Peregrine | Kapitel Achtundzwanzig
Als der Komodo ruckartig zum Stehen kam, setzte Perry sich auf und zählte die Sekunden. Um ihn herum herrschte völlige Dunkelheit.
Fünf.
Zehn.
Fünfzehn.
Das reichte – er konnte nicht länger untätig herumsitzen.
Vorsichtig erhob er sich vom Feldbett und setzte seine nackten Füße lautlos auf den kalten Boden. Seine Augen benötigten eigentlich nur wenig Licht, um irgendetwas erkennen zu können, doch um ihn herum herrschte tiefste Dunkelheit – weit und breit kein einziger Lichtpunkt. Nichts außer unfassbarer Finsternis, so dicht und erdrückend wie eine Eisenplatte.
Perry fand die Wand, folgte ihr und tastete sich bis zur Tür. Dort hielt er inne und lauschte angestrengt. Von draußen drangen gedämpfte Geräusche herein – zwei Männer, die miteinander stritten.
Er konnte nicht sagen, ob es Wachleute oder Hörner waren, doch letztlich machte das keinen Unterschied.
Kurz dachte er daran, sich auf die Suche nach einer Waffe zu machen, verwarf den Gedanken dann aber. In seinem Raum befanden sich nur ein paar Handtücher und das Feldbett, dessen Beine am Boden festgeschraubt waren. Man hatte ihm noch nicht einmal Schuhe oder ein Hemd gegeben, aus Angst, er könnte sie in Waffen verwandeln. Möglicherweise hätte er das ja auch getan, aber da ihm nichts davon zur Verfügung stand, musste er eben improvisieren.
Perrys Hände glitten über die Schalttafel, die neben der Tür in die Wand eingelassen war. Hess und die Wachen hatten sich damit Zugang zu seinem Raum verschafft, aber ohne Strom war die Schalttafel nutzlos – was bedeutete, dass auch der Schließmechanismus möglicherweise nicht mehr funktionierte.
Ein paar Sekunden lang machte Perry sich mit der Entriegelungsstange vertraut, dann löste er den Griff und zog daran. Die Tür glitt zur Seite.
Im Gang lieferten sich zwei Wachleute ein von Panik erfülltes Wortgefecht. Perry entdeckte sie sofort, da beide die rote Laserzielhilfe an ihren Waffen als Beleuchtung benutzten. Einer der beiden stand nur wenige Schritte von ihm entfernt, mit dem Rücken zu ihm; der andere befand sich am anderen Ende des Gangs. Beim Geräusch der sich öffnenden Tür verstummten beide abrupt.
»Was war das?«, fragte der Wächter in Perrys Nähe, wirbelte herum und spähte in die Dunkelheit.
Der rote Laserstrahl an der Waffe des zweiten Wachmanns schweifte in Perrys Richtung.
»Halt! Keine Bewegung!«, brüllte der Mann.
Keine Chance. Mit einem Satz überbrückte Perry die wenigen Schritte bis zum ersten Wachmann, überlegte kurz, ihm mit seinen geschwollenen Fingerknöcheln einen Kinnhaken zu verpassen, besann sich jedoch eines Besseren und stieß ihm stattdessen den Ellbogen ins Gesicht. Ein heißer Schmerz schoss durch seine Muskeln, doch er schnappte sich die Waffe und rammte dem Mann den Lauf in den Magen.
Der Wächter krümmte sich zusammen und sank zu Boden.
Am anderen Ende des Gangs eröffnete der zweite Wachmann das Feuer.
Hinter Perry explodierte etwas mit einem lauten metallischen Ting. Er ließ sich auf die Knie fallen, riss die Waffe an die Schulter, zielte auf die Beine des Mannes und drückte ab.
Nichts passierte. Der Sicherungshebel! Etwas, woran er bei seinem Bogen nie zu denken brauchte. Perry entsicherte die Waffe, drückte erneut ab … und dieses Mal verfehlte er sein Ziel nicht.
Dann rappelte er sich auf und flog vor Tatendrang förmlich durch den Gang. Er musste etwas unternehmen – Cinder finden und Aria und Roar. Solange Hess und Sable mit der Krisensituation beschäftigt waren, bot sich ihnen die Möglichkeit zur Flucht.
Als Perry etwa die Hälfte des Gangs hinter sich gebracht hatte, blendete ihn plötzlich der grelle Lichtstrahl einer Taschenlampe. Er riss eine Hand hoch, um seine Augen abzuschirmen, und blinzelte einen Moment, bis er Hess am anderen Ende des Gangs auftauchen sah.
Etwa ein halbes Dutzend Wachleute standen mit erhobenen Waffen um ihn herum und forderten Perry auf, seine Waffe fallen zu lassen.
