Aria | Kapitel Fünfundvierzig

»Tu was!«, schrie Aria. »Die beiden sind noch immer da draußen!«

Loran stand an der Tür zum Cockpit und versperrte ihr den Weg – seit dem Aufbruch das erste Mal, dass sie ihn überhaupt zu sehen bekam. »Ich kann dich da nicht reinlassen«, entgegnete er.

»Du musst! Du musst ihnen helfen! Mir helfen!«

Loran schaute ihr in die Augen. Er schwieg, aber Aria konnte spüren, dass er mit sich rang.

Erneut dröhnte Sables Stimme durch die Lautsprecher. »Wir haben weder von Cinder noch von Peregrine irgendetwas gehört. Keinerlei Lebenszeichen. Leider haben wir die Kontrolle über ihr Hovercraft verloren, und ich fürchte, es ist zu gefährlich, einen Rettungsversuch zu wagen.«

Roar drängte nach vorn, bis er dicht vor Loran stand und ihre Nasenspitzen einander fast berührten. »Wir dürfen die beiden nicht im Stich lassen – wir müssen sofort da runter!«

Auch Reef mischte sich wütend ein: »Sable lügt womöglich! Woher wollen wir wissen, dass er die Wahrheit sagt?«

Arias Ohren nahmen ein Sirren wahr, das immer lauter wurde. Gleichzeitig wurde sie hin und her geschoben, eingeklemmt zwischen zwei großen Männern, die einander bedrängten und anschrien. Über all dem Lärm und Tumult hörte sie immer noch Sables Stimme.

»Niemand weiß, wie lange der Spalt im Äthervorhang offen bleibt. Wir müssen jetzt die Barriere durchqueren, solange wir noch dazu fähig sind.«

Sable redete ununterbrochen weiter; seine Stimme klang besänftigend und vernünftig, während er erklärte, warum sie Perry zurücklassen mussten und wie sehr er dies für die Tiden bedauerte. Aria bekam den Rest seiner Worte nicht mehr mit. Sie konnte überhaupt nichts mehr hören außer diesem schrillen Sirren in ihren Ohren.

Irgendwie schaffte sie es zurück zum Fenster.

Inzwischen hatten sie die Barriere fast erreicht. Draußen peitschte der Wind das Meer so auf, dass Gischt gegen die Scheibe spritzte. Die Sicht war extrem eingeschränkt, aber Aria erkannte Perrys Hovercraft zwischen den aufgewühlten Wellen, die sich an dem Luftkissenfahrzeug brachen.

Der Dragonwing hatte eine gewaltige Schräglage und war zur Hälfte bereits von den Wogen verschluckt.

Aria starrte wie gebannt darauf, während sie direkt darüber hinwegflogen, hinein in die Blaue Stille.

 

»Aria, sieh mal«, sagte Brooke und stieß sie sanft an.

Aria stand noch immer am Fenster. Seit der Belswan die Barriere passiert und den Äthervorhang hinter sich gelassen hatte, hatte sie sich nicht von der Stelle gerührt. Ihre Ohren sirrten nicht länger, aber mit ihren Augen stimmte irgendetwas nicht: Sie konnte ihren Blick nicht mehr fokussieren. Stumm starrte sie aus dem Fenster, ohne irgendetwas wahrzunehmen.

Roar trat neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Links neben ihm stand Twig und hielt den schlafenden Talon in den Armen. Die Stelle, an der Talon seinen Kopf gegen Aria gepresst und geweint hatte, war feucht.

»Da ist Land«, sagte Brooke und zeigte nach vorn. »Dahinten.«

Aria erkannte eine Erhebung am schnurgeraden Horizont. Aus der Ferne wirkte das Ganze wie ein schwarzer Felsbrocken – der beim Näherkommen jedoch schnell an Größe und Tiefe gewann und schließlich auch Farbe bekam: grüne Hänge mit üppiger Vegetation.

