Aria | Kapitel Fünfundzwanzig

»Ich dachte, du wolltest mit ihm reden«, sagte Loran mit gedämpfter Stimme, als er sie durch die Gänge des Komodo zurückbrachte.

»Wir haben geredet«, stellte sie klar.

Es hatte sie ihre ganze Willenskraft gekostet, Perry in diesem Raum zurückzulassen. Selbst jetzt noch wäre sie am liebsten umgekehrt, doch etwas hielt sie davon ab. Ein unerklärliches, quälendes Gefühl, was den Mann drei Schritte hinter ihr betraf.

»Das sah nicht nur nach Reden aus.«

Aria wirbelte herum und schaute ihm ins Gesicht. »Was kümmert es dich?«

Loran blieb stehen. Er runzelte die Stirn, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

»Warum hast du mich zu ihm gebracht?«, fragte sie. »Warum hast du mir geholfen?«

Er schaute an seiner schmalen Nase hinunter, die Lippen fest zusammengepresst, als versuche er, sich selbst am Sprechen zu hindern. Sie wollte unbedingt wissen, warum er für sie ein solches Risiko eingegangen war. Warum er immer so angespannt zu sein schien, wenn er sie anschaute. Mit seinen dunkelgrauen Augen wirkte er so schmerzlich vertraut.

Er hatte einen tiefen, musikalischen Bariton – eine sehr schöne Stimme.

Und er war alt genug …

Er war alt genug …

Sie brachte es nicht fertig, diesen Gedanken zu Ende zu führen.

Sein Kopf fuhr herum. Aria hörte Kirras Stimme, ihr unverwechselbares sinnliches Schnurren. Streifte sie denn ständig durch die Gänge?

Loran packte sie am Arm und zog sie den Korridor hinab. Vor einer Tür blieb er stehen, gab etwas in ein Zahlenfeld ein und zerrte sie durch die Öffnung.

Am anderen Ende des kleinen Raums sah Aria eine weitere Tür, mit einer runden Fensteröffnung aus dickem Glas. Blaues Licht fiel ins Rauminnere, elektrisches Licht, das sich wie ein lebendiges, hungriges Wesen bewegte.

Äther.

»Hier lang.« Er ging um sie herum, öffnete die Tür, und plötzlich stand sie im Freien, auf einer Plattform, umgeben von einem Metallgeländer, und ihre Haare flatterten im Wind.

Es war Nacht. Sie hatte es gar nicht bemerkt, begriff aber jetzt, dass sie sich schon seit fast zwei Tagen in dem Komodo aufgehalten haben mussten. Ein Meer aus Metall umgab sie – die Dächer der einzelnen Abschnitte des Komodo –, und über ihr wirbelten Äthertrichter. Sie sah das rote Flackern, das sich während der kurzen Zeit ihrer Gefangenschaft rasend schnell ausgebreitet hatte. Überall, wo sie hinschaute – ob nach Osten, Westen, Norden oder Süden –, stießen die Trichter hinab auf die Erde, in manchen Gebieten nicht weiter als eine Meile entfernt. Sie spürte das vertraute Prickeln in der Luft und hörte das Kreischen der Trichter, das Geräusch des sich nähernden Äthers.

Ihnen lief die Zeit davon.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Loran hinter ihr.

Aria drehte sich zu ihm um und studierte sein Gesicht in dem wechselnden Licht. Sein Ausdruck war zu sanft für einen Soldaten, zu flehend für einen Fremden.

Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Herz schlug wie wild und drohte, aus ihrem Brustkorb zu springen.

Er wusste nicht, wo er anfangen sollte – aber sie wusste es.

»Du bist ein Horcher«, stellte sie fest.

»Ja.«

»Du hast meine Mutter gekannt.«

»Ja.«

Sie atmete tief ein und sprang ins kalte Wasser. »Du bist mein Vater.«

»Ja.« Er sah ihr direkt ins Gesicht; der Augenblick zwischen ihnen schien sich endlos auszudehnen. »Ich bin dein Vater.«

Eine kalte Welle schlug über ihr zusammen.

Sie hatte mit ihrer Vermutung richtig gelegen.