Zahlenmäßig und waffenmäßig unterlegen, stieß Perry einen Fluch aus und ließ die Waffe zu Boden fallen.
Hastig kam Hess näher und warf dabei einen Blick auf die Wachleute, die Perry ausgeschaltet hatte. »Du machst es einem wirklich nicht leicht, dich zu mögen, Außenseiter.« Der helle Lichtstrahl schwang zum Ende des Gangs. »Bringt sie in die Krankenstation«, befahl Hess den Männern hinter ihm, bevor er sich wieder an Perry wandte: »Wir haben nur ein paar Minuten Zeit. Komm mit. Schnell.«
Perry folgte ihm. Die Wachleute schlossen sich ihnen an, während Hess voranlief und sie hastig durch die Gänge des Komodo führte. Perry hätte die Wände am liebsten mit bloßen Händen niedergerissen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viel Zeit im Inneren eines Gebäudes verbracht.
Wesentlich schneller als erwartet blieb Hess vor einem Raum stehen und öffnete die Tür. Perrys Blick fiel auf Aria, Roar und Soren, als das Licht von Hess’ Taschenlampe von einem verblüfften Gesicht zum nächsten wanderte.
Weder Roar noch Soren verbargen ihren Schock, als sie die dunklen Beulen auf Perrys Armen und Brustkorb sahen. Vor Scham stieg ihm das Blut in die Wangen, doch er blieb ruhig stehen, wie immer kampfbereit. Sofort drängte Aria an seine Seite und verschränkte behutsam ihre Finger mit seinen. Ihre Berührung schenkte ihm Kraft und Mut.
Hess postierte zwei Männer auf dem Gang und wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte. Dann wandte er sich an die anderen: »Wir haben nicht viel Zeit – was bedeutet, dass ihr mir zuhört und nur dann redet, wenn ich euch dazu auffordere.« Er schwieg, woraufhin die anderen näher kamen, einen engen Kreis um ihn bildeten und darauf warteten, dass er fortfuhr. Soren lächelte, unfähig, seinen Stolz zu verbergen. Hess begrüßte seinen Sohn mit einem Kopfnicken und richtete dann den Strahl der Taschenlampe auf ihre Füße, sodass ein Lichtkegel auf dem Boden entstand.
»Wenn wir uns verbünden wollen«, setzte Hess an, »wenn ich deinen Stamm in die Blaue Stille transportieren soll, Peregrine, dann muss Sable vertrieben werden. Seine Männer müssen von diesem Schiff und meiner Hovercraft-Flotte verjagt werden. Das erfordert jedoch Planung und sorgfältige Koordination.«
Perry spürte, wie Aria sich neben ihm regte. Offenbar hatte sie damit gerechnet: Sable war dabei, die Kontrolle zu übernehmen. Hess konnte ihn nicht länger ignorieren – er wechselte die Seiten. »Wie lange brauchen Sie, Hess?«
»Acht Stunden. Wir brechen morgen früh auf.«
»Nein. Das ist zu lange.«
»Du stellst schon jetzt Forderungen, Peregrine?«
»Sie haben bereits den ersten Schlag hinnehmen müssen: Sable kommandiert einen Teil Ihrer Männer. Er wird sie alle auf seine Seite ziehen, wenn Sie ihm genügend Zeit dazu geben.«
»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Genau aus diesem Grund muss ich herausfinden, wie tief er unsere Reihen bereits infiltriert hat, bevor wir auch nur einen Schritt machen können. Ein Putsch funktioniert nur dann, wenn ich meinen Leuten vertrauen kann. In acht Stunden, wenn alles vorbereitet ist, werden wir den Komodo zurücklassen und die Hovercrafts in unsere Gewalt bringen.«
»Geben Sie mir ein Messer«, forderte Roar, »dann beende ich diese Geschichte in zehn Minuten.«
»Meinst du, ich hätte das nicht längst in Erwägung gezogen?«, konterte Hess. »Was glaubt ihr denn, was die Hörner tun werden, wenn Sable aus dem Weg geräumt ist? Einfach ihre Waffen niederlegen und sich ergeben?«
Perry wusste, dass sie das nicht tun würden. Solange ihr Überleben auf dem Spiel stünde, würden sie weiterkämpfen, ob mit oder ohne Sable. Wenn die Tiden einen Platz in dieser sinnbildlichen Arche wollten, mussten die Hörner ausgeschaltet werden – jeder Einzelne von ihnen. »Zwei Stunden, Hess.«
»Nicht zu machen. Ich brauche Zeit, um alles in aller Stille vorzubereiten, sonst erfährt Sable davon. Er hat überall Augen. Sable ist gerissen, berechnend und organisiert. Ein Albtraum auf zwei Beinen. Ein Dämon, der ein Lächeln zeigt, während er einem die Fangzähne in den Leib schlägt.«
»Er ist ein Mensch«, widersprach Perry ruhig. »Das werde ich Ihnen beweisen, wenn ich ihm das Herz herausschneide.«
Diese Bemerkung schien zu Hess durchzudringen. Konzentriert runzelte er die Stirn, während seine schmalen Augen Perry musterten. »Vier Stunden. Und keine Sekunde weniger.«
Perry akzeptierte den Kompromiss und nickte. Dann warf er Roar und Aria einen Blick zu: Am liebsten hätte er dafür gesorgt, dass sie den Komodo so schnell wie möglich verließen, aber Sable durfte keinen Verdacht schöpfen. Das bedeutete, dass sie hierbleiben mussten.