Diese sanft gewellte Hügellandschaft hätte sich von der Steilküste, die sie hinter sich zurückgelassen hatten, kaum stärker unterscheiden können. Aria sah frische Farben statt der von Qualm und Rauch gedämpften Töne, die das gesamte Gebiet der Tiden zuletzt gekennzeichnet hatten. Hier schimmerte das Land leuchtend grün und das Meer türkis, auf fast schon aufdringliche Weise.

Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge im Laderaum, während sich die Nachricht blitzschnell verbreitete: Land war in Sicht.

Aria hasste sie für ihre Begeisterung und Freude. Und sie hasste sich selbst dafür, dass sie die anderen hasste. Warum sollten sie diesen Augenblick auch nicht genießen? Dies hier war ein neuer Anfang – der sich für Aria allerdings nicht danach anfühlte.

Am liebsten hätte sie sofort kehrtgemacht. Auch wenn der Gedanke verrückt erscheinen mochte, aber der Wunsch umzudrehen war übermächtig. Perry war die zerklüfteten Klippen und die tosende Brandung. Er war das Tidenlager und die Jagdpfade und alles andere, was Aria zurückgelassen hatte.

Talon rührte sich in Twigs Armen. Schläfrig hob er den Kopf und krabbelte von Twig zu Roar. Aria schaute von dem Jungen zu Roar und wieder zurück.

Die beiden mussten reichen. Vielleicht würde sie das eines Tages ja auch so empfinden.

Stimmen drangen aus dem Cockpit, wo Piloten und Techniker das Gelände studierten. Während der nächsten zwei Stunden hörte Aria nur den sorgfältigen Austausch von Koordinaten. Dann folgten Analysen bezüglich der Frischwasserversorgung und Bodenqualität. Und schließlich wurde jede Besonderheit des unbekannten Terrains aus der Luft erfasst, mithilfe derart fortschrittlicher Technik, dass es fast an Magie grenzte. Einst hatte diese Form »magischer« Technologie für Aria virtuelle Welten erschaffen. Jetzt entdeckte sie eine neue Welt, verzeichnete Außentemperatur und Luftfeuchtigkeit und suchte nach dem besten Ort für die Gründung einer neuen Siedlung.

Doch Aria – und alle anderen – wusste genau, dass sie eigentlich nach etwas anderem Ausschau hielten: nach anderen Menschen. Eine solche Entdeckung würde einen ganzen Katalog von Fragen nach sich ziehen. Würde man sie willkommen heißen? Würde man sie gefangen nehmen und zu Sklaven machen? Wieder fortschicken? Niemand wusste darauf eine Antwort.

Bis Sable schließlich das Cockpit verließ und den Laderaum betrat. »Das Land gehört uns. Es ist unbewohnt«, verkündete er leicht atemlos.

»Endlich mal eine gute Nachricht«, murmelte Hyde leise. Er stand hinter Aria und konnte mühelos über ihren Kopf hinweg aus dem Fenster blicken. Auch die anderen der Sechs hatten sich um Aria geschart – seit dem Moment, in dem die Flotte die Barriere durchquert hatte.

Aria wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie wusste nicht einmal, ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte, dass die Sechs sie wie eine Mauer abschirmten.

»Wurde auch langsam Zeit«, bestätigte Hayden. »Allmählich hab ich die Schnauze voll.«

Twig atmete erleichtert auf. Nur Reef schaute Aria direkt in die Augen, und sie fragte sich, ob er insgeheim und gegen jede Vernunft vielleicht das Gleiche gehofft hatte wie sie … dass die Instrumente der Hovercrafts Menschen finden würden. Einen Menschen. Einen jungen Mann von knapp zwanzig Jahren, mit grünen Augen und blonden Haaren und einem schiefen Lächeln, das er zwar nur selten, dann aber mit umwerfender Wirkung einsetzte. Ein junger Mann mit dem reinsten Herzen, das man sich nur vorstellen konnte. Der an Ehre glaubte und der niemals, nicht einmal für eine Sekunde, sein eigenes Wohl über das anderer Menschen stellte. Aber natürlich hatte man solch einen jungen Mann nicht gefunden. Magie existierte nun einmal nicht.

