Peregrine | Kapitel Zweiundvierzig
Der Dragonwing beschleunigte ruckartig und presste Perrys Rücken fest in den Sitz, während Cinder erneut aufkeuchte.
Dann passierte ihr Luftkissenfahrzeug sämtliche anderen Hovercrafts, einen nach dem anderen, bis sie schließlich die Spitze bildeten und vor ihnen nur noch Äther zu sehen war, wohin sie auch blickten.
»Ihr müsst uns sagen, wie nah wir euch ranbringen sollen«, dröhnte Sables Stimme durch den Lautsprecher.
Perry schaute zu Cinder, der ihn mit großen Augen ansah und die Achseln zuckte.
Diese Reaktion war so aufrichtig, dass Perry lächeln musste. Keiner von ihnen hatte sich je in dieser Situation befunden – sie konnten alle nur raten, wie nah das Hovercraft an die Barriere heranfliegen sollte.
Seltsamerweise fühlte Perry sich plötzlich besser, und er konnte wieder klarer denken. Er hatte den Tiden alles gesagt, was es zu sagen gab. Jetzt war die Zeit zum Handeln gekommen, und dabei fühlte er sich immer am besten.
Im nächsten Moment ruckte das Luftkissenfahrzeug erneut vorwärts, und Perry wurde wieder in den Sitz gedrückt. Dann begann das Hovercraft zu vibrieren. Das Instrumentenbrett erwachte zum Leben, etliche rote Warnlampen leuchteten auf, und ein schrilles Signal erfüllte das Cockpit.
»Das reicht!«, brüllte Cinder. »Wir sind nah genug!«
Sofort verringerte der Dragonwing seine Geschwindigkeit und schwebte schwankend auf der Stelle. Direkt unter ihnen war die See noch rauer und türmte sich zu hohen Wellenbergen auf. Perry schätzte, dass sie noch etwa einhundertfünfzig Meter von der Barriere trennten. Am liebsten hätte er einen Pfeil dagegengeschossen … ein Dutzend Pfeile. Gern wäre er derjenige gewesen, der diesen Äthervorhang durchbrochen und niedergerissen hätte.
»Es wird Zeit, dein Versprechen einzuhalten, Cinder«, forderte Sable. »Sobald du die Barriere geöffnet hast, werden wir euch beide nach Hause holen. Willow wartet schon auf dich.«
Cinder starrte mit trübem Blick vor sich hin. Tränen quollen aus seinen Augen und liefen ihm über die Wangen.
Perry löste seinen Gurt und stand auf; er wusste, ihm stand die schlimmste Aufgabe seines Lebens bevor. Er ließ sich auf die Knie sinken, um in dem schwankenden Hovercraft nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und löste dann Cinders Sicherheitsgurt.
»Ich bin bei dir«, sagte er und hielt dem Jungen seine Hand entgegen. »Ist schon okay, ich bin hier.«
Cinders Arm zitterte wie Espenlaub, als Perry ihm auf die Beine half.
Vorsichtig tasteten sie sich zu dem kleinen Laderaum hinter dem Cockpit vor, wobei Perry Cinder stützen musste.
Dann schwang die Luke auf. Sofort peitschten Wind und Gischt durch die Öffnung herein. Die kühle Brise schmeckte nach Salz. Es war der Geschmack von Perrys Heimat; allerdings lag auch ein Prickeln in der Luft, das seine Augen und seine Haut wie mit Nadelstichen attackierte.
Der Äthervorhang wirbelte und strudelte direkt vor ihm; Sables Piloten hatten den Dragonwing gedreht und parallel dazu ausgerichtet. Ein paar Sekunden lang starrte Perry sprachlos auf das wallende Lichtband, unfähig, den Blick abzuwenden, bis er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Cinder stand zusammengekrümmt in einer Ecke des Laderaums; sein Rücken hob und senkte sich, während er sich übergab.
»Was ist los? Wo seid ihr?«, dröhnte Sables drängende Stimme durch die Lautsprecher. »Ich kann euch nicht sehen!«
»Gib uns eine Minute!«, fauchte Perry.
