Aria | Kapitel Siebzehn

»Ich will meinen Vater sehen!«, schrie Soren die Tür an. »Sagt ihm, dass ich ihn sehen will!«

Das Gleiche wiederholte er nun schon seit über einer Stunde immer und immer wieder.

Man hatte sie in einem kleinen Raum mit zwei Etagenbetten eingesperrt, die am Boden festgeschraubt und nur mit dünnen Matratzen ausgelegt waren. Am anderen Ende des Raums gab es einen Verschlag, der gerade genug Platz für eine Toilette und ein Waschbecken bot.

Roar, der neben Aria saß, machte den Eindruck, als würde er sich in der nächsten Sekunde auf Soren stürzen. Eine dunkelrote Beule hatte sich über seinem Auge gebildet, wo er vorhin gegen die Wand geprallt war.

Schließlich drehte sich Soren zu ihnen um. »Keiner hört mich«, sagte er.

»Merkt er das jetzt erst?«, murmelte Roar.

»Du musst gerade reden, Außenseiter. Du bist doch derjenige, der …«

»Halt den Mund«, knurrte Roar durch zusammengebissene Zähne.

»Ich? Wir sind deinetwegen hier drin.«

»Soren, hör einfach auf«, bat Aria.

»Du verteidigst ihn?«

»Wir müssen uns darauf konzentrieren, wie wir von hier fliehen können«, sagte sie. »Dein Vater wird mit dir reden. Er wird herkommen. Wenn es so weit ist, musst du mit ihm verhandeln und herausfinden, wo Cinder und Perry sind …«

Ihre Stimme versagte, als sie Perrys Namen aussprach; sie unterbrach sich und tat so, als hätte sie ihren Satz beendet.

Soren ließ sich auf die untere Etage des gegenüberstehenden Betts fallen und seufzte frustriert. Die Wachen hatten sein Smarteye konfisziert, und seine Kleider waren schlammverkrustet von dem Kampf mit den Dragonwing-Piloten.

Aria reckte sich und schaute auf ihre schmutzige Hose. Das Regenwasser war auf dem leichten Material getrocknet, aber sie fror noch immer und fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Stunden waren vergangen, seit die Wachen den bewusstlosen Perry fortgezerrt hatten. Sie spürte seine Abwesenheit überall, auf ihrer Haut und darunter, in ihren Muskeln und Knochen.

»Du willst, dass ich mit meinem Vater verhandle.« Soren nickte übertrieben heftig. »Klar. Das wird schon klappen. Erinnerst du dich an deine kleinen Treffen mit ihm? Kaffee in Venedig? Tee in Japan? Du hast ihn öfter gesehen als ich, Aria. Und offenbar hat er es auch jetzt nicht gerade eilig, mich zu besuchen.«

»Er ist dein Vater. Er wollte, dass du Reverie zusammen mit ihm verlässt.«

Soren schnaubte verächtlich. »Aber meine Freunde hat er ihrem Schicksal überlassen. Was soll ich ihm überhaupt sagen? ›Entschuldige, dass wir dein Sicherheitssystem gehackt, dich imitiert, dein Hovercraft gestohlen und ein paar von deinen Soldaten getötet haben, aber kannst du uns bitte gehen lassen?‹«

»Noch ein Wort, Siedler, und ich tue dir weh!«, zischte Roar bedrohlich.

Soren verstummte, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er schüttelte den Kopf und ließ sich mit einem dumpfen Geräusch auf die Matratze fallen.

»Ein Wunder«, sagte Roar leise. Er zog die Knie an und vergrub den Kopf in den Händen.

Sein Anblick führte Aria ihre eigene Verzweiflung vor Augen. Wie lange würden sie hier wohl noch eingesperrt sein? Was planten Hess und Sable mit ihnen? Marron hatte gesagt, dass die Ätherstürme in ein paar Tagen überall auftreten konnten und nicht mehr aufhören würden. Trat das gerade ein, im Himmel über dem Komodo? Mit jeder Sekunde, die sie hier festsaßen, verringerten sich ihre Überlebenschancen.

Sie schaute auf die verletzte Hand, die auf ihrem Oberschenkel lag. Ganz bestimmt gab es einen Ausweg – sie musste ihn nur finden.

»Soren«, setzte sie nach einer Weile an.

»Was ist?«, entgegnete er müde.

»Wenn Hess dich holen kommt, sag ihm, dass ich ihn ebenfalls sehen muss.«

 

Einige Zeit später erwachte sie, zusammengerollt auf der harten Matratze. Roar stand in der Mitte des Raums und starrte gedankenverloren vor sich hin, während seine Hand mit einer unsichtbaren Klinge spielte. Aria hatte ihm hundert Mal dabei zugesehen, wenn der Stahl zwischen seinen Fingerspitzen aufblitzte: So verhielt er sich immer, wenn er rastlos war. Doch jetzt waren seine Hände leer.