»Was ist, wenn Sable von diesem Treffen erfährt? Von unseren Plänen?«, fragte Aria.
»Im Augenblick kämpfen wir mit einer bedauerlichen, durch einen Äthersturm verursachten mechanischen Funktionsstörung, die sich zufälligerweise gerade in dem Moment ereignet, in dem sich Sable und die meisten seiner Männer in anderen Segmenten des Komodo aufhalten«, erklärte Hess. »Die wenigen Hörner, die sich in diesem Teil befinden, leiden unter einem vollständigen Stromausfall. Meine Männer beobachten sie mit Nachtsichtgeräten, während sie hilflos durch die Dunkelheit stolpern.«
»Dann haben Sie diese Panne also bewusst herbeigeführt?«, hakte Aria nach.
»Sable ist tief in unsere Reihen vorgedrungen. Das war die einzige Möglichkeit.« Hess richtete die Taschenlampe auf Perry. »Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass einer meiner Gefangenen über eine natürliche Nachtsichtfähigkeit verfügt. Du hättest alles ruinieren können, wenn ich dich nicht abgefangen hätte.«
Perry schwieg. Der inszenierte Zusammenbruch des Komodo als Tarnung für ihr geheimes Treffen war ein gerissener Schachzug. Er konnte nur hoffen, dass es Hess auch weiterhin gelang, Sable auszumanövrieren. »Sie müssen sich von ihm fernhalten«, warnte er Hess. »Sable wird es merken, wenn Sie ihn hintergehen wollen – genau wie ich es merken würde.«
Hess wischte den Einwand mit einer abschätzigen Handbewegung fort. »Darum kümmere ich mich schon.«
»Nein, Sie verstehen das nicht. Sable wird Ihr Misstrauen … Ihren Plan, ihn zu betrügen, wittern.«
»Ich habe gesagt, dass ich mich darum kümmern werde«, wiederholte Hess. »Vier Stunden. Bis dahin denkt ihr nicht einmal daran, den Komodo zu verlassen. Und ich brauche eine Zusicherung deinerseits, Peregrine. Wenn ich das hier tue, musst du mir versprechen, dass du Cinder dazu bringst, die Ätherbarriere zu durchbrechen. Sieh zu, dass er sich an die Abmachung hält, sonst ist unser Handel geplatzt.«
Perry spürte ein mulmiges Gefühl im Magen, hielt Hess’ Blick aber unbeirrt stand. »Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Langsam wich die Anspannung aus Hess’ Gesicht. »Gut.«
Aria rückte etwas näher. Perry spürte ihren Arm an seinem, konnte sie aber nicht anschauen. Er wollte ihre Enttäuschung nicht sehen – oder ihre Zustimmung. Obwohl kaum eine Sekunde verstrichen war, hätte er sein Versprechen am liebsten sofort zurückgenommen.
»Ist das alles?«, fragte Hess.
»Nein«, erwiderte Perry. »Ich brauche dringend was zum Anziehen.« Seine eigene Kleidung wäre natürlich am besten gewesen – das beruhigende Gewicht und robuste Gefühl von Leder und Wolle auf seiner Haut. Aber er würde sich mit allem begnügen, was die von Sable verursachten Verletzungen und Blutergüsse verdecken konnte.
Hess nickte. »Selbstverständlich.«
Im nächsten Moment flackerte die Notbeleuchtung auf und tauchte den kleinen Raum in dunkelrotes Licht.
»Schnell!«, drängte Hess. »Uns läuft die Zeit davon. Zurück in deine Zelle!«
Hastig zog Perry Aria an die Brust und schlang die schmerzenden Arme um sie. Dann fing er Roars Blick auf. »Beschütz sie bitte.«
Roar nickte. »Natürlich. Mit meinem Leben.«
Perry drückte Aria noch schnell einen Kuss auf den Scheitel, dann stürmte er zurück durch die dunklen Gänge, bis er wieder in seiner Zelle saß.