»Wir haben aber keine Minute! Holt Aria her! Sofort!«, befahl Sable.
»Nein! Wartet ab, habe ich gesagt!«
Inzwischen hatte Cinder sich erholt und richtete sich auf. »Tut mir leid … aber das Ding schwankt so furchtbar.«
Erleichtert atmete Perry auf, als er erkannte, dass Cinder nur seekrank war und sich nicht vor lauter Angst übergeben hatte. »Ist schon okay. Hätte mir genauso passieren können, bei der Schaukelei.«
Cinder lächelte matt. »Danke«, sagte er. »Dafür, dass du hier bei mir bist.«
Perry nickte verständnisvoll. »Möchtest du, dass ich mich direkt neben dich stelle?«
Doch Cinder schüttelte den Kopf. »Nein, ich schaff das schon.«
Er ging zur Ladekante und stützte sich mit einer Hand am Rahmen der Luke ab. Dann schloss er die Augen, und die Furcht verschwand aus seinem Gesicht. Ein netzartiges Äthergeflecht breitete sich unter seiner Haut aus, kletterte über seinen Hals hoch zum Kiefer und schließlich bis hinauf zum Schädel.
Cinder wirkte vollkommen entspannt. Die Welt um ihn herum toste, doch ihm war davon nichts anzumerken. Während Perry hinter Cinder stand und ihn beobachtete, hatte er das Gefühl, als würde die Welt für den Jungen tosen.
Sekunden verstrichen. Perry fragte sich allmählich, ob Cinder es sich vielleicht anders überlegt hatte.
»Peregrine«, blaffte Sables Stimme, »sieh zu, dass er …«
Doch da wurde Perry von einem gewaltigen Windstoß erfasst und nach hinten geworfen, wo er gegen die Rückwand des Laderaums prallte.
Cinder hatte sich nicht bewegt. Er stand wie angewurzelt in der offenen Luke.
Vor ihm bildete sich ein Riss in der Barriere – eine schmale Öffnung, um die die Ätherströme herumflossen wie um einen Fels in einem Fluss.
Der Spalt schien kaum der Rede wert, maximal zehn Meter breit. Nicht einmal groß genug für den kleinen Dragonwing, ganz zu schweigen von den anderen Luftkissenfahrzeugen.
Doch durch die Öffnung konnte Perry die dahinterliegende Welt deutlich erkennen: ein blauer Ozean in hellem Sonnenschein. Das goldene Licht, das er durch den Äthervorhang hatte schimmern sehen, wirkte jetzt noch wärmer. Und dann entdeckte Perry den Himmel: ein endloser, strahlend blauer Himmel.
»Worauf wartet er noch? Das reicht nicht!«, brüllte Sable.
Doch es hatte keinen Zweck, jetzt mit Cinder reden zu wollen. Perry hatte ihn schon mehrfach in diesem Zustand erlebt. Der Junge befand sich an einem anderen Ort, für seine Umgebung nicht mehr erreichbar.
»Peregrine!«, schrie Sable.
Während die Sekunden verstrichen, verspürte Perry ein Gefühl der Erleichterung. Vielleicht gelang ihnen der Durchbruch ja nicht, aber dafür würde Cinder am Leben bleiben.
Der Erleichterung folgte rasch Entsetzen. Was sollten sie nun tun? Sich durch die Barriere zwängen, in der Hoffnung, das Ganze irgendwie zu überstehen? Die Alternative erschien auch nicht viel besser: Zur Höhle konnten sie nicht zurückkehren.
Im selben Moment drehte Cinder sich um und heftete einen flammenden Blick auf ihn – und Perry verstand.
Der Junge hatte gerade erst angefangen … nur einen Probelauf durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Kraft ihn das Ganze kosten würde. Der Ausdruck in Cinders Augen verriet Perry die Antwort.
Schließlich wandte Cinder sich wieder dem Äther zu.
Perry sah, wie um sie herum plötzlich alles weiß wurde, und dann sah er nichts mehr.