Peregrine | Kapitel Sechsunddreißig

»Er will mit dir allein reden, Peregrine«, sagte Reef. »Ohne Waffen. Und ohne Begleiter. Er sagt, er ist bereit, sich mit dir vor der Höhle zu treffen oder an einem neutralen Ort deiner Wahl. Und noch was: Ich soll dir sagen, dass er seinen Leuten den Befehl zum Stürmen der Höhle gegeben hat, falls ihm etwas zustößt.«

Perry rieb sich den Nacken. Seine Haut fühlte sich feucht an. Die Tiden standen um ihn herum; ihre aufgeregten Stimmen hallten bis zur Höhlendecke hinauf.

Er hatte zwar mit Sables Ankunft gerechnet, war sich aber nicht sicher, ob er zu Verhandlungen mit dem Kriegsherrn der Hörner wirklich in der Lage war. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Perry geschworen, Sable mit bloßen Händen in der Luft zu zerreißen. Und er wünschte sich auch jetzt nichts sehnlicher, doch er war machtlos. Ihm blieb keine andere Wahl.

»Ich treffe mich mit ihm«, sagte er.

Sofort redeten alle durcheinander.

Die Sechs fluchten laut und protestierten vehement.

Cinder brüllte: »Das darfst du nicht tun!«

Roar trat einen Schritt vor. »Lass mich mitkommen.«

Perry schaute sich um und suchte Aria, die schweigend in der Menge wartete, mit Marron an ihrer Seite. Beide musterten ihn besorgt. Aber sie verstanden ihn. Das Gespräch mit Sable war ihre einzige Chance.

 

Keine zehn Minuten später trat Perry aus der Höhle – unbewaffnet, wie gefordert.

Sable stand am Strand; er wirkte vollkommen entspannt. Eigentlich waren die Berge sein Revier – zerklüftete und ganzjährig mit Schnee bedeckte Gipfel. Doch er schien sich auch hier nicht unbehaglich zu fühlen, obwohl seine Schuhe in den feuchten Sand einsanken.

Als Perry näher kam, zog Sable die Augenbrauen hoch, und ein belustigter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst allein kommen?«

Verwundert folgte Perry seinem Blick. Flea trottete lautlos durch den Sand, wenige Schritte hinter ihm. Perry schüttelte den Kopf, doch der Anblick des Hundes schenkte ihm Mut.

Sable lächelte. »Du siehst gut aus. Fast vollkommen verheilt. Und du trägst deine Kette voller Stolz, trotz allem.«

Jedes seiner Worte besaß eine doppelte Botschaft. Einen versteckten Seitenhieb. Das Ganze erinnerte Perry an seinen Bruder: Vale hatte auf dieselbe Art und Weise mit ihm gesprochen.

»Und? Woran denkst du gerade, Peregrine? Daran, dass du mich gern so verprügeln würdest, wie ich dich verprügelt habe?«

»Das wäre ein Anfang.«

»Eigentlich hätten wir beide einen anderen Weg einschlagen sollen. Wenn du mit Olivia nach Rim gekommen wärst, so wie Vale und ich es geplant hatten, sähe die Situation heute bestimmt ganz anders aus.«

Der Kriegsherr der Hörner wirkte so in Erinnerungen versunken, dass es Perry den Magen umdrehte. »Komm zur Sache, Sable. Bist du hier, um uns den Transport in den Hovercrafts anzubieten?«

Sable verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich den Wellen zu. »Der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen.« Unter dem leuchtend roten und blauen Ätherhimmel erschien das Meer grau, und jede Woge wirkte wie geschmiedeter Stahl. »Es wäre leichter, mit dir eine Abmachung zu treffen, als mir mit Gewalt Zugang zu deinem Fuchsbau zu verschaffen, um an das zu gelangen, was ich brauche. Ich hoffe aufrichtig, wir können zu einem Kompromiss kommen. Nur gemeinsam können wir überleben. Aber das weißt du ja, denn sonst wärst du nicht hier.«

»Ich trage für vierhundertdreißig Männer, Frauen und Kinder die Verantwortung«, erwiderte Perry. »Wenn du nicht alle in den Hovercrafts unterbringen kannst, habe ich dir nichts mehr zu sagen.«

»Doch, das kann ich. In meiner Flotte habe ich Platz für jeden Einzelnen von ihnen.«

Perry wusste, warum Sable jetzt Platz in den Hovercrafts hatte, aber er musste die Frage einfach stellen: »Was ist mit den Siedlern aus dem Komodo passiert?«

»Du warst doch dabei«, erwiderte Sable, den Blick unverwandt aufs Meer gerichtet.

»Ich will es aus deinem Mund hören.«

Perrys Ton erhitzte Sables Stimmung, was Flea ein tiefes Knurren entlockte.