Soren war verschwunden.

Roar hielt inne, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, und die Schamröte stieg ihm in sein markantes Gesicht. Er setzte sich ihr gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hattest recht. Vor einer Stunde kamen die Wachen, um Soren zu Hess zu bringen.« Roar deutete mit dem Kopf zur Tür. Eine Plastikflasche und zwei Tabletts standen auf dem Boden. »Sie haben Essen gebracht. Zuerst wollte ich dich wecken, aber ich hatte den Eindruck, dass du dringend Schlaf brauchtest. Außerdem sieht es scheußlich aus.«

Aria setzte sich auf, noch ganz benommen. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ein paar Stunden.«

Eigentlich hatte sie nicht einschlafen wollen, aber die Schmerzen in ihrem Arm zehrten an ihren Kräften, und sie hatte sich schon über einen Tag nicht ausruhen können. Sobald sie auf dem Bett lag, waren ihr die Augen zugefallen.

»Hast du etwas gegessen?«, fragte sie. Beide Tabletts sahen unberührt aus.

Roar zuckte die Achseln. »Ich könnte jetzt eine Flasche Luster vertragen, aber sonst nichts.«

Sie schaute ihn nachdenklich an und kaute auf ihrer Unterlippe. Roar war schon immer dünn gewesen, aber seit Kurzem traten seine Wangenknochen stärker hervor, und er hatte dunkle Ränder unter den Augen.

Sie hatte ebenfalls keinen Appetit, nahm aber das Wasser und setzte sich zu ihm aufs Bett. Nachdem sie einen kräftigen Schluck getrunken hatte, reichte sie ihm die Flasche.

»Das ist kein Luster.«

»Trink einfach.«

Roar folgte ihrer Aufforderung.

»Warum haben sie ihn abgeholt? Warum Perry und nicht uns?«

»Du weißt, warum, Aria.«

Sein herablassender Ton gefiel ihr nicht. Aber noch weniger gefiel es ihr, dass ihre Befürchtungen bestätigt wurden.

Hess und Sable hatten Perry wegen seiner Verbindung zu Cinder mitgenommen. Sie wollten ihn benutzen.

Roar sagte kein weiteres Wort mehr. Während die Minuten vergingen, spürte sie, wie er sich immer weiter in sich zurückzog. Aria kratzte verkrusteten Schlamm von ihrer Uniform ab; sie hasste die nicht enden wollende Stille, in der nur ihrer beider Atem zu hören war.

Stille passte zu Perry, aber nicht zu Roar.

Aria brach das Schweigen jedoch auch nicht. Sie wollte Roar nicht die Schuld dafür geben, dass sie gefangen genommen worden waren, so wie Soren es vorhin getan hatte. Denn sobald sie etwas sagte, würde sie vermutlich auch davon anfangen.

Roar stellte die Wasserflasche ab. »Habe ich dir schon mal erzählt, wie Liv, Perry und ich für Vale Pferde begutachten sollten?«, fragte er und lehnte sich wieder zurück.

»Nein«, sagte sie und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er redete wieder, und das hatte sie gewollt. Er würde von Liv und Perry erzählen, wie er es schon oft getan hatte. Aber damals war Liv noch am Leben gewesen. »Die Geschichte kenne ich noch nicht.«

Roar nickte. »Es ist schon ein paar Jahre her. Damals waren Händler mit Pferden aus dem Norden ins Shield Valley gekommen, und Vale schickte uns los, damit wir sie uns ansahen. Liv und ich müssen damals siebzehn gewesen sein, Perry ein Jahr jünger.«

Er machte eine Pause und kratzte sich über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn. Aria wusste nicht, wie es ihm gelang, so normal zu klingen – denn nichts an dieser Geschichte, diesem Ort oder ihrer Situation war normal.

»Wir haben die Pferde nie zu Gesicht bekommen. Wir waren noch keine Stunde im Lager der Händler, als eine Bande von Versprengten auftauchte. Eine Gruppe wie die Sechs. Harte Männer, die einem die Kehle durchschnitten, wenn man sie nur komisch ansah. Wir versuchten, uns von ihnen fernzuhalten, aber wie sich herausstellte, warteten wir alle gemeinsam darauf, den Pferdemeister zu treffen.

Diese Männer erkannten Liv sofort. Sie wussten, dass sie Vales Schwester war, verspotteten sie und machten anzügliche, widerwärtige Bemerkungen … Es passte nicht zu Liv, den Mund zu halten, ebenso wenig wie zu Perry – und schon gar nicht zu mir, aber sie waren in der Überzahl. Perry und Liv beherrschten sich mühsam, aber nach ungefähr zehn Sekunden hatte ich genug gehört: Ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich nicht irgendetwas unternommen hätte.

