Aria | Kapitel Drei
Ein wenig benommen blinzelte Aria zu ihm hinauf.
Ihre Beziehung war ganz eindeutig öffentlich geworden, und sie war nicht vorbereitet auf den Stolz, der sie wie eine Welle durchströmte. Er gehörte zu ihr, er war einfach unglaublich, und sie mussten sich nicht mehr verstecken, etwas erklären oder noch länger voneinander getrennt leben.
»Wir sollten besser mit der Besprechung beginnen«, sagte er schließlich und lächelte sie an.
Sie murmelte zustimmend, löste sich mühsam von ihm und versuchte, nicht so verblüfft auszusehen, wie sie sich fühlte. Dann entdeckte sie Roar auf der anderen Seite des Tisches, und die Erleichterung, die sie bei seinem Anblick empfand, holte sie zurück in die Gegenwart.
»Roar!« Aria eilte zu ihm und umarmte ihn, so gut sie konnte.
»Immer langsam«, sagte er und schaute besorgt auf ihren Arm. »Was ist passiert?«
»Oh, das? Ich habe mich anschießen lassen.«
»Warum das denn?«
»Mir war einfach nach ein wenig Mitgefühl.«
So scherzhaft und unbeschwert waren sie schon immer miteinander umgegangen, aber als Aria ihn beim Sprechen anschaute, versetzte der Anblick ihr einen Stich ins Herz.
Roar klang zwar wie immer, aber aus seinen Augen war sämtlicher Humor gewichen. Sie wirkten schwer vor Trauer – eine Trauer, die alles zu durchdringen schien: sein Lächeln, die hängenden Schultern, selbst seine schiefe Haltung – als sei sein ganzes Leben aus dem Gleichgewicht geraten. Er wirkte auf Aria noch genauso wie vor einer Woche, als sie zusammen in einem Boot den Snake River hinuntergefahren waren: untröstlich vor Schmerz.
Dann richtete sie den Blick auf Marron, der mit einem erwartungsvollen Lächeln auf sie zukam, die blauen Augen lebhaft funkelnd, die Wangen rot und rund – das genaue Gegenteil von Roars harten Gesichtszügen.
»Es tut so gut, dich zu sehen«, sagte Marron und zog sie an sich. »Wir alle haben uns Sorgen gemacht.«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Er fühlte sich ganz weich an, und er roch so gut, nach Rosenwasser und Holzfeuer. Sie hielt ihn noch einen Augenblick umarmt, erinnerte sich an die Wintermonate, die sie nach dem Tod ihrer Mutter in seinem Haus verbracht hatte. Ohne seine Hilfe wäre sie verloren gewesen.
»Stecken wir nicht mitten in einer Krise, Aria?« Soren betrat mit großen Schritten den Raum, den Rücken gerade und das Kinn nach oben gereckt. »Ich könnte schwören, dass du das erst vor fünf Minuten behauptet hast.«
Der gleiche Ausdruck – arrogant, überheblich und entrüstet – hatte vor sechs Monaten auch in ihrem Gesicht gestanden, als sie Perry zum ersten Mal begegnet war.
»Ich werde ihn rausschaffen«, sagte Reef und erhob sich von seinem Stuhl.
»Nein«, widersprach Aria. Soren war der Sohn von Hess. Ob er es verdient hatte oder nicht: Die Siedler würden in ihm einen Anführer sehen, mit ihr an seiner Seite. »Er gehört zu mir. Ich habe ihn gebeten, dabei zu sein.«
»Dann bleibt er«, verkündete Perry ruhig. »Fangen wir an.«
Das überraschte sie. Sie war besorgt gewesen wegen Perrys Reaktion auf Sorens Anwesenheit – die beiden hatten einander vom ersten Augenblick an nicht ausstehen können.
Als sie sich an den Tisch setzten, entging Aria der finstere Blick nicht, den Reef ihr zuwarf. Er erwartete, dass Soren die Versammlung stören würde. Aber dazu würde Aria es nicht kommen lassen.
Sie nahm neben Roar Platz, was sich einerseits richtig anfühlte, andererseits auch nicht, aber Perry war bereits von Reef und Marron flankiert. Roar ließ sich auf seinen Stuhl sacken und nahm einen kräftigen Schluck aus einer Luster-Flasche. Er wirkte wütend und entschlossen; am liebsten hätte sie ihm die Flasche aus der Hand gerissen, aber ihm war schon genug weggenommen worden.
»Wie ihr wisst, sind Hess und Sable eindeutig im Vorteil«, begann Perry. »Auch die Zeit arbeitet gegen uns. Wir müssen so schnell wie möglich etwas gegen die beiden unternehmen. Morgen früh werde ich mit einer Gruppe zu ihrem Lager aufbrechen, um Cinder zu befreien, die Hovercrafts an uns zu bringen und den genauen Kurs zur Blauen Stille herauszufinden. Um die Mission zu planen, brauche ich Informationen. Ihr müsst mir sagen, was ihr gesehen habt«, sagte er zu Roar, »und was ihr wisst«, jetzt an Soren gewandt.
