Aria | Kapitel Dreizehn
Mit Soren am Steuer des Dragonwing rasten sie durch den peitschenden Regen in Richtung Komodo; in der Stille des Cockpits hörte man nichts außer keuchenden Atemzügen. Sie alle waren extrem angespannt, und jeder von ihnen bemühte sich, nicht die Nerven zu verlieren.
Aria presste ihren Rücken gegen den Sitz. Der Flug war holprig, fast brutal im Vergleich zu dem Belswan, als habe dieses Hovercraft Mühe, auf Touren zu kommen. Sie spürte jeden kleinen Hüpfer in ihrem pochenden Arm.
Soren und Roar saßen in den beiden vorderen Pilotensitzen, sie und Perry hinter ihnen.
Vor einer halben Stunde hatten vier Wachen hier gesessen. Arias Sitz verströmte noch immer die Wärme von einem dieser Männer; sie drang durch ihre Kleider in ihre Beine und ihren Rücken. Sie fror, zitterte und war völlig durchnässt, aber um diese Wärme nicht spüren zu müssen – den allerletzten Nachhall eines menschlichen Lebens – wäre sie am liebsten aus ihrer Haut gekrochen.
War es ihre Schuld? Sie hatte nicht abgedrückt, aber kam es darauf an? Ihre Augen wanderten zu Sorens Rücken. Sie hatte ihn zu den Tiden gebracht, hatte ihm vertraut.
Perry saß reglos neben ihr. Er war von Kopf bis Fuß mit Schlamm und Blut beschmiert, und sein Schweigen wurde nur noch unterstrichen durch das Tröpfeln des Regenwassers, das aus seinen Haaren rann. Von Anfang an hatte er Bedenken wegen Soren gehabt, dachte Aria. Hätte sie auf ihn hören sollen?
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Windschutzscheibe. Bäume huschten vorbei, und die Hügel, zwischen denen der Komodo auf einem Plateau stand, kamen in rasendem Tempo näher.
»Noch fünf Minuten«, verkündete Soren.
So lange würde es also noch dauern, bis sie den Komodo erreichten. Sie steuerten direkt auf die Drachenhöhle zu – und dort hockten gleich zwei Drachen.
Aria sah Hess vor sich, dem ein Menschenleben nicht das Geringste bedeutete. Gute Reise, Aria, hatte er gesagt, bevor er sie in die Außenwelt geworfen und ihrem Schicksal überlassen hatte. Genauso war er mit Tausenden anderer Menschen verfahren: Er hatte ihnen versichert, alles in Ordnung zu bringen, nur um sie dann in der zusammenstürzenden Biosphäre zurückzulassen.
Wenn Hess ein eiskalter Sadist war, dann war Sable ein Mörder. Für ihn war Töten ein persönliches Vergnügen: Er hatte Liv in die Augen gesehen, als er ihr mit der Armbrust einen Bolzen durchs Herz schoss.
Aria biss sich auf die Unterlippe, denn sie fühlte so sehr mit Perry – und mit Roar, Talon und Brooke. Es war dumm von ihr, gerade jetzt an Livs Tod zu denken, aber Trauer hatte nun mal die gleichen Eigenschaften wie der Schlamm, der sie bedeckte: Sobald er irgendwo eingedrungen war, breitete er sich ungehindert überall aus.
»Ich werde auch lernen, wie man diese Dinger fliegt«, sagte Perry schließlich mit leiser, tiefer Stimme. »Dann können wir Rennen veranstalten.«
Seine grünen Augen verbargen ein Lächeln, die Andeutung gutmütiger Konkurrenz. Vielleicht wollte er ja tatsächlich Luftkissenfahrzeuge fliegen lernen, oder vielleicht wusste er auch nur genau, was er sagen musste, um sie zu beruhigen.
»Du wirst gegen sie verlieren«, meinte Roar auf dem vorderen Sitz.
Er wollte ihn aufziehen, dachte Aria, aber Perry erwiderte nichts, und mit jeder Sekunde, die schweigend verging, erschien Roars Bemerkung weniger harmlos.