Ihr Rücken prallte gegen das Metallgeländer, während ihr Kopf nur noch von diesem einzigen Gedanken beherrscht wurde: Sie hatte mit ihrer Vermutung richtig gelegen. Endlich hatte sie ihren Vater gefunden und brauchte sich nicht mehr zu fragen, wer er wohl war. Die Ungewissheit, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatte, war ein für alle Mal vorbei.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die Welt verschwamm, aber nicht wegen dieses Mannes – über den sie nicht das Geringste wusste –, sondern wegen ihrer Mutter, die ihn gekannt hatte. Hatte Lumina ihn geliebt? Ihn gehasst? Plötzlich schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf, und vor ihr stand die einzige Person, die sie beantworten konnte.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Die Erkenntnis drang nicht richtig zu ihr durch. Er war ihr Vater. Sollte sie nicht noch etwas anderes empfinden außer Neugier? Etwas mehr, als ihre Mutter zu vermissen?

»Seit wann weißt du von mir?«, hörte sie sich fragen.

»Seit neunzehn Jahren.«

»Du wusstest, dass sie schwanger mit mir war?«

»Ja.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Aria, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin nicht sicher, ob ich mich selbst als Vater sehen kann. Ich mag Kinder nicht einmal.«

»Habe ich dich gebeten, mein Vater zu sein? Sehe ich aus wie ein Kind

»Du siehst aus wie sie.«

Das raubte ihr den Atem.

Der Lärm des Sturms nahm zu, übertönte ihr Schweigen, und sie dachte daran, wie viel Zeit sie damit verbracht hatte, sich diesen Mann vorzustellen – wie sehr sie sich gewünscht hatte, ihn zu finden. Er dagegen hatte die ganze Zeit von ihr gewusst und nichts mit diesem Wissen angefangen.

Aria packte das Geländer hinter sich, ihre Finger schlossen sich um das kalte Metall. Alles in ihr drehte sich, wirbelte wie der Himmel über ihr.

»Du warst in Reverie. Ich weiß, dass du dort meine Mutter kennengelernt hast.« Lumina hatte es ihr erzählt. »Warum hast du sie verlassen?«

Er schaute zu den Trichtern, die in der Ferne niedergingen, kniff die Augen zusammen, und der Wind blies ihm die Haare aus dem Gesicht.

Schwarze Haare, wie ihre.

»Es war ein Fehler«, gestand er.

»Ich war ein Fehler?«

»Nein«, widersprach er sofort. »Es war ein Fehler, dir davon zu erzählen.« Er schaute zur Tür. »Ich muss dich zurückbringen.«

»Gut. Ich will auch zurück.«

Bei diesen Worten zuckte Loran zusammen – was keinen Sinn ergab. Wie konnte er enttäuscht sein? Gerade hatte er ihr mitgeteilt, dass er bereue, es ihr gesagt zu haben.

»Du verwirrst mich«, sagte sie.

»Das wollte ich nicht. Ich wollte erklären, was passiert ist.«

»Wie kann man so etwas erklären?« Sofort bereute sie ihren Gefühlsausbruch. Dies hier war eine einmalige Gelegenheit, und sie musste ihn davon überzeugen, ihnen bei der Flucht zu helfen und ihr Informationen zu geben.

Stattdessen sagte sie nichts, stand nur da und atmete ein und aus. Schwindlig, benommen und zittrig.

Loran wandte sich zur Tür; seine Hand schwebte über der Schalttafel. »Ich habe nur eine Frage«, sagte er mit dem Rücken zu ihr. »Wie geht es ihr?«

»Sie ist tot. Meine Mutter ist tot.«

Einen scheinbar endlosen Augenblick lang blieb Loran reglos stehen. Aria starrte auf sein Profil, nahm in sich auf, wie er ihr seitlich zugewandt stand, wie sich seine Schultern vom schnellen Atmen hoben und senkten, und war entsetzt, wie sehr ihn diese Nachricht mitnahm.

»Das tut mir leid«, sagte er schließlich.

»Du bist seit neunzehn Jahren fort. Dass es dir nur leidtut, genügt nicht.«

Er zog die Tür auf und führte sie zurück in den Komodo, wo es keinen Wind, keine Geräusche und kein Aufblitzen des Äthers gab.

