Peregrine | Kapitel Zwölf
Perry stürmte in das Cockpit des Dragonwing und entdeckte sein Ziel – die Wache, die an Bord geblieben war – im Pilotensessel.
Der Mann griff nach der Pistole an seinem Gürtel, aber seine Hand kam nicht einmal bis zur Waffe.
Perry rammte ihm das Knie ins Gesicht. Einen solchen Schlag hatte er zwar nicht beabsichtigt, aber auf diesem engen Raum ging es nicht anders. Er packte den zusammengesackten Wachmann beim Kragen, schleifte ihn zur Eingangsluke und warf ihn hinaus in den Regen, wo er ein paar Meter neben Roars Opfer landete.
Perry sprang vom Dragonwing hinab. Er brauchte Roar keine Anweisungen zu erteilen – dieser wusste ganz genau, was zu tun war.
»Alles klar, Perry. Lauf!«, rief Roar, noch bevor Perrys Füße den Schlamm berührten.
Perry rannte an ihm vorbei und auf Brooke zu. Am anderen Ende des überfluteten Feldes stieg noch immer Rauch unter dem Heck des Belswan auf. Er war überrascht, wie klein Aria, Soren und Jupiter vor dem Hovercraft wirkten. Brooke stand zwischen den Luftkissenfahrzeugen und hielt die beiden Wachen, die sie von hinten überrascht hatte, mit einer Pistole in Schach.
Die Männer hielten noch immer ihre Waffen in der Hand und versuchten, die Situation einzuschätzen. Ihr Blick wanderte zu ihrem überwältigten Kollegen, der zu Roars Füßen im Schlamm lag, dann zu Brooke und Aria, die beide bewaffnet waren, und schließlich zu Perry, der auf sie zugelaufen kam.
Die Wachen waren chancenlos. Sie würden es erkennen und sich ergeben. Aber das hätte inzwischen bereits geschehen sollen – irgendetwas stimmte nicht.
Perry war zwanzig Schritte von Brooke entfernt, als er die Pistole in Sorens Hand sah.
»Ihr habt sie gehört!«, brüllte Soren. »Sie sagte: Waffen fallen lassen!«
Blitzschnell schauten die beiden Männer von Brooke zu Perry und dann zu Soren. Sie rückten zusammen und stellten sich dann Rücken an Rücken, die Waffen im Anschlag.
»Sofort!«, schrie Soren.
Sie werden es schon tun, wollte Perry ihm zurufen. Gib ihnen eine Chance, und sie tun es!
Aber er schluckte die Worte hinunter. Panik nährte Panik, und Schreien würde alles nur noch schlimmer machen.
Soren streckte den Arm aus, schwenkte die Waffe zwischen den beiden Wachen hin und her. »Ich habe gesagt: Waffen runter!«
Ein einzelner Knall schwirrte durch die Luft, gedämpft vom Prasseln des Regens, aber unverkennbar.
Soren hatte geschossen. Der Rückstoß ließ ihn einen Schritt nach hinten machen.
Kurz darauf hallten die Schüsse der Wachen wider.
Brooke schrie auf und fiel zu Boden. Aria, Soren und Jupiter stoben auseinander und rannten zurück zum Belswan.
Jeder Muskel in Perrys Körper wollte auf die drei zusprinten, doch stattdessen warf er sich auf den Boden. Regennasse Erde spritzte auf, als die Kugeln um ihn herum einschlugen und er sich zur Seite rollte. Mitten auf dem Feld konnte er nirgendwo in Deckung gehen.
Dann hörten die Schüsse auf, und das Dröhnen des Regens erfüllte die Stille. Er hob den Kopf und sah, wie die Wachen auf den Wald zuliefen.
Der kleinere der beiden Männer drehte sich im Laufen um und gab mehrere Schüsse auf Roar ab, der in der Nähe des Dragonwing kauerte.