Während er sprach, funkelte die Kriegsherrenkette um seinen Hals, und Kerzenlicht schimmerte in seinem zusammengebundenen Haar, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Ein dunkles Hemd spannte sich über seinen Schultern und Armen, aber Aria erinnerte sich gut an die Tätowierungen, die sich darunter verbargen.
Von dem ungeschliffenen Jäger mit dem grimmigen Blick, den sie vor einem halben Jahr kennengelernt hatte, war fast nichts mehr zu erkennen. Perry wirkte jetzt selbstbewusster, souveräner. Noch immer furchterregend, aber kontrolliert. Aus ihm war all das geworden, was sie in ihm gesehen hatte.
Seine grünen Augen wanderten zu ihr, hielten ihrem Blick für einen kurzen Moment stand, als könne er ihre Gedanken lesen, bevor er sich an Roar wandte.
»Sag mir, wann du bereit bist, Roar.«
Roar antwortete, ohne sich aufzusetzen, und sprach auch nicht in seine Richtung. »Hess und Sable haben sich zusammengeschlossen. Sie sind auf dem Plateau zwischen Lone Pine und dem Snake River, draußen im offenen Gelände. Es ist ein großes Lager, schon eher eine kleine Stadt.«
»Warum dort?«, wollte Perry wissen. »Warum Kräfte im Landesinneren bündeln, wenn die Blaue Stille jenseits des Ozeans liegt? Worauf warten sie?«
»Wenn ich das wüsste, hätte ich es längst gesagt«, entgegnete Roar.
Arias Kopf zuckte unwillkürlich in seine Richtung. Nach außen hin wirkte er fast gelangweilt, aber in seinen Augen lag etwas Raubtierhaftes, das kurz zuvor noch nicht dort gewesen war. Er hielt die Flasche mit Luster fest umklammert, die geschmeidigen Muskeln an seinem Unterarm angespannt.
Sie schaute sich am Tisch um und nahm weitere Zeichen der gereizten Stimmung wahr. Reef saß nach vorn gebeugt und schaute Roar durchdringend an. Marrons Augen huschten nervös zum Eingang, wo Gren und Twig standen, fast so wie Wachen. Selbst Soren hatte etwas bemerkt und schaute von Perry zu Roar, als versuche er herauszufinden, was außer ihm alle wussten.
»Gibt es noch etwas, das du weißt und uns mitteilen möchtest?«, fragte Perry, scheinbar völlig ungerührt.
»Ich habe die Flotte gesehen«, antwortete Roar. »Es waren ein Dutzend wie das Hovercraft draußen an der Klippe und noch ein paar kleinere. Sie stehen auf dem Plateau vor diesem gegliederten Ding, das wie eine Schlange zusammengerollt ist. Es ist gewaltig … Jedes Segment gleicht eher einem Haus als einem Luftkissenfahrzeug.«
Soren schnaubte verächtlich. »Dieses gegliederte, zusammengerollte Ding heißt Komodo X12.«
Roar richtete seine dunklen Augen auf ihn. »Das ist sehr hilfreich, Siedler. Ich denke, jetzt wissen wir alle Bescheid.«
Aria schaute von Soren zu Roar, und Furcht strömte wie Eis durch ihre Adern.
»Wollt ihr wissen, was der Komodo ist?«, fragte Soren. »Ich werde es euch sagen. Aber noch besser wäre es, wenn ihr diese Teppiche abnehmen würdet, damit ich ein paar Strichmännchen an die Höhlenwände malen kann. Dann könnten wir eine Séance abhalten oder ein Opfer darbringen oder so was.« Soren sah zu Perry. »Vielleicht kannst du ein paar Trommeln und eine halb nackte Frau besorgen?«
Aria hatte einige Erfahrung im Umgang mit Soren und war auf sein Verhalten vorbereitet. Sie wandte sich von Perry zu Marron. »Würden Zeichnungen helfen?«, fragte sie und begegnete Sorens Sarkasmus mit Direktheit.
Marron beugte sich vor. »Oh ja. Sie würden sogar sehr helfen. Alle Informationen bezüglich Geschwindigkeit, Reichweite, Fassungsvermögen, Bewaffnung, Vorräte an Bord … wirklich, Soren, alles ist nützlich. Auf diese Weise könnten wir herausfinden, welches Fahrzeug wir brauchen. Für Zeichnungen und alles andere, woran du dich erinnern kannst, wären wir sehr dankbar.«
»Bring Papier, ein Lineal und Stifte«, bat Perry Gren.
Soren schaute mit offenem Mund von Marron zu Perry und dann zu Aria. »Ich werde überhaupt nichts zeichnen. Das war ein Witz.«
»Du hältst unsere Situation also für einen Witz?«, fragte ihn Aria.
»Was? Nein. Aber ich helfe diesen Wil… diesen Leuten nicht.«
»Sie kümmern sich seit Tagen um dich. Ohne diese Leute würdest du gar nicht mehr leben.«
Soren schaute sich um, als wollte er darauf etwas erwidern, blieb dann aber stumm.