Marron trat zwischen Hyde und Twig. »Ich würde es nicht unbedingt als gute Nachricht bezeichnen. Hier haben einst Millionen Menschen gelebt, doch jetzt ist keine Bevölkerung mehr zu finden. Nach einer guten Nachricht klingt das für mich nicht gerade. Außerdem hätten wir von etwas Anteilnahme und Hilfe durchaus profitieren können. Wir sind doch nur noch so wenige.«

Aria biss sich auf die Lippe, um Marron nicht wütend anzufahren. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich so zornig war. Vermutlich lag es an seinen Worten: Wir sind doch nur noch so wenige. Warum hatte er das sagen müssen? Sie waren nicht wenige. Doch ihnen fehlte jemand. Ihnen fehlte Perry.

Die Hovercrafts bildeten erneut eine Formation, und Aria spürte, wie sie ihre Geschwindigkeit verringerten. Dann folgte ein plötzlicher Sinkflug, den Aria kaum registrierte, doch einige andere schnappten bestürzt nach Luft und suchten hektisch nach einem Halt. Schließlich landeten die Luftkissenfahrzeuge der Reihe nach auf einem Strand, wie ein Schwarm schillernd bunter Vögel.

Als ihr Belswan sicher auf dem Boden aufgesetzt hatte, meinte Twig: »Wir sind da. Ich kann kaum glauben, dass wir wirklich angekommen sind.«

Aria fühlte sich noch nicht angekommen; sie fühlte rein gar nichts.

Reef winkte Roar näher zu sich heran. Talon schlief noch immer fest in Roars Armen.

»Ich möchte, dass ihr drei beisammenbleibt«, sagte Reef und schaute von Aria zu Roar. »Hyde und Hayden werden auf euch aufpassen – und zwar ab jetzt sofort.«

Auf sie aufpassen? Aria begriff nicht, was Reef meinte. Roar dagegen presste die Lippen zusammen und nickte resigniert. Und plötzlich verstand auch Aria: Seit Livs Tod hatte Roar versucht, sich an Sable zu rächen. Das war kein Geheimnis und auch Sable nicht unbekannt. Außerdem war Talon Perrys Neffe – zwar nur acht Jahre alt, aber nichtsdestoweniger ein legitimer Nachfolger. Aria hätte nicht sagen können, warum Reef glaubte, dass auch sie Schutz benötigte, allerdings arbeitete ihr Verstand gerade auch nicht sehr zuverlässig.

Kurz darauf verschwand Reef für einen Moment und ließ Aria mit den beiden Brüdern Hyde und Hayden zurück. Als sie zu ihnen aufschaute, musste sie schnell den Blick abwenden: Beide hatten Pfeil und Bogen geschultert, und sie waren groß gewachsen und hatten blonde Haare. Allerdings nicht im richtigen Blondton – nicht Perrys Blond. Würde sie für den Rest ihres Lebens immer nur Unzulänglichkeiten und Versäumnisse um sich herum sehen? Und sich wünschen, alle anderen wären etwas mehr wie Perry? Alle anderen wären er?

Sable verließ als Erster den Belswan, zusammen mit einer Gruppe Hörner-Soldaten. Aria hörte nur, wie sich die Luke öffnete. Da sich mittlerweile alle erhoben hatten und Hyde und Hayden direkt vor ihr standen, konnte Aria nur deren Rücken und Köcher mit Pfeilen sehen. Angestrengt lauschte sie auf das leise Brummen, während die Laderampe herabgelassen wurde – inzwischen ein vertrautes Geräusch. Sonnenlicht strömte in das Luftkissenfahrzeug, gefolgt von einer warmen, sanften Brise, die Vogelgezwitscher und das leise Rascheln von Blättern herantrug.

Um Aria herum entstand etwas Platz, da einer nach dem anderen ausstieg.

Ein neues Land.

Ein neuer Anfang.

Aria schlang einen Arm um Roar und ermahnte sich, dass sie das schaffen würde. Sie würde es schaffen, ein paar Schritte zu gehen.

