Peregrine | Kapitel Vierzig
Die Luke schloss sich in dem Moment, als Perry in das Hovercraft stieg – ferngesteuert von irgendeinem unbekannten Siedler-Piloten unter Sables Kommando.
Er ließ sich in den Pilotensitz sinken und konzentrierte sich auf seine Atmung. Einfach nur ein- und ausatmen – und nicht über das nachdenken, was gerade passiert war. Im Sitz neben ihm umklammerte Cinder die Armlehnen so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten, während er durch die Windschutzscheibe starrte.
»Da seid ihr ja, Peregrine.« Sables Stimme dröhnte durch das enge Cockpit. »Ich kann euch beide sehen, aber man hat mir gesagt, dass ihr mich nur hören könnt.«
Perry rieb sich mit der Hand übers Gesicht, setzte sich auf und zwang sich, sich zusammenzureißen. »Ich kann dich hören«, erwiderte er und fragte sich, ob Roar und Aria ebenfalls in Sables Cockpit saßen und alles mitbekamen, doch er bezweifelte es.
Ihr Hovercraft stand am Rand des Steilufers. Vor ihnen lagen etwa fünfzig Meter struppiges Gras und dahinter der Himmel. Feuerroter Ätherhimmel. In Gedanken sah Perry sich und Cinder mit dem Luftkissenfahrzeug über die Klippen hinausschießen und in den Abgrund stürzen. Er musste sich zwingen, an etwas anderes zu denken.
Durch die Lautsprecher drangen gedämpfte Stimmen verschiedener Piloten zu ihnen ins Cockpit, während sie die Startkommandos durchgingen. Und dann setzten sich die anderen Hovercrafts der Reihe nach in Bewegung. Als schließlich auch ihr Dragonwing mit einem Ruck vom Boden abhob, schnappte Cinder keuchend nach Luft und riss die Augen weit auf.
Perry musste schlucken, obwohl sein Mund wie ausgetrocknet war. »Schnall dich an«, sagte er.
Nicht gerade die tröstlichsten Worte, die ihm je über die Lippen gekommen waren, aber zu mehr war er im Augenblick nicht in der Lage.
Cinder warf ihm einen Blick zu und runzelte die Stirn. »Und was ist mit dir?«
Perry schaute an sich hinab, fluchte unterdrückt und schnallte sich ebenfalls an.
Die Luftkissenfahrzeuge schossen nicht über die Felskante hinweg, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern drehten nach Süden und flogen parallel zur Küste, dicht über dem Pfad zum Dorf, den Roar und er am Tag zuvor noch entlanggegangen waren.
Als die Flotte sich zu einem Schwarm gruppierte, stellte Perry fest, dass ihr Hovercraft das Schlusslicht bildete. Sein Blick wanderte zu dem Belswan an der Spitze.
Talon. Aria. Roar. Marron. Reef und die restlichen der Sechs.
Er konnte einfach nicht aufhören, ihre Namen wieder und wieder durchzugehen. Sie saßen alle in diesem Luftkissenfahrzeug. Sable hatte die Menschen, die Perry am nächsten standen, herausgepickt und zu sich in den Belswan geholt. Bei dem Gedanken, dass sie sich nun in Sables Gewalt befanden, fühlte sich Perry wie gelähmt.
Innerhalb weniger Minuten kam sein Dorf in Sicht, leicht erhöht in einer Dünenkette. Es war noch immer sein Land, trotz der Äthertrichter und der Feuersbrunst, die sich entlang der Hügel zog. Und er spürte noch immer, wie es nach ihm rief – allerdings mit einer Stimme, die er nicht mehr erkannte.
»Hab ich dir schon mal erzählt, dass mein Haus in Rim größer war als dein gesamtes Lager?«, fragte Sable durch den Lautsprecher.
Ein Seitenhieb, den Perry jedoch an sich abprallen ließ. Sein Haus hatte ihm immer genügend Platz geboten. Selbst als die Sechs auf dem Boden geschlafen und den Wohnraum von Wand zu Wand ausgefüllt hatten, war für alle ausreichend Platz gewesen.
»Du willst also Größen vergleichen, Sable? Ich wette, ich gewinne.«
Perry wusste nicht, warum er das gesagt hatte. Prahlen gehörte eigentlich nicht zu seinen typischen Eigenschaften – das fiel eher in Roars Gebiet. Aber Cinder sah ihn von der Seite an und grinste, also war es das wert gewesen.
»Wirf noch mal einen letzten Blick auf dein Land«, wechselte Sable das Thema.
Perry schaute aus dem Fenster. Während die Flotte über das verlassene Dorf flog, versuchte er, sich möglichst viel einzuprägen – sehnsüchtig, nostalgisch und verwundert über diese vollkommen neue, überwältigende Sicht auf den Ort, an dem er seit seiner Geburt gelebt hatte.
