Peregrine | Kapitel Vierzehn
Perry bewegte sich dicht an der Wand entlang auf die näher kommenden Stimmen zu, Roar einen halben Schritt vor ihm.
Mit etwas Glück würden die Personen hinter der Biegung umkehren oder in einem der Räume verschwinden, die vom Korridor abgingen. Aber Perry und Roar kamen nicht an weiteren Türen vorbei, und das bedeutete: Es gab keinen anderen Ausgang.
Roar drehte sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. Er musste das Gleiche gedacht haben: Sie befanden sich auf Kollisionskurs.
Die Stimmen wurden immer deutlicher: eine Männerstimme, die etwas Sarkastisches über Siedler-Essen sagte, und eine weibliche Stimme, die daraufhin lachte.
Er kannte dieses Lachen – und das ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Roar stürmte vorwärts, überwand zehn Schritte ohne das geringste Geräusch. Vor der Biegung des Gangs ließ er sich auf ein Knie sinken. Perry ging ein paar Meter hinter ihm in Verteidigungsstellung, die Waffe im Anschlag. Eine halbe Sekunde später erschien der Mann, der noch immer redete.
Er trug die typische Kleidung des Stamms der Hörner – eine schwarze Uniform mit rotem Hirschgeweih auf der Brust. Blitzschnell streckte Roar sein Bein aus und brachte ihn zu Fall. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, stürzte er sich dann auf den Mann und schlug seinen Kopf auf den Boden.
Das Mädchen, das dem Soldaten folgte, trug die gleiche Uniform; ihre Haare hoben sich von dem schwarzen Stoff ab wie ein roter Sonnenuntergang.
Kirra.
Perry packte sie, bevor sie reagieren konnte, presste sie gegen die Wand und drückte ihr eine Hand auf den Mund, die andere auf den Hals. Sie wehrte sich nicht, aber sie riss die Augen auf, und ihre Stimmung wurde schartig und blau vor Angst.
»Ein Mucks, und ich drücke dir die Kehle zu. Verstanden?«
Perry hatte noch nie einer Frau wehgetan, doch Kirra hatte ihn verraten und benutzt, um Cinder zu entführen.
Sie nickte, und Perry ließ sie los, wandte seinen Blick von den roten Druckstellen ab, die seine Finger auf ihren Wangen hinterlassen hatten. Hinter ihm schleifte Roar den bewusstlosen Mann an den Armen über den Gang.
Zurück … wohin zurück? Sie konnten sich nirgendwo verstecken.
»Hallo, Peregrine«, sagte Kirra, ein wenig außer Atem. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und rang um Fassung.
Vor zwei Wochen hatte er für einen kurzen Augenblick daran gedacht, diese Lippen zu küssen. Damals stand er kurz davor, den Verstand zu verlieren; sein Stamm und Aria hatten ihn zurückgewiesen, und er machte sich sehr große Sorgen um Liv und Talon. An diesem absoluten Tiefpunkt seines bisherigen Lebens hatte Kirra ihm übel mitgespielt und ihn fast vernichtet.
»Du hast uns viel Mühe erspart«, sagte sie. »Wir wollten dich gerade holen kommen.«
Perry verstand nicht: Was wollten sie von ihm? Aber er schob seine Neugier beiseite. »Du wirst mir helfen, Cinder und Sable zu finden.«
»Warum Sable?«
»Die Blaue Stille, Kirra. Ich brauche einen Kurs.«
»Ich kenne die Koordinaten. Ich könnte euch hinbringen.« Sie kniff die Augen zusammen. »Aber warum sollte ich euch helfen?«
»Ist dir dein Leben lieb?«
Sie lächelte gequält. »Du wirst mir nicht wehtun, Perry. Du hast nicht das Zeug dazu.«
»Aber mir würde das nichts ausmachen«, warf Aria ein.