Als sich die Menge lichtete, konnte Aria etwas weiter sehen: Marron stieg gerade die Rampe hinab, in Begleitung von Sables Männern. Aria war im Begriff, sich nach Loran umzuschauen, als sie einen kurzen Blick auf Reefs Zöpfe erhaschte – Reef verließ das Hovercraft, mit Gren und Twig an seiner Seite.

Plötzlich wurde Aria von einer lähmenden und unerklärlichen Angst erfasst, die sie aus ihrem Dämmerzustand riss.

Sable tat immer den ersten Schritt. Er wartete nie ab. Zögerte nie, sich einer Bedrohung zu entledigen, bevor diese zur Gefahr heranreifen konnte.

»Reef!«, brüllte Aria.

Einen Sekundenbruchteil später erfolgten Schüsse.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Präzise Schüsse. Vorsätzlich. Weitere Schüsse hallten in Arias Ohren, während Schreie die Luft erfüllten.

Die Menschenmenge drängte zurück, suchte Deckung im Belswan. Hyde strauchelte und prallte mit dem Rücken gegen Arias Nase. Sie taumelte rückwärts; einen Moment lang war ihr schwarz vor Augen.

»Was ist passiert?«, rief Talon, abrupt aus dem Schlaf gerissen.

»Roar, komm zurück!«, schrie Aria und zog Talon in die Tiefen des Laderaums. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Hyde und Hayden Pfeile abschossen. Durch die Menge hindurch entdeckte sie Twig, der auf der Laderampe lag, zusammengekrümmt und blutend. Dann breitete sich Stille aus, so plötzlich und unfassbar wie die ersten Schüsse.

»Werft die Waffen weg!«, befahl Sable kalt.

Aria hörte um sich herum das Klirren von Metall und das Krachen von Holz, während die anderen ihre Waffen, Bogen und Messer fallen ließen.

Ungerührt marschierte Sable an ihnen vorbei. Vorbei an Twig, der sein Bein umklammerte und leise wimmerte. Am Fuß der Rampe entdeckte Aria Reef und Gren. Beide lagen totenstill da.

Langsam ließ Sable seinen Blick durch den Laderaum schweifen, bis er Aria fand. Mit funkelnden, leuchtenden Augen musterte er sie von Kopf bis Fuß. Dann wanderte sein Blick zu Roar.

»Nein!«, schrie Aria. »Nein!«

Sable hob die Hände hoch. »Keine Sorge, es ist vorbei. Ich will kein weiteres Blutvergießen«, sagte er und schaute dann explizit in Marrons Richtung, der ein paar Schritte entfernt stand, flankiert von Hörner-Soldaten. »Aber falls sich irgendeiner von euch dafür interessiert, Perrys Posten als Kriegsherr der Tiden einzunehmen, sollte er lieber noch mal darüber nachdenken, denn dieser Posten existiert nicht länger. Jeder Versuch, Anspruch darauf zu erheben, wird tödliche Konsequenzen nach sich ziehen – wie ihr ja gerade gesehen habt.

Falls ihr immer noch glaubt, ihr könntet mich herausfordern, solltet ihr eines nicht vergessen: Ich weiß alles. Ich weiß von euren Wünschen und Ängsten, noch bevor ihr euch dieser Gefühle selbst bewusst werdet. Es wäre besser, ihr ergebt euch gleich – denn das ist eure einzige Option.« Sables eisblaue Augen schweiften über die Menge und lösten eine angespannte, atemlose Stille aus. »Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?

Gut. Dies ist für uns alle ein neuer Anfang … aber nicht der richtige Moment, um mit unserer Vergangenheit zu brechen. Unsere Traditionen haben uns jahrhundertelang gute Dienste geleistet. Wenn wir sie respektieren, unsere Sitten und Gebräuche, unsere überlieferten Traditionen, dann werden wir an diesem Ort blühen und gedeihen.«

Noch immer herrschte Stille, nur von Twigs schmerzerfülltem Wimmern durchbrochen.

»Also gut«, sagte Sable. »Dann wollen wir mal anfangen. Lasst all eure Besitztümer im Hovercraft zurück, tretet einzeln heraus und stellt euch in Reihen auf.«