PROLOG

September 2010:
»Kontakt«

i14-c.jpg

Jeder hat irgendjemanden.

Mehr als drei Jahre waren ins Land gegangen, seit der Direktor des Pflegeheims mir die dreizehn ledergebundenen Notizbücher des verstorbenen Mittellosen überlassen hatte, der sich selbst William James Henry genannt hatte. Der Direktor wusste nicht, was er von den Tagebüchern halten sollte, und ich, nachdem ich die ersten drei Bände gelesen hatte, offen gestanden auch nicht.

Kopflose humanoide Killermaschinen, die im Neuengland des späten neunzehnten Jahrhunderts Amok laufen. Der »Wissenschaftler der anomalen Biologie«, der solche Kreaturen studiert und (wenn nötig) zur Strecke bringt. Mikroskopisch kleine Parasiten, die ihrem Wirt irgendwie ein unnatürlich langes Leben verleihen – wenn sie es nicht »vorziehen«, ihn stattdessen umzubringen. Mitternächtliche Autopsien, Wahnsinnige, Menschenopfer, Monster in unterirdischen Höhlen und ein Monsterjäger, der möglicherweise der berühmteste Serienmörder in der Geschichte war – oder auch nicht … Es war keine Frage, dass Will Henrys seltsames und beunruhigendes »Tagebuch« ein Werk der Fiktion oder der sorgfältig ausgearbeiteten, in hohem Maße geordneten Wahnvorstellungen eines Mannes, dessen Verstand sich offensichtlich aufgelöst hatte, sein musste.

Monster sind nicht real.

Aber der Mann, der über sie schrieb, war mit Sicherheit real. Die Rettungssanitäter, die ihn ins Krankenhaus gebracht hatten, nachdem ein Jogger ihn bewusstlos in einem Abzugsgraben entdeckt hatte. Die Sozialarbeiter und Polizisten, die seinen Fall bearbeitet hatten. Die Angestellten und die Freiwilligen in der betreuten Senioreneinrichtung, die ihn gebadet und gefüttert hatten, die ihm vorgelesen und sein Entschlafen im hohen Alter von (gemäß Will Henry) einhunderteinunddreißig erleichtert hatten. Und natürlich hatte ich in meinem Besitz die Tagebücher selbst, die irgendjemand geschrieben hatte. Die Frage war – war es immer gewesen – eine der Identität, nicht der Wahrheit. Wer war William James Henry? Woher stammte er? Und welcher unglückliche Umstand führte ihn zu jenem Abzugsgraben, halb verhungert, diese handgeschriebenen Notizbücher – neben den Kleidern auf seinem Rücken – sein einziger Besitz?

Jeder hat irgendjemanden, hatte der Direktor der Einrichtung mir gesagt. Irgendjemand kannte die Antwort auf diese Fragen, und ich nahm es auf mich, diese Person zu finden, und veröffentlichte im Herbst 2009 die ersten drei Bände des Tagebuchs unter dem Titel Der Monstrumologe. Der zweite Teil der Sammlung, genannt Der Fluch des Wendigo, erschien im folgenden Jahr. Auch wenn die Thematik ziemlich absonderlich war, hoffte ich, dass der Autor wenigstens einen Teil der Wahrheit über sich und seine Vergangenheit eingebaut hatte. Vielleicht erkannte ein Leser in der Erzählung ja etwas von einem Verwandten, einem Mitarbeiter, einem lange verschollenen Freund, und setzte sich mit mir in Verbindung. Ich war überzeugt, dass irgendjemand irgendwo diesen armen Mann kannte, der sich selbst Will Henry nannte.

Meine Motivation ging über bloße Neugier hinaus. Er war einsam gestorben, mit nichts und niemandem, und mit den Ärmsten der Armen vergessen in einem Armengrab zur letzten Ruhe gebettet worden. Mein Herz schlug ihm entgegen, und ich wollte ihn, aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz verstehe, nach Hause bringen.

Nicht lange nach dem Erscheinen des Monstrumologen begann ich E-Mails und Briefe von Lesern zu bekommen. Die große Mehrheit waren Spinner, die behaupteten, zu wissen, wer Will Henry war. Mehr als einer bot an, es mir zu sagen – gegen Bezahlung. Ein paar machten wohlgemeinte Vorschläge für weitere Nachforschungen. Einige, wie vorherzusehen war, bezichtigten mich, der Verfasser zu sein. Ein Jahr verging, dann zwei, und ich war der Wahrheit keinen Schritt nähergekommen. Meine eigenen Nachforschungen hatten keinen wesentlichen Fortschritt gebracht. Genau genommen hatte ich am Ende dieser beiden Jahre mehr Fragen als an dem Punkt, wo ich angefangen hatte.

