Peregrine | Kapitel Achtundvierzig

»Atmet er noch, Roar? Ist er noch am Leben?«

»Jetzt sei doch mal still. Ich versuche gerade herauszufinden, ob ich seinen Herzschlag hören kann.«

Perry zwang sich, die Augen zu öffnen. Wie durch einen Schleier sah er Roar, der sich über seine Brust beugte. »Runter. Geh von mir runter, Roar.«

Seine Kehle war so ausgedörrt, dass seine Stimme nur wie ein Krächzen klang. Und er konnte an nichts anderes denken als an Wasser. Er lechzte danach, mit jeder Faser seines Körpers. Sein Schädel dröhnte und schmerzte derart heftig, dass er sich kaum zu bewegen wagte.

Roar hob ruckartig den Kopf und riss die Augen auf. »Ha!«, brüllte er. »Ha!« Dann packte er Perry bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich wusste es!« Er sprang auf und rief wieder und wieder »Ich hab’s gewusst!«, bis er sich schließlich in den Sand fallen ließ. »Das war übel. Das war echt übel!«, stieß er keuchend hervor.

Soren, der Roar stumm beobachtet hatte, beugte sich über Perry. »Möchtest du einen Schluck Wasser?«

 

Bei Sonnenuntergang versammelten sich die drei um ein Lagerfeuer, umgeben von unbekannten Düften und Geräuschen. Jeder Atemzug erschien Perry wie das Hören einer unbekannten Sprache – ein Prozess, bei dem er den Geruch von Erde und Pflanzen und Tieren wiedererkannte, aber gleichzeitig auch neu erlernte. Dieses Land war jung und frisch und grün, und trotz seiner Erschöpfung klopfte sein Herz wie wild bei dem Wunsch, es zu erkunden.

Nachdem Perry so viel Wasser getrunken hatte, dass er fast schon Magenkrämpfe bekam, erfuhr er, dass Roar und Soren zwei Tage zuvor aus Sables Lager geflohen waren. Die beiden hatten sich mit dem Gelände vertraut gemacht, Frischwasser und Früchte aufgetrieben und gleichzeitig einen Plan zu schmieden versucht, mit dem sie Sable ausschalten konnten. Schließlich überließen sie Perry das Wort, und er erzählte ihnen, was mit Cinder im Dragonwing passiert war.

»Und das war das Letzte, was du von ihm gesehen hast?«, fragte Roar. »Bevor dir schwarz vor Augen wurde?«

Perry dachte darüber nach, während er sich an jene letzten Momente erinnerte. Irgendwie erschien ihm die Formulierung nicht richtig, denn ihm war ja nicht schwarz vor Augen geworden – um ihn herum war plötzlich alles weiß gewesen. Doch er nickte. »Ja, danach hab ich Cinder nicht mehr gesehen.«

Roar rieb sich das Kinn und meinte dann mit einem leichten Achselzucken: »Vielleicht sollte es ja so kommen. Ich bezweifle, dass du ihm noch hättest helfen können.«

»Aber ich hätte es versucht«, erwiderte Perry. »Ich hätte alles dafür getan, was ich konnte.«

Soren stocherte mit einem Stock in den Flammen. »So, wie ich das sehe, hast du das auch«, sagte er.

Das war sehr anständig von ihm, und Perry nickte dankbar.

Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen das Schlauchboot – das Rettungsfloß, das ihn vor dem Ertrinken bewahrt hatte – und verschränkte die Hände auf dem Bauch. Am liebsten wäre er sofort zu Aria aufgebrochen, doch er war einfach noch zu schwach dafür. Er musste seinen Körper erst einmal mit genügend Wasser versorgen. Mit jeder Stunde, die verstrich, ließen auch seine Muskelkrämpfe und Kopfschmerzen nach, und er fühlte sich mehr und mehr wieder wie er selbst.