Sie bewegte sich, ohne etwas zu fühlen und zu denken, bis laute Stimmen weiter vorn im Gang sie aus diesem Nebel rissen.

Zwei Wachen, die an der Tür zu ihrem Zimmer standen, diskutierten mit jemandem im Inneren des Raumes.

»Gefangene fallen in den Zuständigkeitsbereich von Hess, nicht von Sable«, erklärte einer der Wachposten. »Ihr Transport und eine Verlegung können nur auf seinen Befehl erfolgen. Sie sollte hier sein.«

Aria konnte nicht über den Rücken der Wachen hinwegschauen, aber sie erkannte Sorens Stimme, als er antwortete.

»Hör mal, du kannst mir den ganzen Tag lang etwas über Vorschriften erzählen. Ich sage dir nur, was passiert ist: Sie ist vor einer halben Stunde von einem der Hörner abgeholt worden.«

Sie schaute Loran an, ihren Vater, und hatte plötzlich Angst um ihn. Sable hatte bewiesen, dass er jeden, der sich ihm in den Weg stellte, gnadenlos bestrafen würde – ohne Ausnahme. Aber Loran blieb stoisch; alle Emotionen, die sie noch kurz zuvor in seinem Gesicht gesehen hatte, waren verschwunden.

»Wo wollt ihr sie hinbringen?«, erkundigte er sich, während sie auf die Wachen zugingen.

Als die Wachmänner sich umdrehten, konnte Aria für einen kurzen Moment Roar und Soren sehen, die das Geschehen besorgt verfolgten.

Lorans Frage überraschte die Wachen und drängte sie in die Defensive. Sie antworteten sofort und wie aus einem Mund: »Zur Krankenstation.«

»Ich bringe sie hin«, sagte Loran gutmütig.

»Nein«, widersprach der kleinere der beiden Männer. »Wir haben unsere Befehle.«

»Es macht keine Umstände. Ich wollte sowieso dorthin.«

»Wir haben vom Kommandanten den ausdrücklichen Befehl erhalten, sie selbst hinzubringen.«

Mit dem Kinn deutete Loran auf den Gang hinter sich. »Dann solltet ihr ihn besser jetzt ausführen.«

Loran übergab Aria den Wachen. Mit einem einzigen klugen Schachzug hatte er weitere Fragen vermieden und jeglichen Verdacht von sich selbst abgelenkt. Clever – das musste sie zugeben. Aria schaute sich um, während sie zum zweiten Mal an diesem Abend fortgebracht wurde.

Loran stand noch dort und sah ihr nach.

 

Hess war allein auf der Krankenstation.

»Tritt ein, Aria. Nimm Platz«, sagte er und deutete auf eines der Feldbetten.

Der schmale Raum roch antiseptisch und vertraut; die Reihen der Feldbetten und Metalltische weckten Erinnerungen. Aria sah Lumina vor sich, in einem Arztkittel, die Haare zu einem Knoten zusammengebunden, ihre Haltung ruhig und konzentriert zugleich. Lumina hatte jeder Kleidung und jeder Handlung etwas Elegantes verliehen – egal, ob sie saß, stand oder nieste.

Aria fühlte sich nicht annähernd so selbstsicher. Sie war chaotischer, ungeduldiger und sprunghafter. Sie besaß eine künstlerische Ader, die Lumina nicht besessen hatte.

Lag es an Loran? Kamen diese Eigenschaften von ihm? Einem Soldaten?

Aria blinzelte ganz bewusst und zwang sich, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken.

»Wo ist unser Kaffee, Hess?«, fragte sie, während sie sich auf das Feldbett setzte und den verletzten Arm in den Schoß legte. »Unser kleiner Tisch am Canal Grande?«

Hess kreuzte die Arme vor der Brust und ignorierte ihren Kommentar. »Soren sagte, du wolltest mich sehen. Und er erwähnte, du seist verletzt. Ich habe jemanden mitgebracht, der sich die Verletzung einmal ansehen kann. Ein Arzt wartet draußen.«

Durch den Besuch bei Perry und die Begegnung mit Loran hatte sie die Schmerzen fast vergessen. Jetzt kehrten sie zurück, fingen in ihrem Bizeps an und breiteten sich von dort aus. »Ich will keine Gefälligkeiten von Ihnen.«

Aria verfluchte sich im Stillen: Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Prinzipientreue. Hess war hinterhältig und herzlos, aber sie hätte ein wenig Hilfe für ihren Arm gebrauchen können. Zumindest schienen die Intervalle zwischen den Schmerzen allmählich größer zu werden, wie sie feststellte.

