Peregrine | Kapitel Sechs
»Hast du deine Gruppe zusammengestellt?« Reef warf noch mehr Kleinholz auf das Feuer und fachte die Flammen wieder an. »Wen willst du morgen mitnehmen?«
Perry rieb sich das Kinn und sah zu, wie das lodernde Feuer seine Freunde aus der Dunkelheit holte. Der Rest der Sechs erschien, und auch Molly und Marron kamen hinzu.
Es war schon spät, Stunden nach dem Abendessen, aber er hatte sich für frische Luft anstatt Schlaf entschieden. Einer nach dem anderen folgten sie ihm nach draußen, insgesamt acht, und stellten sich an dem kleinen Strand im Kreis auf. Alle seine engsten Freunde, bis auf Roar und Aria.
Jetzt sah er Reefs Frage in den Augen aller. Perry hatte gründlich darüber nachgedacht, wen er auf die Mission mitnehmen wollte, und war überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben. Doch er rechnete auch damit, dass es zu Diskussionen kommen würde.
»Hier wird während deiner Abwesenheit alles in Ordnung sein«, versicherte Marron, der sein Zögern spürte. »Kein Grund zur Sorge.«
»Ja, das weiß ich«, entgegnete Perry.
Bevor sie aufbrachen, würde er Marron die Kriegsherrenkette umhängen und die Tiden wieder einmal in seine Obhut geben. Er hätte sich keinen besseren Stellvertreter wünschen können.
Perry lehnte sich zurück, und sein Blick wanderte nach Süden zu einem Ätherknoten – ein Sturm zog auf. Das rote Leuchten war faszinierend, hätte sogar schön sein können.
Er schaute zu Reef und zwang sich, zu sagen, was gesagt werden musste. »Ihr bleibt hier.« Dann sah er den Rest der Sechs an. »Ihr alle.«
»Warum?«, fragte Straggler empört und richtete sich auf. Trotzdem war er noch immer kleiner als Hyde und Hayden, die in lässiger Haltung neben ihm standen. »Haben wir was falsch gemacht?«
»Halt den Mund, Strag!«, rief Gren über das Feuer hinweg.
»Halt du doch den Mund!«, schoss Straggler zurück. »Perry, niemand würde härter für dich kämpfen als wir. Wer könnte besser sein?«
Hyde verpasste seinem Bruder eine Kopfnuss. »Sei still, du Idiot. Entschuldige, Per. Rede weiter … Haben wir dich enttäuscht?«
»Nein, das habt ihr nicht, aber es ist kein gewöhnlicher Kampf. Wir haben keine Chance, wenn wir Sable und Hess frontal angreifen.«
»Wen nimmst du dann mit?«, wollte Strag wissen.
Dann mal los, dachte Perry und sagte: »Roar.«
Die Gruppe verstummte. In der eintretenden Stille hörte man nur noch das Knacken des Feuers und die sich brechenden Wellen.
Marron sprach als Erster: »Peregrine, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, wenn man bedenkt, was nach seiner Rückkehr zwischen euch vorgefallen ist. Ganz zu schweigen von dem Verlust, den ihr beide erlitten habt.«
Perry hatte den Ausdruck ganz zu schweigen noch nie verstanden – Marron schwieg doch nicht. Plötzlich war Liv bei ihnen, in der kühlen Meeresbrise, den heranrauschenden Wogen, in dem Ungeheuer, das in seinem Kopf erwachte und sich an die Wände seines Schädels krallte.
Er grub die Finger in den Sand und ballte sie so fest zur Faust, dass seine Knöchel schmerzten. »Roar ist der richtige Mann dafür.«
Lautlos und tödlich – von all seinen Leuten kam Roar einem Attentäter am nächsten. Außerdem besaß er die feinen, ebenmäßigen Züge eines Siedlers, konnte aber ebenso gut als Außenseiter oder Maulwurf durchgehen, war also vielseitig einsetzbar – ein großer Vorteil, wenn sie einen Angriffsplan schmiedeten, sobald sie sich ein genaueres Bild von dem Komodo gemacht hatten.
»Wer noch?«, fragte Reef knapp.
»Brooke.«
Gren fiel die Kinnlade hinunter, und Twig gab ein würgendes Geräusch von sich, das er zu verbergen suchte, indem er sich räusperte. Es gab hier keine Geheimnisse – jeder in der Runde kannte Perrys Geschichte mit Brooke.
Vom Aussehen her besaß Brooke die gleichen Vorzüge wie Roar. Männer nickten zuerst und hörten dann zu, wenn sie sprach, und das konnte sich als nützlich erweisen. Außerdem war sie eine ebenso gute Seherin wie die Brüder, schoss besser und behielt in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf. Vor ein paar Wochen, als das Tidendorf überfallen worden war, hatte sie nicht einen einzigen Fehler gemacht. Sie waren ein paarmal aneinandergeraten, aber Perry brauchte sie.
»Und Aria?«, fragte Marron.
