Aria | Kapitel Einunddreißig

Während Aria durch die engen Gänge lief, konnte sie beobachten, wie sich der Komodo in seine Bestandteile auflöste. Siedler und Hörner drängten hektisch an ihr vorbei, ihre panikerfüllten Stimmen hallten schrill in Arias Ohren. Niemand wusste, was los war. Nur eines stand fest: Die Hovercrafts machten sich zum Abflug bereit, und jeder versuchte verzweifelt, sich einen Platz zu sichern.

Nur Aria nicht.

Sie lief immer weiter, vorbei an umherirrenden Siedlern, bis sie schließlich ihre Zelle erreichte. Die Tür stand sperrangelweit offen. Aria stürmte hindurch und starrte benommen auf die leeren Etagenbetten.

Kein Soren und auch kein Roar.

Aria fluchte. Wo steckten die beiden? Entschlossen rannte sie in den Gang zurück, bog um eine Kurve und wäre fast gegen Roar geprallt.

Er zog sie an sich und fragte mit leiser, aber vorwurfsvoller Stimme: »Wo bist du gewesen? Ich hab überall nach dir gesucht.«

»Wie seid ihr aus dem Raum rausgekommen?«, fragte Aria.

»Ist das dein Ernst?« Soren verlangsamte sein Tempo nur unwesentlich. »Könnt ihr darüber nicht später reden?«

Roar griff hinter sich und zog eine Pistole aus dem Hosenbund, die er Aria reichte. »Hess hat uns holen lassen«, beantwortete er ihre Frage. »Er hat irgendwas vor. Offenbar versucht er, Sable aufzuhalten.«

Soren erreichte als Erster die schwere Tür und stieß sie auf. Ein kühler Luftzug streifte Arias Gesicht, als sie hinaussprintete. Endlich konnte sie den Komodo verlassen.

Bei der Hovercraft-Flotte hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Wachleute und Hörner bezogen überall Stellung und verteilten sich über das Feld, allerdings in getrennten, grau und schwarz schimmernden Gruppen. Ihre Stimmen klangen angespannt und drohend, wie knurrende Hunde vor dem ersten Biss. Rund um das Gelände herum blitzten Äthertrichter auf und schlugen grelle Schneisen durch den Nachthimmel, aber der Komodo befand sich unter einer etwas ruhigeren Luftströmung – zumindest im Moment noch.

»Wo ist Perry?«, rief Aria, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnten. Doch sie konnte nicht über die Menschen hinwegsehen, die um sie herumstanden.

Roar sondierte das Feld, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kann ihn nirgends finden. Vermutlich sitzt er mit Cinder bereits in einem der Hovercrafts. Aber ich weiß, wer uns diese Frage beantworten kann.«

Sable.

Plötzlich ging ein Aufschrei durch die Menge, und der Boden begann zu beben – er vibrierte förmlich unter Arias Füßen. Rasch blickte sie zum Himmel und fragte sich, ob sie den Äthersturm vielleicht falsch eingeschätzt hatte. Über ihr wirbelten blaue und feuerrote Sturmwogen, aber sie konnte keine Trichter erkennen.

»Der Komodo!«, brüllte Soren.

Aria verstand nicht, was er meinte. Um sie herum stürmten die Leute auseinander und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Als sich die Menge etwas lichtete, konnte Aria den Komodo sehen … oder besser seine Segmente. Die Kommandozentrale hatte sich in individuelle Abschnitte aufgeteilt, die schwarz und gedrungen wie riesige Käfer auf ihren Gleisketten vorwärtsrollten, während das Dröhnen ihrer Maschinen die Luft erfüllte.

Hastig schaute Aria auf die andere Seite des Feldes. Die Komodo-Segmente riegelten die Rollbahn ab. Aus ihren Dächern fuhren Geschütztürme in die Höhe, die Läufe auf die Hovercrafts gerichtet, und Scharfschützen bezogen Position.

Hess. Er würde Sable die Hovercrafts nicht kampflos überlassen.