Perry drehte sich um, als sie auf ihn zugelaufen kam, eine Pistole in der Hand des unverletzten Arms. »Nimm sie mit und beeil dich«, wies sie ihn an und schaute ihm in die Augen. »Soren hat die Tür geöffnet.«
Er schob Kirra durch die Tür zum Mittelgang. Roar wuchtete sich den ohnmächtigen Mann auf die Schulter und eilte ebenfalls durch die Tür, kurz bevor sie sich wieder schloss.
Sie hatten es geschafft, waren ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen.
»Wer ist sie denn?«, fragte Soren.
»Ich bin Kirra.«
Aria hob ihre Pistole. »Hallo, Kirra.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Mann über Roars Schulter. »Sag uns, wo wir ihn hinbringen können.«
Kirras Wangen röteten sich, ihre Stimmung wurde heißer. »Dahinein. Das ist eine Besenkammer, da wird ihn vor morgen früh keiner finden.«
Roar beeilte sich, Sables Mann loszuwerden.
»Jetzt zu Cinder«, forderte Perry Kirra auf.
»Hier entlang.« Sie führte sie durch einen Gang, der in diesem Segment mit schwarzen Gummiplatten ausgelegt war und eher einer Röhre glich.
»Wie lange noch, Soren?«, wollte Perry wissen.
»Eine Stunde.«
Die Hälfte ihrer Zeit war abgelaufen. Eine Stunde zuvor hatte sich Soren als Hess ausgegeben und die fingierte Nachricht an den Dragonwing gesendet. Noch eine Stunde, und dieser Verstoß gegen die Sicherheitsvorkehrungen würde entdeckt werden.
»Cinder ist da drin«, sagte Kirra und blieb vor einer Tür stehen. »Außerdem insgesamt noch vier weitere Personen: eine Wache beim Kontrollraum und drei Ärzte.«
Soren verzog das Gesicht und schaute von Aria zu Perry. »Bin ich der Einzige, der sich fragt, warum sie uns hilft?«
»Sie sagt die Wahrheit«, versicherte Perry. Er witterte es – mehr brauchte er nicht zu wissen. Sie mussten Cinder finden und dann so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Roar bewegte sich zur Tür, bereit zum Angriff. Trotz ihres Zerwürfnisses entsprach jeder Schritt, den er machte, genau Perrys Vorstellungen – genau so hatten sie immer gekämpft und gejagt, hatten die Gedanken des anderen gelesen und sich ohne Worte verständigt.
Perry schob Kirra zu Soren hinüber. Dann nickte er Roar zu, der in den Raum schlüpfte, und folgte ihm. Rasch hatten sie die Situation erfasst. Roar überwältigte den Wachposten mit explosionsartiger Geschwindigkeit, nahm ihm die Waffen ab und ließ ihn auf den Boden gleiten.
Eine Glaswand teilte den Raum in zwei Bereiche; davor befanden sich Tische mit medizinischen Geräten und Überwachungsmonitoren. Drei Ärzte in weißen Kitteln standen dort – alle starr vor Schreck.
Perry schaute sich nach Videokameras und Alarmvorrichtungen um, während er schnellen Schrittes zu der Glaswand hinüberging.
In dem Überwachungsraum auf der anderen Seite lag Cinder, an ein Krankenhausbett geschnallt, die Augen halb geöffnet, die Haut so bleich wie das Laken, mit dem er zugedeckt war.
Perry schoss auf die Angeln, bis die Tür aufsprang, stürmte hindurch und eilte an das Bett.
»Cinder!«
Ein starker chemischer Geruch strömte aus den verschiedenen Beuteln und den Schläuchen, die in Cinders Armen steckten. Perry hatte kaum geatmet, aber seine Kehle fühlte sich bereits rau an von den beißenden Chemikalien.
»Perry?«, krächzte Cinder. Als er blinzelte, sah Perry nur das Weiße in seinen Augen.