»Ja.«
Ihm entgingen die verblüfften Blicke nicht, die sich die anderen über die Flammen hinweg zuwarfen. Alle wussten, dass Aria verletzt war. Und sie wussten auch, dass er und Aria sich gestritten hatten. Oder miteinander diskutiert, oder wie auch immer man es nennen mochte – im Strategieraum war heute jedenfalls nur wenig über Strategie geredet worden.
»Außerdem nehme ich Soren mit«, verkündete Perry, um das Thema zu wechseln. »Er ist der Einzige, der das Hovercraft fliegen und uns schnell zum Plateau bringen kann. Du sagtest, dass uns möglicherweise nur noch ein paar Tage bleiben, Marron. Ich kann also keine Zeit damit verschwenden, zu Fuß oder zu Pferd zum Komodo zu gelangen.«
Perry sah keine andere Möglichkeit. Er musste schnell sein, und er brauchte das Hovercraft. Und das hieß, dass er auf Soren angewiesen war – so gern er das auch vermieden hätte.
»Nur damit ich dich richtig verstehe«, hakte Reef nach, »das sind die fünf Personen, die du mitnehmen willst? Glaubst du wirklich, sie können ein Team bilden?«
»Ja, das glaube ich«, ließ Perry ihn wissen.
»Du verwettest unser Leben darauf?«, drängte Reef.
Perry nickte. »Sable und Hess haben alle Macht auf ihrer Seite. Mit schierer Gewalt werden wir gegen sie nichts ausrichten. Wir dürfen nicht zu viele sein und müssen schnell und präzise vorgehen. Wenn wir eine Chance haben wollen, müssen wir zustechen wie eine Nadel.«
Wieder legte sich Stille über die Gruppe; ein paar richteten den Blick besorgt nach Süden. Perry nahm ihre Stimmungen in sich auf, während er hinaus auf die Brandung schaute – Unglauben, Angst und Empörung.
Das stumme Gebrüll der Tiden.
Als Perry in sein Zelt trat, war Talon noch wach.
»Warum schläfst du nicht, Quieks?«, fragte er und lehnte Bogen und Köcher gegen die Kisten. Es musste schon weit nach Mitternacht sein.
Talon setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Ich hatte einen Albtraum.«
»Die kann ich auch nicht leiden.« Perry löste seinen Gürtel und warf ihn auf den Boden. »Worauf wartest du?«, wollte er wissen, als er ins Bett kletterte. »Komm schon rüber.«
Talon krabbelte an seine Seite. Er zappelte herum und trat Perry mit seinen knubbeligen Knien in die Rippen, bevor er endlich zur Ruhe kam.
»Ich vermisse unser Haus«, sagte er schließlich. »Du auch?«
»Ja«, gab Perry zu und starrte auf die Zeltplane über sich. Vor allem vermisste er die Lücke zwischen den Balken auf dem Dachboden. Schon seit Jahren war er zu groß, um sich dort ganz auszustrecken, aber das hatte ihm nichts ausgemacht. Er hatte es geliebt, mit dem Blick auf diesen kleinen Ausschnitt des Himmels einzuschlafen.
Spielerisch knuffte er Talon in den Arm. »Es ist doch gar nicht so schlecht hier. Dir und Willow scheint es nichts auszumachen.«
Talon zuckte die Achseln. »Na ja, es ist ganz in Ordnung. Willow meint, Molly hätte gesagt, dass du morgen losziehst, um Cinder zu holen. Warum musst du fort, Onkel Perry?«
Das war also der wahre Grund, warum Talon nicht schlafen konnte.
»Weil Cinder mich braucht, genauso wie du, als du in Reverie warst. Und ich benötige ein paar Dinge von den Siedlern, die uns helfen, zur Blauen Stille zu gelangen.«
»Wenn du nicht zurückkommst, bin ich ganz allein.«
»Ich werde zurückkommen, Talon.«
»Mein Vater ist nicht mehr da. Meine Mama und Tante Liv …«
»Hey.« Perry stützte sich auf einen Ellbogen, damit er seinen Neffen anschauen konnte. Er suchte nach ein wenig von sich selbst oder Liv in ihm, entdeckte aber nur Vale – angefangen von Talons ernsten grünen Augen bis hin zu seinen dunklen Locken. Er konnte es Talon nicht verübeln, dass er Angst hatte. Aber er würde seinen Neffen auf keinen Fall enttäuschen. »Ich komme wieder. In Ordnung?«
Talon nickte, wenn auch wenig überzeugt.
»Weißt du eigentlich, was zwischen mir und deinem Vater vorgefallen ist?« Die Worte verließen seinen Mund, ehe Perry sie aufhalten konnte. Sie hatten bis jetzt noch kein Wort über Vale gesprochen. Darüber, dass Vale Talon, seinen eigenen Sohn, im Tausch gegen Nahrungsmittel an die Siedler verkauft hatte. Ihn und Brookes Schwester Clara. Es war unverzeihlich. Aber dann hatte Perry Vale getötet – ebenso unverzeihlich. Er wusste, dass diese Tat ihn sein ganzes Leben lang verfolgen würde.