Zu ihrer Erleichterung brach Soren das Schweigen. »Ich habe mir die letzten fünf Flugpläne angesehen und kann keine Abweichung entdecken. Ich werde Stimmproben von diesen Einsätzen nehmen, sie verändern und neu zusammensetzen. So kommen wir durch die Kontrollen und sorgen dafür, dass alles normal aussieht. Sie werden überhaupt nichts merken.«
Diesen Teil hatten sie schon vorher geplant, denn sie wussten, dass die Wachen, wenn sie noch gelebt hätten, die Mission über eine direkte Funkverbindung hätten gefährden können. Soren würde die Aufzeichnungen der gestorbenen Wachleute zusammenfügen und sie dazu verwenden, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Die Welten – einst ihr ganzes Leben – waren zu einer Waffe geworden und halfen ihnen jetzt, wie eine normale Patrouille zu erscheinen.
Erzählte Soren ihnen das alles noch einmal und prahlte mit seinen Leistungen, weil er sich auf diese Art entschuldigen wollte?
Aria räusperte sich. Sie spielte mit, bat um weitere Informationen, die ihnen bereits bekannt waren. Sie mussten sich zusammenraufen. So schnell wie möglich.
»Und wenn wir da sind?«, fragte sie.
»Alles vorbereitet«, teilte Soren ihr souverän mit. »Ich habe es direkt vor mir.«
Er drückte ein paar Knöpfe, und wie zuvor in dem Belswan erschien ein Diagramm des Komodo auf einem transparenten Bildschirm. Der Komodo glich einer Spirale aus einzelnen Segmenten, die miteinander verbunden waren und abgekoppelt werden konnten wie altmodische Eisenbahnwaggons. Jedes Segment konnte für sich selbst existieren – war autonom, wie Soren es bei ihren Besprechungen ausgedrückt hatte –, bewegte und verteidigte sich eigenständig.
Im Ruhezustand war der Komodo wie eine Schlange zusammengerollt – nach dem gleichen Prinzip, das auch bei der Konstruktion von Reverie angewendet worden war. Die äußeren Segmente dienten dem Schutz und der Versorgung, die inneren drei Elemente im Zentrum der Spirale bildeten eine Art Hochsicherheitsbereich, in dem sich die wichtigsten Personen aufhielten.
»Mein Vater und Sable werden sich hier aufhalten«, erklärte Soren und erleuchtete den Bereich auf dem Bildschirm. »Ich vermute, dass sie Cinder ebenfalls dort festhalten.«
Auf diese Vermutung hin setzten sie ihr Leben aufs Spiel.
»Die Anlegestelle befindet sich am südlichen Ende des Verbunds, genau hier«, sagte Soren und markierte diesen Teil des Diagramms. »Der Zugang zum Mittelkorridor liegt auf der gegenüberliegenden Seite, dem nördlichen Ende. Da müssen wir hin. Von dort aus gelangen wir direkt in den inneren Bereich des Komodo und müssen nicht erst durch alle Segmente.«
»Kannst du uns in diesen Korridor bringen?«, fragte Aria.
»Er ist auf jeden Fall gesichert, aber ich werde versuchen, die Codes zu knacken, wenn wir dort ankommen. Ich habe es vorhin schon mal versucht, aber es geht nur vor Ort.«
»Was passiert, wenn du die Codes nicht knacken kannst?«
»Dann müssen wir den lauten Plan anwenden. Sprengstoff.«
Soren redete nicht mehr in seinem üblichen angeberischen Ton. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Aria schaute Perry an und hoffte, dass ihm das auch aufgefallen war. Aber er schien ganz in seine eigenen Gedanken versunken.
»Noch drei Minuten«, verkündete Soren, während sie die Hügel überflogen, die vor ein paar Minuten noch so weit entfernt gewirkt hatten.
Ein Adrenalinstoß fuhr ihr durch den Körper. Da vorn, in der Mitte des Plateaus, lag der Komodo.
Aria spürte, wie der Dragonwing langsam tiefer ging, während Soren die letzten beiden Minuten herunterzählte. Ihr Puls schlug immer schneller, je näher sie den Reihen der Hovercrafts auf dem Plateau kamen. Sie sah zehn Belswans und doppelt so viele der kleineren Dragonwings. Vor nur acht Tagen hatten diese Luftkissenfahrzeuge noch in einem Hangar in Reverie gestanden.
Soren steuerte den Dragonwing auf eine Landebahn zu – eine Schotterpiste, die mitten durch die Flotte verlief. Durch einen dichten Regenvorhang ragte auf der anderen Seite dunkel und imposant der Komodo auf.