»Bei dem Putschversuch sind ziemlich viele Siedler ums Leben gekommen. Mehr als die Hälfte, um genau zu sein. Allein Hess’ Schuld, nicht meine. Ich hatte ja versucht, Blutvergießen zu vermeiden. Von den Überlebenden habe ich die nützlichsten behalten – Piloten, Ärzte, ein paar Ingenieure und Techniker.«

Diese Leute hatte er behalten, und den Rest hatte er umgebracht. Eine heiße Wut erfasste Perry, obwohl ihn Sables Worte nicht überraschten.

»Wie viele waren nicht mehr nützlich?«, fragte Perry. Er wusste nicht, warum er eine genaue Zahl hören wollte – möglicherweise war das die einzige Möglichkeit, diesen Verlust auch nur annähernd zu begreifen … einen Bezug zu den Menschen herzustellen, die sinnlos gestorben waren. Vielleicht wollte er auch einfach nur Sables Skrupellosigkeit messen. Vollkommen zwecklos, das wusste Perry genau. Er hätte einen Stein in das schwarze Loch in Sables Herz fallen lassen können und doch niemals den Aufschlag auf dem Boden dieses Abgrunds gehört.

»Ich wüsste nicht, welchen Unterschied das macht, Perry. Das waren doch nur Siedler. Ah … Halt! Jetzt versteh ich. Aria. Sie hat dafür gesorgt, dass du gegenüber den Maulwürfen Sympathie empfindest, stimmt’s? Natürlich! Wirklich faszinierend. Drei Jahrhunderte der Abschottung, aufgehoben von einem einzigen Mädchen. Anscheinend muss sie genau so sagenhaft sein, wie sie aussieht.«

»Damit eines klar ist – und es ist mir egal, ob ich damit die Überlebenschancen aller auf dieser Erde zunichtemache: Wenn du Arias Namen noch ein Mal in den Mund nimmst, reiß ich dir den Kopf ab und seh dir beim Verbluten zu.«

Sable kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, und ein mattes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich habe mir in meinem Leben viele Feinde gemacht, aber ich denke, dass du mein größter Erfolg bist.« Erneut wandte er sich dem Meer zu. Am südlichen Horizont, kaum eineinhalb Kilometer entfernt, peitschten Äthertrichter aus dem Himmel herab. »Im Komodo habe ich getan, was ich tun musste. Du weißt ja, was während der Einheit passiert ist. Ich hatte keinerlei Interesse daran, von den Maulwürfen ausgebootet zu werden. Ausgestoßen wie ein räudiger Hund im Regen. Nichts gegen deinen kleinen Freund hier. Aber jetzt verfüge ich über eine Menge von Siedlern, die ich beherrschen kann. Und genau darum ging es mir.«

Perry war an Sables Rechtfertigungen für das Gemetzel nicht interessiert. Er musste das Gespräch wieder auf die wirklich wichtigen Dinge lenken – auf die Aufgabe, zur Blauen Stille aufzubrechen. Wenn er sich von seinem Hass hinreißen ließe, würde das unvermeidlich in Gewalt enden.

»Du hast gesagt, dein Angebot gilt für alle meine Leute«, sagte er.

»Ja«, bestätigte Sable. »Ich habe für jeden Einzelnen von ihnen Platz. Ob nun Siedler oder Außenseiter. Darum bin ich hier. Aber du musst den Jungen mitbringen.«

Perry schaute hinab zu Flea; er fühlte sich plötzlich schwerelos. So als hätte er seinen Körper verlassen und würde zum Himmel hinaufschweben. Vor seinem inneren Auge sah er den Küstenverlauf seines Stammesgebiets. Er sah sich selbst, zusammen mit Sable am Strand … wie sie über Cinders Leben sprachen, als handelte es sich um ein Verkaufsobjekt, obwohl es in Wahrheit um ein Blutopfer ging.

Doch er zwang sich, das einmal Angefangene auch zu beenden. »Sobald wir die Blaue Stille erreichen, scheiden sich unsere Wege. In dem Moment, wo wir am Ziel angekommen sind, werden die Tiden und die Hörner sich trennen.«

»Ich bin mir sicher, wenn wir erst einmal dort sind, können wir uns schon irgendwie arrangieren.«

»Nein«, widersprach Perry. »Wir klären das jetzt. Du wirst dich von meinem Stamm fernhalten.«

»Getrennte Wege sind möglicherweise nicht die beste Lösung. Wir wissen ja nicht, was uns erwartet …«

»Schwör es mir hier und jetzt – oder wir brauchen nicht weiterzureden.«

Sable starrte ihn an; seine eisblauen Augen maßen ihn berechnend. Perry konzentrierte sich darauf, ruhig weiterzuatmen … und seinen wütend rasenden Puls zu regulieren. Seine Gedanken wanderten bereits zu Cinder und dem Gespräch, das er mit ihm führen musste.

Schließlich neigte Sable den Kopf. »Nach der Durchquerung der Barriere gehören die Tiden dir allein.« Er schwieg einen Augenblick, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Also, Peregrine«, sagte er, »ich kann meinen Teil unserer Vereinbarung einhalten. Und was ist mit deinem Teil?«