Talon zog die schmalen Schultern hoch. »Ich war krank. Er schickte mich zu den Siedlern, damit ich wieder gesund werde. Als es mir besser ging, kamst du und hast mich zurückgebracht.«
Perry schaute seinen Neffen prüfend an. Talon wusste mehr, als er sich anmerken ließ. Vielleicht sagte er, was Perry hören wollte, vielleicht war er aber noch nicht bereit, darüber zu sprechen. So oder so, Perry würde ihn nicht drängen. Es hatte keinen Zweck: Talon sah nicht nur so aus wie Vale, er war auch genauso dickköpfig und verschlossen.
Perry legte sich wieder hin, schob den Arm unter den Kopf und dachte an seinen Streit mit Aria. Vielleicht hatte er ja doch etwas mit seinem Neffen gemein.
»Glaubst du, in der Blauen Stille gibt es Plätze, wo man angeln kann?«, fragte Talon.
»Klar. Ich wette, es gibt sogar eine ganze Menge.«
»Gut. Willow und ich haben nämlich heute ein paar riesige Regenwürmer gefunden. Wirklich riesig. Elf Stück. Ich habe sie in ein Glas getan.«
Perry versuchte, sich zu konzentrieren, während Talon weiter begeistert von Ködern erzählte, aber ihm wurden die Augen schwer. Sie waren gerade zugefallen, als er hörte, wie jemand die Zeltplane öffnete.
Aria betrat das Zelt, blieb stehen und blinzelte suchend in die Dunkelheit.
»Wir sind hier«, sagte Perry. Es war das Einzige, was ihm einfiel. Er hatte nicht mit ihr gerechnet, aber eine Welle der Erleichterung erfasste ihn, als er sie sah.
»Hallo, Aria«, begrüßte Talon sie fröhlich und munter.
»Hallo, Talon.« Sie biss sich verlegen auf die Lippe und schaute auf den zugeklappten Zelteingang hinter sich. »Ich bin nur gekommen … Ich wollte … Ich nehme an, wir sehen uns später?« Ihre Stimme hob sich am Ende des Satzes, wie bei einer Frage.
Perry wusste nicht, was er tun sollte. Talon lag zusammengerollt an seiner Seite – Arias Platz in den vergangenen Nächten. Er konnte seinen Neffen schlecht wegschicken, aber er wollte auch nicht, dass sie ging.
»Du musst nicht gehen«, versicherte Talon. Er hüpfte über Perry hinweg auf dessen rechte Seite. »Hier ist Platz genug.«
»Super«, sagte Aria und legte sich neben Perry.
Zuerst konnte er nicht glauben, dass sie wirklich neben ihm lag. Dann wurde er sich ihrer Gegenwart intensiv bewusst: das Gewicht ihres Arms auf seiner Brust; die Kühle der Höhle auf ihrer Kleidung; der Duft nach Veilchen, den er so liebte.
»Du bist so still«, bemerkte sie.
Talon kicherte. »Weil er dich mag. Stimmt’s, Onkel Perry?«
»Ja.« Perry schaute sie an. Sie lächelte zu ihm hinauf, aber Besorgnis umwölkte ihre Augen. »Wusstest du das?«
»Obwohl ich dich im Stich gelassen habe?«, fragte sie und griff die Worte auf, die er vorhin zu ihr gesagt hatte.
»Ja. Natürlich … Ich werde dich immer … mögen, Aria.« Er grinste, weil er sich anhörte wie ein Idiot. Er liebte sie von ganzem Herzen, und irgendwann würde er es ihr sagen. Aber nicht, während sich Talons Knie in seine Nieren bohrte.
Aria lächelte. »Ich werde dich auch immer mögen.«
Die Art, wie sie es sagte, wie ihre Stimmung sich öffnete, verriet ihm, dass sie seine Gedanken gelesen hatte und das Gleiche empfand. Ihre Lippen waren ganz nah. Er küsste sie kurz, auch wenn er mehr wollte – alles, was sie ihm zu geben bereit war.
Das war zu viel für Talon. Er konnte sich nicht mehr halten und kicherte so hemmungslos, dass er sie ansteckte.
Eine geschlagene Stunde verging, bis im Zelt wieder Ruhe einkehrte. Arme, Beine und Decken lagen auf Perry, und ihm war so heiß, dass ihm das Hemd am Körper klebte. Seine Schulter, die er sich vor einem Monat ausgerenkt hatte, schmerzte unter dem Gewicht von Arias Kopf, und Talon schnarchte ihm direkt ins Ohr, aber er konnte sich nicht entsinnen, wann er sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte.
Mit diesen beiden Menschen zusammen zu sein erinnerte ihn daran, wie er zum allerersten Mal Pfeil und Bogen benutzt hatte – so als würde er etwas entdecken, das zwar neu, aber doch bereits vollkommen vertraut war.
Er blieb wach, solange er konnte, und genoss jeden Moment. Dann schloss er die Augen und ergab sich dem Schlaf.