Sein Blick fiel auf die Narben auf seiner Hand – Narben, die Cinder verursacht hatte. Perry spürte einen Kloß im Hals. Das Gefühl der Unzulänglichkeit – der Wunsch, er hätte mehr getan oder anders, besser gehandelt – war ihm nicht neu. Aber er hatte es satt, sich wegen der Vergangenheit ständig Vorwürfe zu machen. Schließlich versuchte er doch das Richtige zu tun – in jeder Situation. Manchmal mochte das nicht reichen, aber mehr konnte er beim besten Willen nicht machen. Das war das Einzige, was wirklich in seiner Hand lag. Und allmählich lernte er, es auch zu akzeptieren.

Erschöpft beobachtete er, wie Funken aus den Flammen in die Dunkelheit aufstiegen. Hinauf zu den Sternen. Der Ätherschirm über dem Himmel hatte sich aufgelöst, und nun war alles miteinander verbunden – die Sterne mit der Erde. Er mit Cinder. Mit Liv und seinem Bruder und seinem Vater.

Er stand so dicht davor, endlich Frieden zu empfinden. Jetzt trennte ihn nur noch eine einzige Aufgabe davon.

»Per, woher hast du gewusst, dass dieses Ding da im Dragonwing war?«, fragte Roar und deutete mit dem Kinn auf das Rettungsfloß.

Perry schaute zu Soren und erinnerte sich an dessen Kommentar, als sie die letzten Vorbereitungen zu Cinders Befreiung aus dem Komodo getroffen hatten.

Das ist ein Schlauchboot, Außenseiter. Wenn du das anziehst, bin ich raus aus dieser Operation.

Soren grinste. »Komm, gib’s schon zu: Ich hab dir das Leben gerettet.«

Sein Ton klang freundlich. Soren hatte sich in der vergangenen Woche stark verändert, überlegte Perry – sowohl in seiner Haltung als auch in seiner Wortwahl.

»Du hast mir in der Tat geholfen«, räumte Perry ein. Als Sable ihn dem sicheren Tod überlassen hatte, war Perry zu einem der Spinde gestürmt, Sorens spöttische Bemerkung noch deutlich in den Ohren. Er hatte gehofft, dass der Dragonwing genau wie der Belswan ein Rettungsfloß an Bord haben würde. Und das Glück war auf seiner Seite gewesen: Wenige Sekunden später fand er das Schlauchboot, das sich auf Knopfdruck sofort entfaltete. Eines musste er den Siedlern lassen: Sie bauten anständige Boote.

Perry war dem Dragonwing nahezu in letzter Sekunde entkommen. Er hatte zugesehen, wie das Hovercraft in den Fluten versank, und hatte dann die Barriere passiert, während das letzte Luftkissenfahrzeug der Flotte über ihn hinweggeflogen war.

Danach hatte er die Hovercrafts schnell aus den Augen verloren. Vermutlich hatten sie die Strecke zum Land innerhalb weniger Stunden zurückgelegt, während er sich einen ganzen Tag durch raue See kämpfen musste und dann zwei weitere Tage in ruhigeren Gewässern verbracht hatte.

Drei Tage allein – doch das war ihm nicht schwergefallen. Perry ging zwar gern auf die Jagd, aber er war ein geborener Fischer. Der Gedanke hatte ihm keine Sorgen bereitet, mit dem Ozean direkt vor ihm und einem neuen Himmel über ihm. Nur sein Wassermangel hatte ihn vor echte Probleme gestellt.

Er hatte sehr schnell erkannt, dass Dehydration schlimmer war als Verbrennungen oder die Schläge eines Hammers. Als er sich endlich an Land geschleppt und das Schlauchboot in den Schutz der Bäume gezogen hatte, wo Roar und Soren ihn später fanden, war er schon nicht mehr ganz klar im Kopf gewesen. Und als die beiden dann aufgetaucht waren, hatte er befürchtet, dass er sich das Ganze vielleicht ja nur einbildete.