Also ging ich auf einen von ihnen los, und schon bald kämpfte ich gegen neun. Natürlich kamen Perry und Liv mir zu Hilfe, und für kurze Zeit waren wir alle ineinander verkeilt, bis sich der Knoten löste. Liv und ich kamen mit ein paar Kratzern davon, aber aus Perrys Nase lief Blut, und er hatte sich einen oder zwei Finger gebrochen. Zumindest nahmen wir das an: Sie waren zu sehr geschwollen, um es genau sagen zu können. Außerdem hatte er sich den Fuß verstaucht, und an seinem Unterarm klaffte eine Schnittwunde.«

Die Muskeln an Roars Hals bewegten sich, als er schluckte. »Ihn so übel zugerichtet zu sehen war genauso schlimm, wie diese Dinge über Liv zu hören. Eigentlich war es sogar noch schlimmer, denn schließlich wurde Perry meinetwegen verletzt.«

Endlich begriff Aria, worum es in der Geschichte ging. Roar hatte Angst. Er fürchtete, Perry könnte erneut seinetwegen verletzt werden – weil er beschlossen hatte, Sable zur Strecke zu bringen, statt zu fliehen, als sie die Chance dazu gehabt hatten.

Am liebsten hätte sie ihm geantwortet, dass mit Perry bestimmt alles in Ordnung war, aber das gelang ihr nicht. Sie war zu nervös, fürchtete selbst, dass mit Perry eben nicht alles in Ordnung war.

Stattdessen sagte sie: »Langsam kommt es mir so vor, als ob ihm in jeder Geschichte, die du mir erzählst, die Nase gebrochen wird.«

Roar zog eine Augenbraue hoch. »Du hast es also gesehen, nicht wahr?«

»Ja.« Aria umschlang ihre Knie und ignorierte den Schmerz, der in ihrem rechten Arm pochte. Sie rief sich Perrys Gesichtsausdruck in Erinnerung, als er die Hand ans Herz gelegt hatte. »Ich sollte dir danken. Ich mag diese Nase so, wie sie ist.« In Wahrheit liebte sie sie sogar.

»Du kannst mir danken, falls wir hier rauskommen.«

»Wenn wir hier rauskommen.«

Roar runzelte die Stirn. »Genau … wenn

Plötzlich öffnete sich die Tür mit einem Zischen, und sie sprangen auf.

Drei von Sables Männern traten ein. Zwei von ihnen trugen das Symbol der Hörner – ein Geweih – in Rot auf die schwarze Uniform gestickt, aber bei dem dritten Mann war diese Stickerei in Silber ausgeführt. Alle drei trugen Siedler-Pistolen an ihren Gürteln.

»Dreht euch um und legt die Hände auf den Rücken«, ordnete einer von ihnen an.

Aria rührte sich nicht. Sie konnte den Blick nicht von dem ältesten Soldaten abwenden, dem Anführer mit dem silbernen Geweih. Sie erkannte ihn als den Mann, der mit Liv auf dem Innenhof in Rim trainiert hatte, als sie und Roar dort angekommen waren.

Sie schüttelte die Erinnerung ab. »Wo bringt ihr uns hin? Wo sind Peregrine und Cinder?«

Der Anführer kniff die Augen zusammen, als überlege er angestrengt, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Dann wanderte sein Blick hinab zu ihrem verletzten Arm, den sie an die Seite gepresst hielt. Er musterte sie so eindringlich, dass ihr vor Verunsicherung das Blut in den Ohren dröhnte. Neben sich spürte sie Roars Anspannung. Er hielt den Atem an, und sie fragte sich, ob er den Soldaten ebenfalls erkannt hatte.

»Ich habe Befehl, euch zu Sable zu bringen«, sagte der ältere Mann schließlich. »Ich bin befugt, wenn nötig Gewalt anzuwenden, um diese Anweisung auszuführen. Ist das klar?«

»Ich kann meine Hände nicht auf den Rücken legen«, sagte Aria. »Ich wurde vor einer Woche angeschossen.« Allein bei der Vorstellung des Schmerzes wurde ihr schwindlig.

»Was soll mit ihr passieren, Loran?«, fragte einer der beiden anderen Männer.

»Ich kümmere mich um sie«, antwortete der ranghöhere Soldat.

Loran. Aria erinnerte sich an den Namen: Liv hatte ihn an jenem Nachmittag auf dem Burghof gerufen, nachdem sie den Mann besiegt hatte.

Roar wurden die Hände mit einem Plastikband vor dem Körper gefesselt. Dann packte Loran sie am linken Arm und zerrte sie hinaus auf den Gang.