»Ja. Wir holen dich hier raus.«
Vorsichtig entfernte Perry die Kabel und Schläuche aus Cinders Armen. Er bemühte sich, sanft zu sein, aber seine sonst so ruhigen Hände zitterten jetzt. Nachdem er Cinder befreit hatte, hob er ihn hoch. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er das Gewicht spürte, das er da in den Armen hielt: Cinder war viel zu leicht für einen dreizehnjährigen Jungen.
Soren und Roar hatten inzwischen die drei Ärzte mit Seilen an Stühle gefesselt. Aria stand an der Tür und hielt ihre Pistole auf Kirra gerichtet.
Sie eilten hinaus auf den zentralen Gang und liefen zurück zum südlichen Ende des Komodo. Perry trug Cinder, und Roar trieb Kirra vor sich her.
»Soren, wir brauchen Piloten«, drängte Aria.
Das war der einzige Teil des Plans, den sie noch nicht umgesetzt hatten, aber seine Instinkte sagten Perry, dass sie das erst gar nicht versuchen sollten.
»Ist das dein Ernst? Glaubst du wirklich, ich könnte hier und jetzt vier Piloten auftreiben?«, entgegnete Soren fassungslos.
Perry schaute Aria an. »Darum kümmern wir uns später.«
»Ich löse jetzt den Alarm aus«, verkündete Soren, als sie an dem Materialraum vorbeikamen, in dem sie die Helme abgelegt hatten.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, und die Luft war vom Heulen der Sirenen erfüllt. Der Alarm gehörte zu ihrer Strategie, um den Komodo wieder verlassen zu können, denn er würde einen Zwischenfall an der Nordseite simulieren, woher sie gerade kamen. Sie hofften, damit die Aufmerksamkeit von dem Hovercraft auf der Südseite abzulenken, das sie kapern wollten.
Als sie die schwere Doppeltür erreichten, die ins Freie führte, blieb Soren plötzlich stehen und drehte sich ängstlich um. »Mein Vater steckt hier irgendwo.«
»Soren, du kannst nicht zurück«, sagte Aria. »Du musst uns von hier wegbringen.«
»Habe ich gesagt, dass ich das nicht tun werde? Ich dachte bloß, ich würde ihn sehen. Ich dachte …«
»Denk später.« Perry übergab Cinder an Soren und ging zur Tür. Da er nicht wusste, was sie draußen erwartete, zog er seine Pistole und nickte Roar zu. »Geh. Ich gebe dir Deckung.«
Roar ließ Kirra los. »Nein. Ich bleibe hier.«
Für einen Moment begriff Perry nicht, was Roar gerade gesagt hatte. Dann witterte er dessen Stimmung – scharlachrot, brennend, blutrünstig – und wusste, dass er richtig gehört hatte.
»Ich werde hier nicht fortgehen«, wiederholte Roar. »Nicht, bevor ich Sable gefunden und gesehen habe, wie er stirbt. Wenn ich es nicht beende, wird er sich Cinder zurückholen. Er wird uns auf ewig verfolgen, wenn wir ihn nicht aufhalten. Man muss der Schlange den Kopf abschlagen, Perry.« Roar zeigte den Gang entlang. »Und die Schlange ist da drin.«
Perry konnte nicht glauben, was er da hörte. Es fehlten nur noch ein paar Sekunden, nur ein paar Schritte, und sie würden unbeschadet entkommen. »Hier geht es einzig und allein um Rache. Tu nicht so, als wäre es nicht so.«
Roar breitete die Hände aus. Seine Pupillen waren geweitet und funkelten vor wilder Energie. »Stimmt.«
»Es wird nichts ändern, wenn du da hineingehst. Es wird dich das Leben kosten. Ich verbiete es dir, Roar. Als dein Kriegsherr befehle ich dir, und als dein Freund bitte ich dich: Tu es nicht.«
Roar antwortete, während er sich rückwärts den Gang hinunterbewegte. »Sable darf nicht ungestraft davonkommen. Er muss für das bezahlen, was er getan hat. Und ich bin bereits tot.«
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und lief zurück in die Tiefen des Komodo.