Hess zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie du willst.« Er ging zu einem Rollstuhl neben der Tür und schob ihn vor Arias Feldbett. Dann setzte er sich, stützte die Arme auf die Oberschenkel und schaute sie an. Stämmig wie Soren, füllte er den kleinen Stuhl vollständig aus.

Während Aria darauf wartete, dass er zu sprechen begann, versuchte sie, sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es musste einen Grund geben, warum Hess sie hierhergebracht hatte, aber auch sie hatte ihre Motive. Hess war ihre beste Chance zur Flucht. Da er nichts aus Gefälligkeit tat, musste sie ihn davon überzeugen, dass es auch in seinem Interesse lag, ihnen zu helfen. Sie verdrängte Loran, so weit es ging, aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf ihr Ziel.

»Ich habe der Sicherheit von Reverie und seinen Bewohnern mein Leben gewidmet«, erklärte Hess. »Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass es einmal so enden würde. Ich hätte nie erwartet, dass ich so viele Menschen zurücklassen müsste. Dass ich meinen eigenen Sohn zurücklassen müsste. Aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen. Soren wollte nicht nachgeben, und ich hatte keine Wahl. Wegen der Maßnahmen, die ich ergreifen musste, ist es zum Zerwürfnis zwischen uns gekommen. Vermutlich hast du infolge meiner Entscheidungen ebenfalls leiden müssen.«

Er entschuldigte sich genauso wie Soren, vage und ohne wirklich einen Fehler einzugestehen – die Entschuldigung eines Politikers. Doch zugleich saß er stocksteif vor ihr, die Muskeln an seinem Hals zum Zerreißen gespannt. Irgendwo in seinem Innern empfand er offenbar echte Reue. Vielleicht besaß er sogar ein Herz.

Aria tat so, als hätten seine Worte sie betroffen gemacht. Er bewegte sich in die richtige Richtung, und sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

»Ich kann dich mit uns nehmen, Aria. Soren hat es dir bestimmt schon erzählt. Wenn Cinder kräftig genug ist und folgsam, kannst du uns auf der Überfahrt zur Blauen Stille begleiten. Nur deinen Freund kann ich leider nicht unterbringen.«

»Peregrine?«

Hess schüttelte den Kopf. »Nein, er muss mit. Wir brauchen ihn wegen seiner Verbindung zu dem Jungen.«

»Sie meinen Roar«, folgerte sie. »Sie können Roar nicht mitnehmen.«

Hess nickte. »Er ist eine Gefahr, aufgrund seiner Vorgeschichte mit Sable.«

Aria konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Wir alle haben eine Vorgeschichte, Hess – meinen Sie nicht? Und dabei denke ich nicht nur an Roar und mich. Irgendwo da draußen sind Hunderte von unschuldigen Menschen. Manche von ihnen gehören zu denen, die Sie in Reverie zurückgelassen haben. Das ist Ihre Chance: Sie können ihnen immer noch helfen und Ihren Fehler wiedergutmachen.«

Rote Flecken bildeten sich an seinem Hals und auf seinen Wangen. »Du bist naiv. Ich habe keine Möglichkeit, auch nur einen von ihnen unterzubringen. Ich muss Sable gegenüber für jede Person Rechenschaft ablegen. Es gibt einfach nicht genügend Platz. Außerdem kann ich ihn um nichts mehr bitten. Ich kann es mir nicht leisten, ihm noch mehr zu geben. Er muss seine Leute nicht in eine neue Umgebung bringen. Aber ich. Alles da draußen ist anders. Weißt du, wie es ist, zum ersten Mal Hunger zu haben? Alles zu verlieren, was dir vertraut ist?«

Er sprach mit leidenschaftlicher Erregung, als habe sich eine Schleuse voller Sorgen geöffnet. Doch dann hielt er abrupt inne, als habe er mehr gesagt, als er preisgeben wollte.