Roar sprang unter das Luftkissenfahrzeug und rettete sich auf die andere Seite.
Weitere Schüsse folgten, pfiffen durch die Luft in Arias Richtung und klatschten neben Perrys Armen in den Matsch.
Unbeeindruckt hob er seine Waffe, und sofort fügte sich alles zusammen, was er über das Schießen wusste. Er entspannte die Muskeln und ließ die Knochen seiner Arme das Gewicht der Waffe tragen. Dann zielte er, atmete aus und schoss zwei Mal. Nachdem er die Pistole auf den zweiten Mann ausgerichtet hatte, drückte er wieder zweimal ab.
Es waren allesamt saubere Schüsse. Tödliche Schüsse.
Die Wachen fielen kurz vor dem Waldrand der Länge nach zu Boden.
Perry sprang auf, noch bevor sie den Boden berührten. In dem schweren Schlamm nach Halt suchend, sprintete und rutschte er in Richtung des Belswan, während ihn nur ein Gedanke, nur eine Person beherrschte.
»Alles in Ordnung«, sagte Aria, als er sie erreichte.
Er fasste sie an den Schultern und begutachtete sie trotzdem von Kopf bis Fuß. Ihr schien nichts zu fehlen. Er wartete darauf, dass sich Erleichterung bei ihm einstellte, aber das geschah nicht.
»Mit dir auch, Perry?«, fragte sie und zog besorgt die Brauen zusammen.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Ein Wimmern weckte seine Aufmerksamkeit: Ein paar Schritte entfernt hielt Jupiter seinen Oberschenkel umklammert und wälzte sich vor Schmerz auf dem Boden. Neben ihm kniete Brooke, der aus einer Wunde an der Stirn Blut über das Gesicht lief.
»Es ist nichts, Perry«, beruhigte sie ihn. »Nur ein Streifschuss, aber ihn hat es schlimmer erwischt. Sie haben ihm eine Kugel ins Bein verpasst.«
Aria eilte zu ihnen. »Lass mich mal sehen, Jup. Beruhige dich und lass mich mal nachsehen.«
Perry schaute über das Feld zu Roar, der beim Dragonwing über die reglosen Körper der anderen beiden Wachen gebeugt stand. Als Perry pfiff, blickte Roar auf und schüttelte den Kopf. Die Geste war eindeutig: Roar hatte sie erschießen müssen. Der Augenblick, in dem Sorens Waffe losgegangen war, hatte keine andere Lösung zugelassen.
Perry bekam einen Tunnelblick, und seine Wut richtete sich auf einen einzigen Punkt. Blitzschnell drehte er sich um und packte Soren am Kragen. »Was ist in dich gefahren?«, schrie er ihn an.
»Sie haben ihre Waffen nicht fallen lassen!«
Soren wehrte sich, aber Perry hielt ihn fest. »Du hast ihnen auch keine Gelegenheit dazu gegeben!«
»Doch, das habe ich! Wie lange dauert es denn, eine Pistole fallen zu lassen? Eine Stunde?« Soren hörte auf zu zappeln und wehrte sich nicht länger gegen Perrys eisernen Griff. »Es sollte nur ein Warnschuss sein! Ich wusste doch nicht, dass sie zurückschießen würden!«
Perry konnte nichts erwidern, hätte Soren am liebsten ein weiteres Mal den Kiefer gebrochen, um zu verhindern, dass er noch ein Wort sagen konnte. »Ich hätte dich beim ersten Mal erledigen sollen, Siedler.«
Roar kam angesprintet. »Wir müssen los, Perry. Die Zeit läuft.«
»Du gehst zurück«, befahl Perry und stieß Soren von sich. »Du bist raus.«
Soren war ein Risiko. Es kam nicht infrage, dass Perry ihn jetzt noch in den Komodo mitnahm.
