Peregrine | Kapitel Dreißig

»Beweg dich, Tider! Mach voran!«

Perry erhielt einen Stoß zwischen die Schulterblätter, taumelte vorwärts und prallte gegen einen Mann, der in die entgegengesetzte Richtung lief. Schmerzen durchzuckten seinen Körper, vor allem im Brustkorb. Doch er fing sich wieder und warf einen Blick über die Schulter.

Der Mann, der ihn aus dem Komodo hinauseskortierte, war ein Riese. Etwa so groß wie Perry, aber gebaut wie ein Schrank und mit gepiercten Augenbrauen.

»Willst du mir nicht die Hände losbinden?«, fragte Perry. »Dann könnte ich schneller laufen.«

Der Riese grinste hämisch. »Hältst du mich etwa für blöd? Halt die Schnauze und beweg dich.«

Perry verlangsamte seine Schritte so weit wie möglich und sondierte gleichzeitig jeden Gang und jeden Raum, auf der Suche nach Aria und Roar. Und Cinder. Sables Soldaten strömten durch die engen Gänge, aber von Hess’ Männern sah er kaum jemanden.

Kurz darauf kam er an einem Raum mit Wachleuten vorbei. Sie wirkten panisch und ratlos, so als würde der Rest der Welt ein Geheimnis kennen, das man ihnen vorenthalten hatte. Perry schüttelte den Kopf. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen: Sable hatte Hess mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Das war Perry in dem Moment bewusst geworden, als der Riese seinen Raum betreten hatte.

»Steh auf, du Wurm!«, hatte der Hörner-Soldat gehöhnt und ihm ein Bündel zerfetzter Kleidung zugeworfen. »Zieh das an! Zeit zum Aufbruch.«

Doch dafür war es eigentlich viel zu früh. Seit der Besprechung war gerade einmal eine Stunde vergangen und nicht vier, wie Hess prognostiziert hatte.

Nun dröhnte die Stimme des Riesen erneut hinter Perry. »Mach schneller! Beweg dich, oder ich schlag dich k.o. und schleif dich nach draußen!«

Perry wusste nicht, wie das die Angelegenheit beschleunigen sollte. Ihn zu schleppen war deutlich mühsamer – das lag doch auf der Hand.

Unvermittelt stieß der Riese ihn durch eine Tür. Perry stolperte eine Rampe hinab, bis er plötzlich erkannte, dass er nach den langen Tagen im Komodo endlich im Freien war.

Er machte ein paar Schritte über den steinigen Geröllboden und ließ kühle Luft in seine Lungen strömen. Die Nacht roch nach Rauch von den Feuern, die auf den weit entfernten Hügeln schwelten. Seine Haut begann zu kribbeln – das vertraute, vom Äther verursachte Prickeln. Der Himmel war aufgewühlt und leuchtete rot und blau und furchterregend – ein beängstigender Anblick, aber immer noch um ein Vielfaches besser, als in einem kleinen Raum eingesperrt zu sein.

Hovercrafts füllten das gesamte Feld vor ihm, genau wie bei ihrer Ankunft, aber der Komodo erinnerte nicht länger an eine zusammengerollte Schlange. Im Augenblick erstreckte er sich in beide Richtungen, ausgefahren und mit gerade ausgerichteten Segmenten.

»Peregrine!«

Sable stand nicht weit entfernt inmitten einer Gruppe von Männern. Perry brauchte keine motivierenden Stöße von dem Riesen, um direkt auf ihn zuzumarschieren.

»Und? Bereit für die Blaue Stille?« Sable lächelte und deutete mit der Hand auf den Himmel. »Begierig darauf, all das hier hinter dir zu lassen?«

»Wo sind die anderen?«, fragte Perry mit mühsam unterdrückter Wut.

»Cinder sitzt bereits in einem der Hovercrafts und wartet auf dich. Du wirst ihn gleich sehen. Und was die anderen betrifft … Roar ist bestenfalls eine Last, aber nur ein Narr würde so ein hübsches Mädchen wie Aria zurücklassen. Sie wird gleich hier sein. Wenn all das hier hinter uns liegt, hoffe ich doch sehr, sie besser kennenzulernen.«

»Wenn du sie anfasst, zerreiß ich dich mit bloßen Händen in der Luft«, knurrte Perry.

Sable lachte. »Wenn sie nicht hinter deinem Rücken zusammengebunden wären, würde ich mir ja vielleicht Sorgen machen. – Bring ihn weg«, befahl er dem Riesen, der Perry packte und wegschleifte.

Über das gesamte Feld verstreut beluden Hunderte von Männern die Hovercrafts mit Kisten. Bei diesen Truppen handelte es sich um eine Mischung aus Hörnern, die nur wenig über das Beladen der Maschinen zu wissen schienen, Wachleuten, die helfen wollten, und anderen Helfern, die keine Ahnung hatten, was hier vor sich ging. Wütende Rufe hallten hin und her. Es herrschte totales Chaos.

