Peregrine | Kapitel Fünfzig

Aus seinem Versteck in der Dunkelheit beobachtete Perry, wie Sable Aria bei der Hand nahm.

»Bin ich der Einzige, dem bei dem Anblick schlecht wird?«, flüsterte Soren.

»Nein, definitiv nicht«, erwiderte Roar.

Perry blieb stumm. Er fühlte sich wachsam und konzentriert. Schließlich war er auf der Jagd – und damit in seinem Element.

Hinter einigen großblättrigen Sträuchern ließ er sich auf ein Knie sinken und überdachte die Situation. Roar und Soren hockten sich links und rechts neben ihn.

Sie hatten nicht erwartet, auf ein großes Fest zu stoßen – und das änderte die Lage beträchtlich.

Tiden und Siedler saßen in kleinen Gruppen überall auf der Lichtung verstreut, doch Sable hatte in der Mitte des Freiplatzes ein Podium errichtet und dort einen Tisch aufstellen lassen, der mit Kerzen und üppigen, farbenfrohen Blumenarrangements dekoriert war. Und nun geleitete er Aria zu dieser Festtafel, begleitet von einigen seiner Männer und einer Gruppe Wachen.

Perry fiel auf, dass seine eigenen Kämpfer weit verstreut saßen: Sable hatte sie wohlweislich voneinander getrennt, um sie so besser unter Kontrolle zu behalten.

»Ich schätze, damit hat sich der Plan erledigt, ihn in aller Stille auszuschalten«, meinte Roar.

Perry nickte. »Im Augenblick könnte er für mich kaum schwieriger zu erreichen sein.«

Das Podium war von Hunderten von Menschen umgeben, von denen gut die Hälfte den Hörnern angehörten. Perry wusste genau: Sobald er auch nur einen Schritt hinaus auf die Lichtung tat, würde er entweder sofort erschossen werden oder in Sekundenschnelle einen Aufstand auslösen. So ruhig und verhalten die Menschenmenge auch wirkte, aber die Stimmungen, die zu ihm herüberwehten, brodelten vor unterdrückter Wut. Die Tiden hatten noch längst nicht aufgegeben – sie waren wie trockenes Zündholz, das nur auf einen Funken wartete.

An der ganzen Situation gefiel Perry lediglich eine Tatsache: Sein Neffe Talon saß zwischen Hyde und Molly, nur wenige Schritte entfernt von Marron und Bear.

Perry wusste, dass dies kein Zufall sein konnte. Da man ihn für tot hielt, hatten die Tiden Talon als einen der Ihren aufgenommen und beschützten ihn. Der Anblick ließ ihm das Herz höherschlagen.

»Kannst du von hier aus einen Schuss auf Sable abgeben?«, fragte Roar.

Perry überdachte diese Möglichkeit. Zwar hatte er seinen Bogen nicht mehr, doch vielleicht konnten sie an eine der Pistolen kommen, die die Hörner-Wachen am Rand der Lichtung trugen. Sable saß etwa einhundert Meter von ihnen entfernt – ein einfacher Schuss, wenn er seine eigenen Waffen dabeigehabt hätte. Doch mit den Pistolen der Siedler fühlte er sich weniger sicher als mit seinem Bogen.

»Aria sitzt direkt neben ihm«, sagte er schließlich. »Das kann ich nicht riskieren – nicht mit einer Waffe, die ich kaum kenne.«

Sable hatte Aria rechts neben sich platziert. Ihr Vater saß auf seiner linken Seite.

»Kannst du nicht einfach einen Bogen anfertigen?«, fragte Soren.

Roar warf Perry einen Blick zu und rollte mit den Augen. »Ja klar, Soren. Und dann kommen wir in ein paar Tagen einfach noch mal wieder.«

Perry richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Lichtung. Natürlich war die Situation nicht ideal, aber es hatten schon viel zu viele Menschen ihr Leben verloren, und der Ausdruck in Arias Augen machte ihm große Sorgen. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Zeit zum Handeln gekommen war.

Sorgfältig wog Perry seine Optionen ab, dann wandte er sich an Soren und Roar und erklärte ihnen seinen Plan.

Als er fertig war, stand Soren auf und nickte. »Alles klar«, sagte er und trabte davon.

Dann erhob sich auch Roar. »Ein gutes Auge und eine sichere Hand, Per.«

Als er sich schon halb zum Gehen gewandt hatte, hielt Perry ihn am Arm zurück. »Roar …« Er verstummte und wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm blieben kaum noch Möglichkeiten, und falls dieser Plan scheiterte …

»Er wird nicht scheitern, Perry.« Roar deutete mit dem Kopf zur Lichtung. »Und jetzt lass uns den Bastard töten.« Damit machte er sich auf den Weg, mit lautlosen Schritten zur gegenüberliegenden Seite der Lichtung.

Während Perry Roar nachsah, erkannte er, dass er noch nie so dankbar für seine scharfen Augen gewesen war wie in diesem Moment. Sein Herz pochte wie wild, als sich Roar lautlos seinem Ziel näherte und sich in Position brachte.