»Es wäre für mich wesentlich leichter gewesen, wenn du mir beigebracht hättest, wie man so ein Hovercraft fliegt«, wandte Perry sich nun an Soren. »Das hätte mir ein paar üble Tage erspart.«

Soren grinste. »Du sagst ständig, dass du lernen willst, Außenseiter. Ich bin bereit – ich erteil dir jederzeit eine Lektion.«

»Ich bin stolz auf euch … alle beide«, bemerkte Roar. »Ich muss das einfach mal sagen.«

Obwohl er einen scherzhaften Ton anschlug, waren seine Worte grundehrlich gemeint. Perry teilte sich tatsächlich eine Feldflasche Wasser mit Soren. Und sie unterhielten sich leicht und unbeschwert miteinander. Perry hätte das niemals für möglich gehalten.

Er setzte sich auf und stellte die Frage, die ihn den ganzen Tag beschäftigt hatte: »Wie geht es ihr, Roar?«

Roar blickte ihm fest in die Augen. »Wie würde es dir gehen, wenn du sie für tot halten würdest?«

Perry wollte sich das lieber nicht vorstellen. »Was hat Sable getan?«, fragte er nach einem Moment.

Schweigen.

»Erzähl es ihm, Roar«, sagte Soren.

Perry lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er wusste es bereits. »Reef.«

»Ja«, bestätigte Roar. »Und Gren ebenfalls. Kaum dass wir gelandet waren. Twig wurde angeschossen, schien aber außer Lebensgefahr, als wir geflohen sind.«

Reef. Perry holte tief Luft und hielt den Atem an, um gegen den Druck anzukämpfen, der sich hinter seinen Augen aufbaute. In nur sechs Monaten war Reef ihm ans Herz gewachsen; er war für ihn zu einem Bruder geworden, einem Vater, Freund und Ratgeber. Tränen schossen ihm in die Augen, und tief in seinem Innern wurde eine weitere Lücke gerissen.

»Tut mir leid, Per«, sagte Roar leise.

Perry nickte und wappnete sich für den nächsten Schlag. »Was ist mit Marron?«

»Es geht ihm gut. Zumindest war das so, als wir uns davongeschlichen haben.«

Das ergab durchaus Sinn. Marron war brillant und geachtet, aber weder ehrgeizig noch aggressiv. Er würde Sable niemals zu einem Machtkampf herausfordern, sondern ihn mit Argumenten zu überzeugen versuchen. Reef war für Sable die einzige echte Bedrohung gewesen. Er hätte sich an die Spitze der Tiden gestellt – und er hätte es für Perry getan.

»Sable kontrolliert nun alles und jeden«, erklärte Soren. »Das konnte man bereits spüren, noch bevor die Flotte hier gelandet war. In dem Moment, als du mit Cinder verschwunden warst, hatte er die Macht übernommen. Er ist wahnsinnig. Endgültig geisteskrank.«

»Und bald wird er endgültig tot sein«, knurrte Perry.

 

Während der nächsten Stunden sprachen die drei ausführlich über das Lager, das Sable hatte errichten lassen. Sie diskutierten über den Aufbau der Siedlung, die umliegende Landschaft und die Vorteile, über die Sable verfügte – und das waren nicht gerade wenige.

Als der Mond schon hoch am Himmel stand, fragte Roar: »Und, was denkst du, Per?«

Perry dehnte die Schultern; seine Muskeln fühlten sich schon viel besser und lockerer an. »Wir schnappen uns Sable. Aber wir müssen es auf die richtige Weise anstellen. Wenn ich im Lager auftauche und die Tiden sehen mich, könnte das in einem Aufstand enden. Das Ganze könnte eskalieren und dazu führen, dass wir gegen die Hörner dastehen. Und das darf auf keinen Fall passieren. Die Hörner haben alle Waffen … Ich will kein Blutbad, das dann noch schlimmer wäre als das im Komodo.«

Roar verschränkte die Arme. »Dann müssen wir schnell zuschlagen.«

»Genau – und zwar solange Sable nicht damit rechnet. Wir schnappen ihn uns morgen Abend in der Dunkelheit. Wir schleichen uns ganz nah heran und legen ihn um, bevor er auch nur was ahnt.« Perry warf Roar und Soren einen ernsten Blick zu. »Das bedeutet, dass ihr mir vertrauen müsst und dieses Mal genau das tut, was ich sage. Keine eigenmächtigen Entscheidungen. Keine Fehler.«