Während der Riese Perry in Richtung eines Dragonwing stieß, bemerkte er bewaffnete Männer entlang der Dachkante des Komodo. Wohin er auch blickte, überall sah er Siedler und Außenseiter, die sich in Scharfschützenposition brachten. Aber Perry konnte nicht sagen, ob sie zusammen oder gegeneinander arbeiteten – eine Frage, die auch ihnen nicht ganz klar zu sein schien.

Umständlich kletterte er in das Hovercraft und warf einen letzten Blick über die Menge, die entlang der Rollbahn hin und her eilte – in der Hoffnung, Aria und Roar zu entdecken.

»Geh weiter, Tider«, knurrte der Riese und versetzte Perry erneut einen Stoß zwischen die Schulterblätter, sodass er in den Dragonwing hineintorkelte.

Perry machte sich auf den Weg zum Cockpit. Cinder kauerte in einem der vier Sitze; er sah aus, als würde er jeden Augenblick einschlafen. Man hatte ihm warme Kleidung gegeben und eine graue Mütze, die genau auf seinen Kopf passte. Ohne die Beruhigungsmittel der Siedler wirkte er bereits gesünder als noch vor wenigen Stunden.

Als Cinder Perry sah, stand ihm die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben. »Die haben gesagt, du würdest gleich kommen. Warum hast du so lange gebraucht?«

»Verdammt gute Frage«, murrte der Riese und drückte Perry in den Sitz neben Cinder.

Ein Siedler, der auf dem Pilotensitz saß, blickte über die Schulter zu Perry. Sein angstverzerrtes Gesicht glänzte vor Schweiß – was zweifellos an der Waffe lag, die ein Mann auf dem Kopilotensitz an seinen Kopf hielt.

»Na, wenn das nicht der berühmte Peregrine von den Tiden ist«, sagte der Mann mit der Waffe grinsend und entblößte dabei eine Reihe brauner, verfaulter Zähne. »So beeindruckend siehst du gar nicht aus.«

»Ist er auch nicht«, bestätigte der Riese.

»Hab gehört, man hat dir die Flügel gestutzt«, höhnte Braunzahn, wobei er die Pistole unverwandt auf den Kopf des Piloten gerichtet hielt.

Während die beiden Hörner lachten, blickte Perry sich rasch um, um sich einen Eindruck von der Situation zu verschaffen. Dabei bemerkte er, dass die Hände des Piloten nicht gefesselt waren – eine Notwendigkeit, denn sonst hätte er das Hovercraft nicht fliegen können. Perry holte tief Luft und hoffte inständig, dass er im Gemütszustand des Mannes noch etwas anderes außer Angst wittern würde.

»Ich werde dir jetzt die Füße fesseln«, setzte der Riese an. »Wenn du versuchst, mich zu treten, jag ich dir eine Kugel durch den Fuß, und danach werde ich dir richtig wehtun. Verstanden?«

»Ja«, sagte Perry, obwohl er es nicht wirklich verstand.

Als der Riese sich vor ihn kniete, trat er zu.

Mit Wucht flog der Kopf des Riesen nach hinten; mehrere abgebrochene Zähne fielen ihm aus dem Mund. Dann sackte er in sich zusammen, und seine massige Gestalt blockierte den schmalen Gang zwischen den Sitzen.

Der Pilot reagierte blitzschnell und stieß die Waffe des Hörner-Soldaten fort. Dieser machte einen Satz, woraufhin die beiden Männer übereinanderstürzten und sich in dem engen Fußraum vor der Instrumententafel hin und her wälzten.

Perry sprang auf und zog instinktiv den Kopf ein, um nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen.

»Was hast du vor?«, fragte Cinder aufgeregt.

»Ich weiß es noch nicht.« Perry konnte nirgends ein Messer oder anderes Werkzeug entdecken, womit er seine Fesseln hätte durchschneiden können. Da er gerade nichts tun konnte, wandte er sich wieder dem Kampf zu und wartete, bis sich endlich eine günstige Gelegenheit zum Eingreifen ergab: Mit Schwung riss er sein Knie hoch und rammte es dem Hörner-Soldaten gegen den Kopf.

Der Mann taumelte eine Sekunde und sackte in sich zusammen – lange genug für den Piloten, um sich auf den Boden zu stürzen und sich die Pistole des Mannes zu schnappen.

Er richtete die Waffe auf Perry, dann auf den Hörner-Soldaten und wieder zurück. Aus seiner Unterlippe strömte Blut und tropfte auf seine graue Uniform. Angst ließ seine Stimmung eiskalt erscheinen – scharfkantig und weiß am Rand von Perrys Sichtfeld.

»Ruhig. Ganz ruhig, Siedler.« Perry konnte die innere Zerrissenheit des Piloten fast spüren: Freund oder Feind? Verbündeter oder Gegner?

»Du bist doch ihr Anführer«, stieß der Mann schließlich keuchend hervor.

Einen Moment dachte Perry, der Pilot würde ihn für Sable halten. Doch dann erkannte er, dass der Mann ihn nicht verwechselte – der Pilot wusste genau, wer er war.

»Das ist richtig«, bestätigte Perry mit ruhiger Stimme. »Und ich bin hier, um zu helfen. Aber dafür brauche ich meine Hände. Du musst also meine Fesseln durchtrennen … Meinst du, dass du das schaffst?«