»Ja«, sagte sie leise. »Ich weiß genau, wie das ist.«

In der Pause, die danach eintrat, konnte Aria ihr Herz heftig in der Brust schlagen hören. Jetzt war ihre Chance gekommen, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Sie erinnerte sich an Perrys Worte. Bieten wir ihm eine Alternative.

»Es gibt noch einen anderen Weg in die Blaue Stille, Hess.« Sie beugte sich nach vorn. »Sie sind im Vorteil, denn Sie haben die Hovercrafts. Sie brauchen Sable nicht für die Koordinaten …«

»Ich habe die Koordinaten. Das ist nicht das Problem. Was uns fehlt, ist die Kontrolle über den Jungen.«

»Cinder gehört zu Peregrine … nicht zu Sable.«

Hess atmete langsam ein. Sie konnte förmlich hören, wie sein Geist sich anderen Möglichkeiten öffnete und ausbreitete wie ein Kartenfächer.

Er wollte ihr glauben. Sie konnte es schaffen, ihn zu überzeugen.

»Peregrines Stamm ist ungefähr so groß wie der von Sable. Vierhundert Leute. Denken Sie doch mal nach. Bei allem, was Sie über das Leben in der Außenwelt wissen müssen, kann Peregrine Ihnen helfen – und Sie können ihm vertrauen. Das kann man von Sable nicht behaupten. Denken Sie daran, was wohl passieren wird, wenn Sie die Blaue Stille erreicht haben. Glauben Sie, dass Sie beide plötzlich Freunde werden?«

»Ich brauche keine Freunde«, entgegnete Hess verächtlich.

»Aber Sie brauchen auch keinen Feind – und bilden Sie sich nicht ein, Sable sei irgendetwas anderes als das. Sosehr ich Sie auch hasse, ich werde Sie nicht hintergehen, und Peregrine auch nicht. Ganz im Gegensatz zu Sable.«

Hess dachte lange nach und wandte währenddessen die Augen nicht von ihr ab. Dann fragte er: »Wie kommt es, dass du den Außenseitern vertraust und sie dir?«

Aria zuckte mit den Schultern. »Ich bin direkt dem Richtigen begegnet.«

Hess schaute auf seine Hände. Ganz offenbar überlegte er, wie er Sable ausschalten konnte. Sie musste ihn überzeugen, doch sie musste dabei äußerst umsichtig vorgehen. Die Angst vor dem Kriegsherrn der Hörner saß ihr in den Knochen, aber sie durfte auch Hess nicht unterschätzen.

Hess blickte auf. »Ich will, dass mein Sohn mit mir kommt. Ich will, dass du mir dabei hilfst, ihn zu überreden.«

Aria schüttelte den Kopf. »Dieses Mal müssen Sie mir helfen, nicht umgekehrt. Das ist Ihre Chance, die richtige Entscheidung zu treffen.«

»Das habe ich.« Hess stand auf, ging zur Tür und blieb dort stehen. »Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ich weiß, was für ein Mensch Sable ist. Aber ich weiß auch, dass er mich nicht hintergehen wird. Er braucht mich, um überhaupt irgendwohin zu gelangen.«

»Er braucht Sie so sehr, wie er eine Mahlzeit braucht.«

Nicht gut. Damit war sie zu weit gegangen.

Hess erstarrte und sog scharf die Luft ein. Dann drehte er sich um und ging.

 

Später, während Soren im Bett gegenüber schnarchte, erzählte Aria Roar alles – angefangen damit, was mit Perry geschehen war.

Roar setzte sich auf und presste sich die Fingerknöchel in die Augen. Lange Minuten vergingen, in denen er kein Wort sagte.

Als Aria ihn anschaute, wurde sie unwillkürlich an die Tage nach Livs Tod erinnert.

Sie hatte daran gedacht, Roar nichts zu erzählen. Was würde es nützen, wenn er erfuhr, dass Livs Mörder auch noch seinen besten Freund gefoltert hatte? Aber sie musste mit ihm sprechen und ein wenig von ihrer eigenen Wut loswerden, da ihr sonst der Kopf geplatzt wäre. Außerdem hatten Roar und sie genügend Erfahrung darin, einander ihre Sorgen zu erleichtern.

