarteye angelegt.
»Ich habe es aus Reverie mitgenommen«, erklärte er. »Ich dachte mir schon, dass es noch einmal nützlich sein würde. Immer gut, so etwas zur Hand zu haben.«
Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und schürzte die Lippen, denn die Wahl seiner Worte gefiel ihr nicht.
Wenn es nützlich war, etwas zur Hand zu haben, was sagte das dann über sie aus – mit ihrer lahmen Hand?
Soren fasste ihren Gesichtsausdruck falsch auf und dachte, sie hätte etwas dagegen, dass er das Smarteye benutzte. »Ich brauche es nicht unbedingt. Aber ich kann zehnmal schneller arbeiten, wenn ich es anlege.«
»Ich weiß«, sagte sie und ließ sich in den Sessel neben ihm fallen. »Schon in Ordnung. Benutze, was immer du für richtig hältst.«
Aria beobachtete ihn eine Zeit lang. Während er bei der Steuerung des Belswan hektisch an den Instrumenten herumhantiert hatte, wirkte Soren bei der Arbeit mit dem Smarteye ruhig und konzentriert. Er schien ein ganz anderer Mensch zu sein, wenn er einer Aufgabe nachging oder ein Rätsel zu lösen hatte.
Sie starrte durch die Windschutzscheibe auf die Bäume, die vom Wind hin und her gepeitscht wurden, und ein Gefühl der Angst breitete sich in ihr aus. In diesen Wäldern lauerten Gefahren – Banden gewalttätiger Versprengter; Ätherstürme, die plötzlich losbrachen. Sie bekam das Bild von Perry, der sie ansah und dabei die Hand auf sein Herz legte, nicht mehr aus dem Kopf.
Rastlos verließ sie das Cockpit und kramte im hinteren Lagerraum nach Feldrationen – abgepackten Fertiggerichten. Für sich und Jupiter suchte sie Spaghetti heraus, Soren warf sie eine Portion Hackbraten zu.
Dann hockte sie sich oben auf die Rampe, damit sie sehen konnte, wenn Perry, Roar und Brooke zurückkehrten. Die Bäume schwankten, und ihre Äste knackten, während der Wind immer mehr auffrischte.
»Dieser Wald sieht irgendwie seltsam aus«, bemerkte Jupiter, als er sich zu ihr gesellte.
»Das liegt daran, dass er echt ist.«
Jupiter warf den Kopf zur Seite, um sich die fransigen Haare aus der Stirn zu schütteln. »Stimmt … da ist was dran.«
Beide schwiegen, und Aria bemerkte plötzlich, wie angestrengt sie versuchte, im dunklen Wald irgendetwas zu entdecken. Warum waren sie noch nicht wieder zurück?
Sie aß langsam, obwohl ihr Magen knurrte. Die Schmerzen in ihrem Arm hatten zugenommen und verursachten ihr Übelkeit, außerdem war es gar nicht so einfach, nur mit der Linken zu essen. Und dass die Feldration kaum besser schmeckte als Dreck, machte das Ganze auch nicht besser.
Jupiter hatte seine Mahlzeit bereits beendet und sich zwei Zweige gesucht, die er als Trommelstöcke benutzen konnte. »Singst du noch?«, erkundigte er sich und begann, auf dem Rampenboden einen Rhythmus zu spielen.
»Nicht sehr oft. Ich war in letzter Zeit ziemlich beschäftigt.«
Aria erkannte den Beat von »Winged Hearts Collide«, Roars Lieblingssong von den Tilted Green Bottles, aber sie spürte kein Verlangen zu singen. Das metallische Scheppern dröhnte in ihren Ohren. Es schien, als würden diese Zweige gegen ihr Gehirn schlagen, und sie konnte nicht aufhören, an Roar zu denken und sich um ihn zu sorgen.
»Zu schade. Deine Stimme ist echt mega.«
»Danke, Jup.«
Jupiter unterbrach kurz den Rhythmus und rieb sich das rechte Auge, als vermisse er das Smarteye, das früher dort gesessen hatte. »Meinst du, Rune geht es gut? Und Caleb und den anderen?«
Sie nickte und musste an Molly denken. »Sie sind in guten Händen.«
Aria hörte sich selbst und zuckte zusammen. Kamen denn in jeder Redewendung irgendwelche Hände vor?
»Du kennst doch Beethoven, nicht wahr?«, fragte Jupiter. »Er war taub – zumindest so gut wie – und musste ein Hörrohr benutzen. Das geht mir irgendwie nicht aus dem Kopf. Wenn er das konnte, dann sollte ich doch auch in der Lage sein, damit zurechtzukommen.«
»Womit?«
»Dass es keine Welten mehr gibt. Ich versuche immer wieder, mich zu bilokalisieren. Jedes Mal denke ich, dass mein Smarteye nicht richtig funktioniert. Es kommt mir vor, als sei ich irgendwie taub geworden: Da fehlt einfach ein riesiges Stück. Dann fällt mir ein, dass wir nichts anderes mehr haben: Die Realität ist alles, was übrig geblieben ist.«
»Du wirst dich daran gewöhnen.«
Jupiter hörte auf zu trommeln. »Tut mir leid. Ich wollte mich nicht beschweren oder undankbar klingen oder so.«
»Undankbar?«
»Schließlich hast du mir das Leben gerettet.«
»Du hast nicht undankbar geklungen. Und du schuldest mir überhaupt nichts. Du musst dich nicht auf eine bestimmte Art verhalten.«
Beklommenheit lag in ihren Worten: Eigentlich hatte sie ihn beruhigen wollen, doch nun klang es so, als würde sie mit ihm schimpfen. Aria schaute nach unten, um ihren Gesichtsausdruck zu verbergen, und nahm plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Die Finger ihrer verletzten Hand zuckten, ganz ohne ihr Zutun.
Sie versuchte, die Faust zu ballen, in der Hoffnung, dass die Hand langsam heilte. Stattdessen musste sie feststellen, dass sich ihre Finger jetzt gar nicht mehr bewegten. Ihre Hand schien nicht mehr zu ihr zu gehören.
Tränen verschleierten ihren Blick, und sie konnte nicht mehr klar denken.
Sie sprang auf, rannte die Rampe hinunter und tauchte in die Nacht ein.