»Ach ja? Und wer soll dann den Dragonwing fliegen?« Soren deutete mit dem Kopf auf Jupiter. »Er etwa? Das glaube ich nicht. Wer soll euch zu Cinder führen? Glaubst du vielleicht, ihr würdet zufällig über ihn stolpern, Wilder?«
»Ich hätte lernen sollen, Hovercrafts zu fliegen«, sagte Aria.
Ihre Worte klangen ironisch, aber ihre Stimmung war kalt wie Eis. Absolut kontrolliert. Perry sog sie auf, um seinen eigenen Zorn zu dämpfen.
»Wir müssen ihn mitnehmen, Perry«, sagte sie. »Die Wachen sind alle tot. Jupiter und Brooke sind verletzt. Ohne Soren ist es vorbei.«
Perry musterte Soren. »Steig in den Dragonwing und warte dort. Wag es nicht einmal, zu blinzeln, ohne mir vorher Bescheid zu sagen.«
Soren trottete murrend davon. »Ich blinzle, Wilder. Genau in diesem Moment.«
»Soren!«, rief Roar. Als Soren sich umschaute, warf Roar sein Messer in die Luft. Die Klinge drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, direkt auf Soren zu, der aufschrie und zur Seite wich.
Sie verfehlte ihn nur um Haaresbreite – und genau das musste Roars Absicht gewesen sein, denn er verfehlte sein Ziel sonst nie.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie Soren mit hochrotem Kopf.
Roar trabte lässig zu ihm hinüber und hob sein Messer auf, schob es energisch wieder zurück in die Scheide und sagte: »So gibt man einen Warnschuss ab.«
Perry sah zu, wie sie zum Dragonwing gingen. Dieselbe Richtung, zwanzig Schritte zwischen ihnen. Dann brachte er Jupiter in den Belswan und setzte ihn in den Pilotensessel.
Aria war bereits an Bord und band sofort die Wunde an Jupiters Bein ab. Dann wickelte sie einen Verband um Brookes Kopf und gab ihr währenddessen Anweisungen, wie sie Jupiters Wunde behandeln sollte: Gerinnungshemmer, Druckverband, Schmerzmittel – alles war in der Kiste zu ihren Füßen.
Jupiter redete ohne Unterlass, fragte immer wieder, ob er sterben müsse. Das Blut aus seinem Bein vermischte sich mit dem Regenwasser auf dem Boden des Hovercrafts. Soweit Perry es beurteilen konnte, hatte die Kugel nur seinen Muskel getroffen – ein glatter Durchschuss. Was Schusswunden betraf, war das etwas Positives, aber Jupiter schwafelte weiter, bis Aria ihm schließlich eine Hand auf den Mund legte und ihn zum Schweigen brachte.
»Pass auf«, sagte sie. »Du musst diesen Hover zurück zur Höhle fliegen, Jupiter. Brooke kennt den Weg. Dort wirst du versorgt.«
»Wir schaffen das schon«, beruhigte Brooke sie und lächelte. »Mach dir um uns keine Sorgen. Geh jetzt. Und viel Glück.«
»Dir auch, Brooke«, erwiderte Aria. »Pass gut auf dich auf.« Dann lief sie aus dem Cockpit.
Perry fing sie oben an der Rampe ab. Der Regen war so heftig, dass er den Ausgang wie ein Wasserfall blockierte. Er packte sie an den Hüften, weil er Angst hatte, ihr wehzutun, wenn er ihren Arm anfasste – und genau das war im Augenblick das Problem.
Vier Tote und zwei Verletzte.
Dabei hatten sie den Komodo noch nicht einmal erreicht.
»Aria, das war sehr knapp …«
»Ich komme mit dir, Perry«, unterbrach sie ihn und drehte sich zu ihm um. »Wir holen Cinder zurück. Wir holen die Hovercrafts, und wir steuern die Blaue Stille an. Wir haben es gemeinsam begonnen, und so werden wir es auch beenden.«