Versteckt in den Wäldern – und im Rücken von Kirra.

Perry würde sie benutzen müssen, so wie auch sie ihn benutzt hatte.

Plötzlich brach die Musik ab, was bedeutete, dass Soren seinen Teil des Plans umgesetzt hatte. Er war zu den Musikern gelaufen, hatte Jupiter gesucht und gefunden und ihn gebeten, nicht länger zu spielen.

Roar war als Nächster an der Reihe. Auf der anderen Seite der Lichtung hob er die Hand und gab damit zu verstehen, dass es losgehen konnte.

Perry konzentrierte sich ganz auf den Hörner-Soldaten, der ihm am nächsten stand, und richtete sich langsam auf. Dann machte er sich zum Sprung bereit und zählte innerlich.

Drei.

Zwei.

Eins.

Blitzartig schoss er aus seinem Versteck hervor, im Wissen, dass Roar auf der anderen Seite der Lichtung genau das Gleiche tat. Seine Füße flogen über den weichen Boden, während er auf den Hörner-Soldaten zusprintete.

»Sable!«

Roars Ruf hallte durch die Stille wie ein Donnerschlag. Hunderte von Köpfen wandten sich der Richtung zu, aus der die Stimme kam – und damit fort von Perry, der den Soldaten pfeilschnell in den Würgegriff nahm und ihm die andere Hand auf den Mund presste, um mögliche Warnrufe zu ersticken. Lautlos zerrte er den Mann zurück in die Dunkelheit, in den Schutz des Gebüschs. Dann nahm er ihm die Pistole ab und schlug ihm den Kolben gegen die Schläfe. Der Kopf des Soldaten fiel ruckartig zur Seite, und er sackte bewusstlos zu Boden. Perry rappelte sich auf und rannte sofort zur Lichtung zurück.

Überall waren Menschen aufgesprungen und reckten den Hals, um einen Blick auf Roar werfen zu können, der einen Arm um Kirras Kehle geschlungen hatte und ihren Körper als Schild benutzte.

Perry mischte sich unter die Menge und ging dabei ein wenig in die Knie, um nicht durch seine Größe aufzufallen. Als Twig ihn entdeckte, schnappte er überrascht nach Luft und wollte gerade etwas sagen. Doch Perry schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen.

Twig nickte nur.

Ein paar Augenpaare wanderten in seine Richtung. Old Will. Brooke und Clara. Um ihn herum ging ein Raunen durch die Menge, verklang aber schnell wieder. Die Botschaft verbreitete sich unter den Tiden wie eine lautlose Woge: Perry war zurück – doch er musste geschützt und verborgen werden. Die Tiden verstanden. Sie gaben durch nichts zu erkennen, dass er sich unter ihnen befand. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, doch er nahm ihre Stimmungen dafür umso stärker wahr: Er wusste genau, wie überwältigt sie waren, ihn lebendig wiederzusehen. Und die Kraft ihrer Emotionen steigerte nur seine Entschlossenheit.

Während Perry sich an Straggler und Old Will vorbei in Richtung des Podiums schlängelte, hörte er nichts außer Roars Stimme.

»Ruf sie zurück, Sable! Sag deinen Leuten, sie sollen die Waffen niederlegen, sonst töte ich sie!«

Mittlerweile hatte Perry sich durch die Menschenmenge geschlichen. Das hölzerne Podest ragte vor ihm auf. Sable war nur noch ein Dutzend Schritte entfernt.

Genau wie Aria.

»Ruf deine Männer zurück, und ich lasse sie laufen!«, brüllte Roar. »Das ist eine Sache zwischen dir und mir! Hier geht’s um Liv!«

Sable nahm von Arias Vater eine Pistole entgegen und stand auf. »Ich hatte mir schon gedacht, dass ich dich bald wiedersehen werde.«

Überall auf der Lichtung hörte man überraschtes Raunen, dann drängte die Menge zurück, um aus der Schusslinie zu weichen.

»Du wirst für deine Schulden bezahlen.« Roars Stimme klang heiser und gepresst vor Zorn. Sein Ablenkungsmanöver funktionierte: Alle Augen blieben auf ihn gerichtet.

Perry hob seine Waffe und zielte auf Sable, suchte nach einem freien Schussfeld – und dann hatte er ihn im Visier: das Ziel für den perfekten Schuss, genau in den Hinterkopf. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und übte langsam Druck auf den Abzug aus.

Aber dann bewegte Aria sich, genau in die Schussbahn hinein.

Perry setzte die Waffe ab. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug; doch er verlor keine Zeit und schlich um das Podium herum, auf der Suche nach einer besseren Schussposition. Ihm blieben nur Sekunden, bis die Hörner ihn entdecken würden.

»Sable, tu doch was!«, flehte Kirra und wand sich in Roars Griff.

»Niemand anders muss verletzt werden!«, rief Roar. »Es geht nur um dich. Du musst für deine Taten bezahlen!«

Sable hob die Pistole in einer fließenden, präzisen Bewegung. »Das sehe ich anders«, sagte er und schoss.