»Du bist der Einzige, der sich mit den Hovercrafts auskennt«, fuhr Aria fort. »Du bist der Experte. Außerdem solltest du uns alles sagen, was du über die Pläne weißt, die dein Vater und Sable haben. Jeder von uns muss so viel wie möglich wissen.«
Soren schaute sie mürrisch an. »Du willst mich auf den Arm nehmen.«
»Haben wir nicht gerade festgestellt, dass die Situation nicht zum Lachen ist?«
»Warum sollte ich ihnen vertrauen?«, fragte Soren, als wären keine Außenseiter anwesend.
»Vielleicht, weil du keine andere Wahl hast?«
Sorens wütender Blick wanderte zu Perry, der Aria mit zusammengepressten Lippen anschaute, als müsse er ein Lächeln unterdrücken.
»Gut«, entgegnete Soren schließlich. »Ich werde euch sagen, was ich weiß. Ich habe eine Unterhaltung zwischen meinem Vater und Sable mitgehört, bevor Reverie … untergegangen ist.«
Reverie war nicht einfach nur untergegangen – es war verlassen worden. Hess, Sorens Vater, hatte Tausende von Menschen sterben lassen. Aria konnte sich schon denken, warum Soren diese Tatsache lieber nicht beim Namen nannte.
»Sable und ein paar seiner engsten Vertrauten haben die Koordinaten der Blauen Stille auswendig gelernt«, fuhr er fort. »Aber es genügt nicht, bloß zu wissen, wo sie ist. Irgendwo auf dem Meer muss es eine Ätherbarriere geben, und zur Blauen Stille gelangt man nur, wenn man sie durchbricht. Sable hat allerdings behauptet, er habe eine Möglichkeit gefunden, diese Barriere zu öffnen.«
In der Kammer wurde es still. Alle wussten, dass mit dieser Möglichkeit Cinder gemeint war.
Perry rieb sich das Kinn, und in seinem Gesicht waren die ersten Spuren von Zorn zu erkennen. Auf seinem Handrücken sah Aria die Narben der Wunden, die Cinder ihm beigebracht hatte; sie waren blass und knotig.
»Bist du sicher, dass Cinder bei ihnen ist?«, hakte er nach und wandte sich an Roar. »Hast du ihn gesehen?«
»Ja, ich bin sicher.«
Ein paar Sekunden vergingen.
»Sonst hast du nichts mehr zu sagen, Roar?«
»Du willst mehr hören?« Roar setzte sich auf. »Also gut: Cinder war in Begleitung dieser Kirra – das Mädchen, das laut Twig hier im Dorf gewesen ist. Ich habe gesehen, wie sie ihn in diesen Komodo gebracht hat. Und weißt du, wer noch im Lager ist? Sable. Der Mann, der deine Schwester ermordet hat. Die Hovercrafts, die wir brauchen, sind ebenfalls dort, denn ich gehe mal davon aus, dass das Fahrzeug draußen am Strand uns nicht alle zur Blauen Stille bringen kann. Für mich sieht es so aus, als hätten Hess und Sable alles und wir nichts. Also, Perry: Jetzt kennst du die Situation. Was schlägst du vor? Sollen wir in diesem elenden Loch bleiben und noch ein bisschen plaudern?«
Reef schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das reicht!«, bellte er und stand von seinem Stuhl auf. »So kannst du nicht mit ihm reden. Das erlaube ich nicht.«
»Das ist die Trauer«, erklärte Marron sanft.
»Es ist mir egal, was es ist. Es entschuldigt nicht sein Verhalten.«
»Wo wir gerade von Entschuldigungen sprechen«, warf Roar ein, »du suchst doch sowieso schon lange nach einem Grund, auf mich loszugehen, Reef.« Er stand auf und breitete die Hände aus. »Sieht so aus, als hättest du einen gefunden.«
»Genau das meine ich«, mischte Soren sich ein und schüttelte den Kopf. »Ihr seid Tiere. Ich komme mir vor wie ein Zoowärter.«
»Halt den Mund, Soren.« Empört stand Aria auf und packte Roars Arm. »Bitte, Roar. Setz dich wieder hin.«
Er riss sich von ihr los, und Aria zuckte zusammen und sog zischend die Luft ein. Sie hatte mit ihrem gesunden Arm nach Roar gegriffen, aber seine abrupte Bewegung hatte sie aufschrecken lassen und einen stechenden Schmerz in ihrem verletzten Oberarm verursacht.
Perry sprang von seinem Stuhl auf. »Roar!«
Schlagartig herrschte Stille im Raum.
Arias Arm zitterte. Sie hielt ihn gegen ihren Bauch gepresst und zwang sich, ruhig und entspannt zu atmen und die Schmerzwellen, die sie durchfuhren, zu verbergen.
Roar starrte sie betreten an. »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte er leise.
»Ich auch. Es geht mir gut, alles in Ordnung.«
Er hatte ihr nicht wehtun wollen, niemals. Aber noch immer regte sich niemand oder sagte etwas.
»Es geht mir gut«, wiederholte sie mit Nachdruck.
Langsam richtete sich die Aufmerksamkeit im Raum auf Perry, der Roar wütend anfunkelte.