Irgendwann brach sie selbst das Schweigen, erzählte Roar von Loran und lockte ihn so aus seiner Gedankenwelt zurück. Er rutschte näher an sie heran, nahm vorsichtig ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Sie wusste, dass er mit dieser Frage nicht ihre verletzte Hand meinte. »Als hätte ich endlich bekommen, was ich immer wollte – nur um dann festzustellen, dass es nicht das war, was ich eigentlich wollte.«

Roar nickte, als ergäben ihre Worte einen Sinn, und streckte die Beine aus. »Weder Perry noch ich«, sagte er nach einer Weile, »hatten besonders viel Glück mit unseren Eltern.«

Aria schaute ihn fragend an und sah, dass auch er sie aus dem Augenwinkel betrachtete.

Sie wusste nur wenig über Roars Vergangenheit – vor allem, wenn man bedachte, wie nahe sie einander standen. Er war im Alter von acht Jahren zusammen mit seiner Großmutter zu den Tiden gekommen, hungrig und heimatlos, mit durchgelaufenen Schuhen. Nach Roars Erzählungen zu urteilen, hatte sein Leben in diesem Moment begonnen. Er hatte nie etwas aus der Zeit vor diesem Tag erwähnt – bis jetzt.

»Meine Mutter war keine besonders monogame Frau. An viel mehr als das kann ich mich nicht erinnern. Wir sind also sehr verschieden, wenn man bedenkt, dass Liv das einzige Mädchen ist, mit dem ich je zusammen war, und sie sollte … ich wollte, dass sie …« Einen Augenblick lang kaute er gedankenverloren auf der Unterlippe. »Ich wollte nie eine andere.«

»Ich weiß.«

Er lächelte. »Ich weiß, dass du es weißt … Eigentlich wollte ich dir ja etwas über meinen Vater erzählen.« Roar ließ ihre Hand los und begann, mithilfe seiner schlanken Finger aufzuzählen: »Er war attraktiv.«

»Das hätte ich mir denken können.«

»Danke … und ein Trinker.«

»Auch das hätte ich mir denken können.«

»Genau. Was werde ich dir also wohl als Nächstes erzählen?«

Aria kaute ebenfalls auf ihrer Unterlippe herum. »Dass ich die einmalige Gelegenheit habe, mehr als zwei Dinge über meinen Vater zu erfahren?«

Er nickte. »Das würde ich so sehen. Schließlich ist er auf dich zugekommen, Aria. Er hätte dir nicht helfen oder dir sagen müssen, wer er ist.«

Dagegen gab es nichts einzuwenden. »Aber was passiert, wenn ich etwas über ihn erfahre, das ich gar nicht hören will? Er ist Sables rechte Hand. Wie kann ich ihn da respektieren?«

»Ich habe Vale zehn Jahre gedient und ihn gehasst.« Roar schaute zur Tür und senkte die Stimme. »Aria, dein Vater … er könnte uns helfen, hier herauszukommen.«

»Vielleicht«, sagte sie. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte – schließlich standen sie auf entgegengesetzten Seiten.

Aria stieß einen langen Seufzer aus und legte den Kopf auf Roars Schulter. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass die erste Begegnung mit ihrem Vater ein großartiges, freudiges Ereignis sein würde. Jetzt wusste sie nicht genau, was sie empfand, aber es grenzte fast an Angst.

Während die Minuten vergingen und Soren unten im anderen Etagenbett schnarchte, wanderten ihre Gedanken wieder zu Perry. Sie sah ihn vor sich, wie er durch die Wälder streifte, den Bogen über der Schulter; wie er die Fliegeruniform angezogen und sie kurz mit einem schiefen, fast verlegenen Lächeln angesehen hatte; wie er auf einem Feldbett lag, so übel zugerichtet, dass er sich kaum bewegen konnte.

»Ich muss immerzu an ihn denken«, platzte sie heraus, als sie es nicht länger aushielt.

»Geht mir genauso«, gestand Roar, der intuitiv wusste, dass sie Perry meinte. »Vielleicht hilft ja ein Lied.«

»Ich bin zu müde zum Singen.«

Zu traurig. Zu unruhig. Zu besorgt.

»Dann singe ich eben.« Roar dachte kurz nach und begann dann mit dem Jägerlied.

Perrys Lieblingslied.