Nachdem sie das Lager überquert hatten, drehten die Hovercrafts nach Westen, nahmen Geschwindigkeit auf und legten den halbstündigen Fußmarsch durch die Dünen zum Meer innerhalb weniger Sekunden zurück.
Der Strand, an dem Perry gehen und angeln und küssen gelernt hatte, bildete eine verschwommene Linie aus beigebraunen und weißen Flächen, die im Nu verschwunden waren – und dann folgte nur noch Wasser. Nichts als Wellen, so weit Perry sehen konnte.
Diese Reise verlief vollkommen anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Jahrelang hatte er davon geträumt, mit den Tiden über Hügel zu ziehen oder Wüsten zu durchqueren, immer auf der Suche nach der Blauen Stille. Er hatte eine lange Reise über Land erwartet und nicht das Stahlblau des Ozeans unter ihnen und die grell leuchtenden Ätherströmungen über ihnen.
»Ich weiß nicht, warum du mit mir mitkommst«, sagte Cinder und riss Perry damit aus seinen Gedanken.
Perry schaute zu ihm hinüber. »Doch, das weißt du sehr wohl.«
Er hatte Cinder sein Gespräch mit Sable im Strategieraum erklärt, obwohl der Junge längst Bescheid gewusst hatte. Cinder hatte bereits vorher beschlossen, den Tiden zu helfen, und es Perry auch mitgeteilt. Seit dem Moment, als er Sables Druck im Komodo nachgegeben hatte, war er bereit gewesen.
Doch jetzt stiegen ihm die Tränen in die Augen. »Weißt du noch, wie ich dir die Hand verbrannt habe? Und wie du gesagt hast, das seien die schlimmsten Schmerzen, die du je erlebt hättest?«
Perry blickte auf seine Narben und dehnte seine Finger. »Ja, das weiß ich noch.«
Danach sagte Cinder nichts mehr. Er drehte sich wieder nach vorn und starrte aus dem Fenster, aber Perry wusste genau, woran er gerade dachte. Cinders Gabe war eine wilde, ungezügelte Fähigkeit. Natürlich versuchte er, sie im Griff zu behalten und zu steuern, doch das gelang ihm nicht immer.
Perry wusste nicht, ob sie beide die nächsten Stunden überleben würden. Er war ein paarmal dabei gewesen, als Cinder den Äther in andere Bahnen gelenkt hatte. Aber dieses Mal würde das Ganze völlig anders ablaufen – so viel stand fest.
»Ich möchte hier bei dir sein, Cinder. Wir werden das gemeinsam durchstehen, okay?«
Cinder nickte, aber seine Unterlippe zitterte.
Erneut kehrte Stille ein, nur durchbrochen vom Vibrieren des Dragonwing und dem Dröhnen der Motoren. Der Ozean erschien endlos, hypnotisierend. Während sie Meile für Meile zurücklegten, stellte Perry sich vor, wie er allein auf die Jagd ging. Wie er Talon kitzelte, bis dieser vor Lachen Schluckauf bekam. Wie er mit Roar eine Flasche Luster teilte. Wie er Aria küsste und sie unter seinen Händen atmen, seufzen, beben fühlte.
Perry war tief in Gedanken versunken, als er plötzlich einen dünnen, hell leuchtenden Streifen am Horizont entdeckte.
Ruckartig setzte er sich auf: die Ätherbarriere, daran bestand kein Zweifel.
»Siehst du das auch?«, fragte Cinder in dem Moment.
»Ja, ich seh es.«
Mit jeder Minute, die verstrich, gewann das Lichtband an Höhe und Tiefe, bis Perry sich fragte, wie er es jemals für einen dünnen Streifen hatte halten können. Er kniff die Augen zusammen, um sie gegen das grelle Licht zu schützen. Die Barriere erschien endlos: Gewaltige Äthersäulen wanden sich vom Himmel herab, stiegen anschließend jedoch gleich wieder auf, wie in einem Kreislauf. Die Strömungen bildeten einen Vorhang, der höher und breiter war als alles, was Perry bis dahin gesehen hatte. Sie erstreckten sich nahtlos in alle Richtungen – als würde der Ozean bis zum Himmel hinaufgezogen.
Das Hovercraft verringerte seine Geschwindigkeit, und Cinder stieß ein leises Wimmern aus.
Etwa zwanzig Meter unter ihnen wirbelte der Äther das Meer zu tosenden Strudeln auf. Jeder Versuch, die Barriere in Booten zu überwinden, wäre glatter Selbstmord gewesen. Ohne die Hovercrafts wären sie nun verloren.
Perry konnte nur wenig jenseits der Ätherbarriere erkennen; er hatte das Gefühl, durch Flammen oder perlendes Wasser schauen zu wollen. Aber gelegentlich riss der Vorhang auf und erlaubte einen kurzen Blick auf die dahinterliegende Welt. Perry sah, dass das Meer dort eine ganz andere Farbe besaß.
Die Wogen schimmerten in klarem Sonnenschein.
Die Blaue Stille leuchtete golden.