EPILOG
Am Morgen nachdem ich den zehnten Folianten zu Ende gelesen hatte, rief ich meinen Bekannten an, den Direktor der Einrichtung, in der Will Henry seine 131 Jahre auf der Erde abgeschlossen hatte.
»Hat ihm ein Finger an der linken Hand gefehlt?«, fragte ich und hielt den Atem an.
»Aber ja, tatsächlich, der Zeigefinger«, bestätigte der Doktor. »Haben Sie herausgefunden wieso?«
Ich wollte schon ja sagen, dann kam mir in den Sinn, dass diese Antwort ein bisschen irreführend war. Wie bei so vielem in den Tagebüchern gab es die Fakten, und dann gab es noch Will Henrys Erklärungen dafür – nicht unähnlich der Geschichte vom Magnificum, in der unwesentliche Hinweise auf ein Monster einem Monster zugeschrieben wurden, das nicht existierte, ein Phänomen, das angemessenerweise als Warthrops Torheit bezeichnet werden könnte.
»Er hat darüber geschrieben«, sagte ich. Ich erzählte ihm, dass ich gerade mit dem zehnten Folianten durch war.
»Noch irgendwelche Erwähnungen bekannter Namen?«, fragte er. Diesen Aspekt der Tagebücher fand er am faszinierendsten.
»Präsident McKinley; Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes; und Arthur Rimbaud.«
»Rimbaud? Nie davon gehört.«
»Er war ein französischer Dichter aus der Zeit. Gilt immer noch als ziemlich bedeutend. Ich habe irgendwo gelesen, dass Bob Dylan von seinem Werk beeinflusst wurde.«
»Hat Will Henry Bob Dylan auch gekannt?«
Ich lachte. »Na ja, ich habe die Tagebücher noch nicht zu Ende gelesen. Kann sein.«
»Noch etwas über Lilly?«
Da war etwas. Ich hatte den Artikel in der Auburner Zeitung gefunden, in dem über das Feuer im Jahr 1952 berichtet wurde, das Wills und Lillys Haus zerstört hatte. Ebenfalls hatte ich eine Kopie der Todesanzeige erhalten, die zwei Jahre vor dem Brand erschienen war. Lillian Bates Henry war in New York City geboren als Tochter von Nathaniel Bates, einem bekannten Anlagebankier, und Emily Bates, einer einflussreichen Gestalt in der Frauenwahlrechtsbewegung der Jahrhundertwende. Lillian war in den Vorständen mehrerer Wohltätigkeitsorganisationen tätig gewesen und hatte ihr Leben, wie der Artikel angab, in den Dienst der anderen gestellt. Sie wurde von Nichten und Neffen auf der Familienseite ihres Bruders Reginald überlebt und von ihrem geliebten Gatten von dreiundachtzig Jahren, William J. Henry.
»Dreiundachtzig Jahre«, sagte der Direktor. »Das heißt, ihre Hochzeit war …«
»1912«, ergänzte ich für ihn. »1912 wäre Warthrop neunundfünfzig Jahre alt gewesen.«
»Warthrop?«
»Falls es je einen Warthrop gegeben hat. Und wenn es einen gab, dann war er 1912 schon tot.«
»Wieso denken Sie das?«
»Will schreibt, dass er bis zu Warthrops Tod sein ständiger Begleiter war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie geheiratet haben und Pellinore Warthrop bei ihnen eingezogen ist.«
»Aber glauben Sie denn wirklich, dass es jemals einen Pellinore Warthrop gegeben hat?« Ich konnte ein Lächeln aus seiner Stimme heraushören. Bei seiner Frage musste ich plötzlich an Will Henrys Worte denken: Ich jagte dem nach, den ich verloren hatte.
»Ich glaube allmählich, dass es hier irgendeine zugrunde liegende Allegorie gibt«, sagte ich vorsichtig. »Ganz am Anfang des Tagebuchs sagt Will Henry, dass Warthrop schon vierzig Jahre tot ist. Wenn Warthrop um 1912 herum ›gestorben‹ ist, heißt das, dass Will die Tagebücher ungefähr um dieselbe Zeit anfing, als das Haus in Auburn niederbrannte, direkt nachdem er alles verloren hatte – erst die einzige Gefährtin in seinem Leben und dann alles, was er noch hatte. Vielleicht sind die Tagebücher irgendeine schräge Art, mit alldem umzugehen.«
»Also erfindet er eine Vergangenheit, die von Monstern bevölkert ist, um die Monster in seiner Vergangenheit zu verstehen?«
»Na ja, es ist bloß eine Theorie. Ich bin kein Psychiater.«
»Vielleicht sollten wir einen hinzuziehen.«
Für wen?, fragte ich mich im Stillen. Will Henry oder mich?
* * *
In dieser Nacht lag ich wach im Bett und dachte an Feuer – das erste Feuer, das ihm die Eltern weggerissen hatte, und das zweite Feuer, das alles andere gefordert hatte. Feuer zerstört, hatte er geschrieben, aber es reinigt auch. Er war ein Mensch, der alles verloren hatte – nicht einmal, sondern zweimal, wenn diesem Element der Tagebücher zu glauben war. Er muss sich, wie John Kearns, die Frage gestellt haben, ob unser kolossaler menschlicher Irrtum darin lag, den falschen Gott anzubeten. Vielleicht waren die Tagebücher sein Versuch, dem Sinnlosen einen Sinn einzugeben, dem unsichtbaren Monster, das immer da ist, dem Gesichtslosen, das ein zehntausendstel Zoll außerhalb unseres Gesichtsfeldes lauert.
Während ich über diese Möglichkeit nachdachte, begann mein Herz zu rasen, und ich wurde plötzlich von einem Verlangen überwältigt, mich einfach abzuwenden … die drei verbliebenen Tagebücher nicht mehr zu lesen … alle dem Direktor zurückzugeben und meine Untersuchung, oder wie immer man es nennen wollte, einzustellen. Eine kleine Stimme warnte mich, dass ich mich auf einem Weg bewegte, auf dem ich nicht gehen wollte, auf dem ich nicht gehen sollte. Ich hatte das Gefühl, als rollte sich etwas in mir auseinander, etwas, das ein intimer Teil von mir war und doch irgendwie vollkommen fremd und unerkennbar, und diese beiden Teile zerrten mit genug Kraft aneinander, um die Welt zu zerbrechen. Will Henry hatte es das Ungeheuer genannt, das Monster, und er hatte mir versprochen, ich würde noch verstehen, was er meinte.
Er hatte sein Versprechen gehalten.