Der Dragonwing geriet beim Aufsetzen auf der Landebahn kurz ins Schlingern. Ein paar Wachen kamen aus dem Komodo und liefen über das Flugfeld auf sie zu.
»Sie wollen nur eine technische Überprüfung durchführen«, erklärte Soren und beantwortete damit die Frage, die sich alle stellten. »Keine Sorge. Das machen sie nach jedem Flug so. Zieht eure Pilotenhelme auf, und wenn sich die Türen öffnen, geht ihr direkt zum Komodo. Ich kümmere mich um das Bodenpersonal und komme dann nach. Ach ja, und bewegt euch nach Möglichkeit so, als würdet ihr euch hier auskennen.«
Aria schaute zu Soren. So schwierig er auch war – ohne ihn hätten sie es nicht geschafft.
Sie stülpte sich einen Helm über, der ihr zu groß war und schwach nach abgestandenem Schweiß und Erbrochenem roch.
Beim Verlassen des Cockpits zwang sie sich, ihren Arm trotz des pochenden Schmerzes gerade zu halten – schließlich musste sie ganz normal aussehen.
»Dann mal los!«, rief Soren, kurz bevor sich die Klappen öffneten.
Eine heftige Windbö ließ Regen gegen ihr Visier klatschen.
Aria sprang die Rampe hinunter, gefolgt von Roar und Perry. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als sie im Schlamm landete; der Höhenunterschied war größer, als sie erwartet hatte. Sie stürzte nach vorn, taumelte ein paar Schritte, bis sie wieder Halt fand. Sowohl Perry als auch Roar streckten die Hände nach ihr aus, aber sie richtete sich rasch auf und ignorierte sie. Sie bezweifelte, dass die Piloten für gewöhnlich ihre Kollegen auffingen, wenn sie stolperten.
Hinter ihr sprach Soren mit dem Bodenpersonal. Seine Stimme klang laut und selbstsicher, als wisse er über alles genauestens Bescheid.
Durch die Regentropfen auf ihrem Visier sah sie überall um sich herum Hovercrafts aufragen, schnittig und stumm. Selbst mit Roar und Perry an ihrer Seite fühlte sie sich schutzlos – als seien die riesigen Luftkissenfahrzeuge ein Publikum, das jede ihrer Bewegungen beobachtete.
Der Schutzanzug war zwar wasserabweisend, aber Schweißperlen liefen ihr über Rücken und Bauch, sodass die Uniform an ihrem Körper klebte.
Mit jedem Schritt schien der Komodo größer zu werden, so groß, dass sie sich fragte, wie er sich überhaupt bewegen konnte. Als sie näher kam, sah sie gewaltige, mehrere Meter hohe Räder, die mit langen Spikes versehen waren. Wegen seiner gewundenen Form hatte sie sich den Komodo als eine Schlange vorgestellt, aber jetzt erinnerte er sie eher an einen Tausendfüßler.
Zwei Wachposten in einem kleinen Unterstand bewachten den Eingang. Sie trugen die gleichen Waffen wie die, die ihren Arm und Jupiters Bein durchbohrt hatten. Zu beiden Seiten des Eingangs sah sie schwarz getönte Fenster.
Beobachtete sie jemand? Hess oder Sable? Wie gut konnten sie in diesem strömenden Regen sehen?
Soren schob sich an ihr vorbei und lief die Rampe hinauf in den Komodo, ohne seine Schritte zu verlangsamen. Die Wachen am Eingang nickten kaum merklich, als Aria, Perry und Roar ihm folgten.
Innen ging nach links und rechts ein Stahlkorridor ab – kaum breit genug, dass zwei Personen Schulter an Schulter darin stehen konnten. Arias Atem ging in schweren Stößen, während sie auf der rechten Seite des Gangs hinter Soren herliefen.
Noch vor zehn Minuten hatte er fast die gesamte Mission gefährdet; jetzt führte er die Mission an und folgte dem Schema des Grundrisses auf seinem Smarteye.