Aria packte Soren am Arm. »Ist das der Plan deines Vaters? Uns alle zu erschießen

Soren schüttelte den Kopf. »Nicht uns. Aber er muss für Sable ein klares Zeichen setzen.«

»Wir stehen hier alle zusammen, Soren! Sieh dich doch mal um.«

»Aber es könnte funktionieren! Allerdings sollte er sich darauf vorbereiten, dass …«

»Sable!«, brüllte Hess da.

Beim Dröhnen von Hess’ erhobener Stimme rannte Soren los. Aria setzte ihm nach und fädelte sich durch die Menschenmenge, in der Hoffnung, dass Roar ihr ebenfalls folgte.

Endlich ließ sie das dichteste Gedränge hinter sich und erreichte den Rand der Menge, die einen Kreis gebildet hatte. In der Mitte des Kreises stand Hess. Allein.

Er trug eine Militäruniform, hielt eine Waffe in der Hand und hatte sein Smarteye angelegt.

»Sable!«, brüllte er erneut und suchte in der Menge um sich herum. »Ich weiß, dass du hier bist! Jetzt pass mal gut auf und sieh dir an, was passiert, wenn du mich zum Handeln zwingst!«

Im nächsten Moment riss eine gewaltige Explosion Aria von den Füßen. Sie fiel rückwärts zu Boden, während sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst wurde und sie einen endlosen Augenblick wie betäubt vor sich hin starrte. Dann rollte sie sich zusammen, presste die Hände auf die Ohren und schnappte keuchend nach Luft. Der Knall der Explosion hatte ihre Trommelfelle beschädigt, und ein stechender Schmerz jagte durch ihren Schädel. Aria konnte nichts hören, nicht einmal ihren eigenen Hustenanfall, nur das Rauschen ihres Blutes und ihren Herzschlag.

Jemand packte sie am Arm. Sie riss sich frei, sah dann aber, dass es sich um Roar handelte. Flammen spiegelten sich in seinen dunklen Augen, während er Worte sprach, die sie nicht hören konnte. Eine gewaltige schwarze Rauchsäule stieg hinter ihm auf und blockierte die Sicht auf den Äther.

Behutsam nahm Roar sie am Arm und half ihr auf. Eine heiße Bö fegte ihr einen scharfen, chemischen Gestank ins Gesicht, der ihr in den Augen brannte. Am anderen Ende der Flotte stand ein Dragonwing in Flammen – ein Teil des Luftkissenfahrzeugs war bereits bis auf den Metallrahmen heruntergebrannt.

Roar verstärkte seinen Griff um Arias Arm. »Bleib hier. Bei Soren. Ich mach mich auf die Suche nach Perry. Aria, kannst du mich hören?«

Aria nickte. Seine Stimme klang leise, aber sie hatte ihn verstanden. Nicht nur das, was er gesagt hatte, sondern auch das, was er meinte.

Roar musste herausfinden, ob Perry sich in dem Dragonwing aufgehalten hatte, der lichterloh brannte.

Im nächsten Moment meldete Hess sich erneut lautstark zu Wort: »Komm endlich her, Sable! Komm sofort her, oder ich werde jedes einzelne der Hovercrafts vernichten! Das sind meine Luftkissenfahrzeuge! Ich werde sie dir bestimmt nicht kampflos überlassen!«

»Genau«, bestätigte Soren. »Zwing ihn zum Handeln.«

»Jetzt beruhig dich mal, Hess. Ich komm ja schon.«

Der Klang von Sables Stimme ließ Aria – und alle anderen – wie angewurzelt stehen bleiben.

»Wo steckst du?« Hess sondierte die Menge um sich herum. »Zeig dich endlich, du Feigling!«

Aria entdeckte Sable, der sich an einer Reihe seiner Soldaten vorbeischob. »Ich bin hier.« Als er sich Hess näherte, deutete er auf das brennende Hovercraft. »Ich wäre auch ohne dieses ganze Theater gekommen.«

Mit jedem Schritt, den er machte, wuchs Arias mulmiges Gefühl: Sable trug ein Messer am Gürtel. Aber andererseits hielt Hess eine Waffe in der Hand.

Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung hinter sich. Die Hörner-Soldaten rückten näher, bildeten einen Wall um sie herum. Roar fing Arias Blick auf und schüttelte den Kopf. Es war bereits zu spät.

Einen Sekundenbruchteil später spürte sie, wie ihr jemand eine Waffe in den Rücken drückte.

Kirra grinste. »Hallo.«

Andere Soldaten nahmen ihnen die Waffen ab – ihr, Roar und Soren. Sie saßen in der Falle. Wieder einmal.

»Wir werden dieses Unterfangen gemeinsam beenden, Sable«, verkündete Hess. »So lautet schließlich unsere Abmachung.«

Sable musterte Hess auf die gleiche ruhige Weise, wie auch Perry ihn betrachtet hatte. Auf die typische Art und Weise der Witterer. Die Flammen des explodierten Dragonwing knisterten in der Ferne und bildeten einen leuchtenden Fleck vor der dunklen Nacht.

Perry hatte nicht in diesem Hovercraft gesessen, überlegte Aria. Das konnte einfach nicht sein.

»Gemeinsam?«, wiederholte Sable. »Hast du deshalb vorgehabt, mich zu hintergehen?«

»Du hast mir keine andere Wahl gelassen. Wir hatten eine Vereinbarung, und du hast sie gebrochen. Sag deinen Leuten, sie sollen die Waffen niederlegen. Wir brechen von hier auf, wenn ich es befehle – oder wir bleiben alle hier. Es fällt mir nicht schwer, jedes einzelne der Hovercrafts dem Erdboden gleichzumachen.«

Sable trat einen Schritt auf Hess zu. »Ja, das sagtest du bereits.«

Hess hob die Waffe an. »Komm nicht näher!«

»Ich halte immer Wort«, erwiderte Sable, während er sich Hess weiterhin mit langsamen Schritten näherte. »Ich habe unsere Abmachung nicht gebrochen. Du glaubst nur, dass ich das vorhatte.«

Aria bemerkte, dass sich der Kreis um sie herum weitete. Sables Leute zogen sich etwas zurück, reagierten instinktiv auf irgendein nicht erkennbares Signal.

»Ich werde nicht zögern, dich zu erschießen«, warnte Hess.

»Ja, ja, ja, mach schon!«, drängte Soren an Arias Seite.

Plötzlich schien die Zeit stillzustehen und jede Sekunde eine gefühlte Ewigkeit zu dauern. Aria konnte sich nicht von der Stelle rühren, kein Wort über die Lippen bringen.

»Wenn du mich erschießt, werden meine Männer dich sofort umlegen«, gab Sable zu bedenken. »Das klingt doch nicht nach einer Lösung, oder? Mich erinnert das eher an das, was du vorschlägst: alles oder nichts. Lass die Waffe fallen, Hess. Du hast doch, was du willst. Wir stecken in einer Pattsituation, und wir wissen beide, dass du nicht abdrücken wirst.«

»Da irrst du dich«, erwiderte Hess. »Tritt zurück.«

»Erschieß ihn!«, brüllte Soren.

Ruckartig heftete Sable seinen Blick auf Soren. »Bring ihn her«, befahl er einem seiner Soldaten.

Hess entdeckte Soren in der Menge; Furcht breitete sich auf seinem Gesicht aus. Und dann ging alles ganz schnell.

Soren brüllte: »Nein!«

Sable stürmte mit einem Satz vorwärts, zückte sein Messer und zog es Hess quer über die Brust. Hess taumelte rückwärts, während sein Schrei die Stille zerriss.

Die Wunde war flach – das Messer hatte ihn nur gestreift statt durchbohrt –, aber auf einen Mann, der nie echten Schmerz gekannt hatte, wirkte dieses Gefühl lähmend.

Hess keuchte, und seine Augen schauten glasig, während der Schmerz ihn paralysierte.

Und dann handelte Sable erneut: Er rammte Hess das Messer in den Bauch und riss die Klinge nach unten.

Hess sank auf die Knie. Gedärme und Blut drangen aus der klaffenden Wunde, tränkten seine Uniform und quollen auf den Boden.