Aria griff nach Perrys Arm, damit er langsamer lief – sie alle mussten langsamer werden, sonst würden sie zu laut und zu auffällig sein. Perry, Roar und Soren waren von sehr kräftiger Statur, sodass vor und hinter ihr insgesamt etwa fünfhundert Pfund liefen – und das merkte man dem Komodo an. Die drei sorgten für ein kleines Erdbeben und ließen den Boden des Gangs erschüttern, was Aria daran erinnerte, dass sie sich nicht in einem ortsfesten Gebäude befanden.
Sie passierten erst zwei, dann drei, schließlich fünf Türen.
Vor der sechsten Tür blieb Soren stehen und führte sie in einen Geräteraum. An der Rückwand hingen mehrere Reihen von Pilotenanzügen, und in schmalen Spinden waren Helme und Waffen verstaut.
Soren lief zu einem der Spinde und durchsuchte ihn. Kurz darauf hielt er eine kleine, kompakte schwarze Pistole mit dickem Lauf hoch. »Granatpistole«, sagte er. »Für den lauten Plan.«
Sie ließen ihre Helme zurück und nahmen sich weitere Waffen. Perry schlang sich ein Stück Seil über die Schulter, dann gingen sie nacheinander zurück in den Korridor, Soren wieder vorneweg. Er legte ein schnelles Tempo vor, lief beinahe durch die verzweigten Gänge.
Aria musste daran denken, dass sie später noch einmal um jede Biegung würden laufen müssen, um zum Ausgang zurückzukommen.
Von weiter hinten drangen Stimmen an ihre Ohren. Aria schaute Roar an, der sie ebenfalls gehört hatte: Jemand näherte sich ihnen. Bis jetzt hatten sie anderen Menschen aus dem Weg gehen können, aber nun verließ sie offenbar das Glück.
Roar pfiff leise. Sofort reagierte Perry vor ihm und wirbelte herum. Zusammen gingen sie auf die Stimmen zu, so rasch und dicht an Aria vorbei, dass sie einen Luftzug spürte – dann verschwanden sie hinter der nächsten Biegung.
Aria zwang sich, Soren zu folgen, um den Mittelgang zu erreichen – trotz des verzweifelten Drangs, den beiden anderen hinterherzulaufen.
Sie ging schneller, schaute sich noch einmal um und prallte dann direkt gegen Sorens Brust. Verwirrt taumelte sie nach hinten.
Soren stand mit verschränkten Armen da und lächelte. »Heftig, was?«
»Warum bleibst du stehen?«, fragte sie, und Angst breitete sich in ihr aus. Er genoss das Ganze.
»Wir sind da.« Soren deutete mit dem Kinn auf die schwere Tür, neben der eine verdunkelte Schalttafel angebracht war. »Hier ist es.«
Die Tür selbst war nicht gekennzeichnet und sah ganz und gar nicht so aus, wie sie sich den Zugang zu den am stärksten gesicherten Bereichen des Komodo vorgestellt hatte.
Dann begriff sie: Hinter dieser Tür würde sie Cinder finden.
Und Hess.
Und Sable.
Soren stellte sich vor die Schalttafel, ließ seine Fingerknöchel knacken und aktivierte das Tastenfeld durch ein Fingertippen. Dann bewegte er sich fachmännisch durch die Oberflächen der verschiedenen Sicherheitsstufen.
Während Aria ihm zusah, musste sie plötzlich an Ag 6 denken, an die Nacht vor einigen Monaten, als er das Gleiche getan hatte. Sie sah wieder seine Hand vor sich, die ihre Kehle zudrückte. Doch dann zwang sie sich, diese Erinnerung abzuschütteln, und lauschte auf Schritte im Gang – auf die von Roar und Perry. Doch sie hörte nur das leise Surren der Deckenlampen.
»Beeil dich, Soren«, flüsterte sie.
»Muss ich dir wirklich erklären, warum das jetzt nicht hilfreich ist?«, fragte er, ohne vom Tastenfeld aufzublicken.
Ihr Blick wanderte zu der Granatpistole an seinem Gürtel. Leiser Plan, betete sie. Knack die Codes. Bitte, lass den leisen Plan funktionieren.
Der kleine Bildschirm leuchtete grün auf. Erleichterung durchströmte sie, aber sie war von kurzer Dauer. Aria blickte den Gang hinunter. Wo blieben Perry und Roar?
Soren schaute sie an. »Nicht dass ich dich drängen will, aber wir haben nur sechzig Sekunden, bis diese Tür sich wieder schließt. Also was hast du vor?«