Dann, im Spätsommer letzten Jahres, erhielt ich die folgende E-Mail von einer Leserin im Norden des Staates New York:

Lieber Mr Yancey,

ich hoffe, Sie halten mich nicht für irgendeine Verrückte oder Schwindlerin oder so etwas. Meine Tochter bekam Ihr Buch zum Lesen im Literaturunterricht zugeteilt, und gestern Abend kam sie ganz aufgeregt zu mir, weil wir zufällig einen Verwandten haben, dessen Name wirklich Will Henry war. Er war der Mann der Großtante meines Vaters. Vermutlich ist es nur ein verrückter Zufall, aber ich denke, vielleicht sind Sie ja interessiert, falls Sie sich das Zeug mit dem Finden der Tagebücher nicht einfach ausgedacht haben.

Mit freundlichen Grüßen,
Elizabeth Reed1

Ein paar E-Mails und ein Telefonat später saß ich im Flieger nach New York, um mich mit Elizabeth in ihrer Heimatstadt Auburn zu treffen. Nach ein wenig angenehmer Plauderei und ein paar Tassen Kaffee in einem örtlichen Diner-Imbiss nahm sie mich auf den Fort-Hill-Friedhof mit. Meine Führerin war eine lebhafte, extrovertierte Frau mittleren Alters, die inzwischen die Faszination, die das Geheimnis Will Henrys auf mich ausübte, mit mir teilte. Sie stimmte mit mir darin überein – wie jeder vernünftige Mensch es tun würde –, dass seine Geschichte mehr Fiktion als Fakt sein musste, aber ihre ganz reale familiäre Verbindung zu einem Mann mit diesem Namen war keine Erfindung. Es war diese Verbindung, die mich nach New York und auf diesen Friedhof brachte. Sie hatte mir ein Bild des Grabsteins gemailt, aber ich wollte ihn mit eigenen Augen sehen.

Es war ein wunderschöner Nachmittag, die Bäume herausgeputzt mit all ihrer herbstlichen Pracht, der Himmel von wolkenlosem, strahlendem Blau. Und ich stand, drei Jahre und drei Monate nach dem ersten Lesen dieser quälenden einleitenden Zeilen (Dies sind die Geheimnisse, die ich gehütet habe. Dies ist das Vertrauen, das ich niemals missbraucht habe …), am Fuße des Grabes, vor einer granitenen Gedenktafel, auf die eingemeißelt war:

LILLIAN BATES HENRY

Geliebte Ehefrau

***

Abschied nehmen ist alles,

was wir vom Himmel kennen

***

Und alles, was wir von der Hölle brauchen.

»Ich habe sie nie kennengelernt«, erzählte Elizabeth. »Aber mein Vater sagte, sie war ein Original.«

Ich konnte die Augen nicht von dem Namen abwenden. Bis zu diesem Moment hatte ich nichts Greifbares außer den Tagebüchern und ein paar alten Zeitungsausschnitten und anderen fragwürdigen Artefakten, die zwischen den vergilbten Seiten steckten, gehabt. Doch hier war ein Name in Stein gemeißelt. Nein – mehr als das. Hier war ein Mensch, buchstäblich genau vor meinen Füßen, über den Will geschrieben hatte.

»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte ich heiser. »Will Henry?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kannte sie beide nicht. Er verschwand ein paar Jahre nach ihrem Tod, bevor ich geboren wurde. Es gab ein Feuer …«

»Ein Feuer?«

»Ihr Haus. Wills und Lillys. Ein Totalschaden. Die Polizei ging von Brandstiftung aus und die Familie ebenfalls.«

»Sie glaubten, Will Henry hatte es gelegt, stimmt’s?«

»Meine Familie mochte ihn nicht besonders.«

»Wieso?«

Sie zuckte die Achseln. »Papa sagte, er war … irgendwie merkwürdig. Aber das ist nicht der Hauptgrund.«

Sie kramte in ihrer Handtasche. »Ich habe ein Bild von ihr mitgebracht.«

Mein Herz schlug schneller. »Ist Will darauf?«

Sie zog eine verblasste Polaroidfotografie heraus und hielt sie leicht schief, um den grellen Schein der Sonne von oben zu mindern.

»Es ist das einzige, das ich unter Papas Sachen finden konnte. Ich suche aber noch; vielleicht finde ich noch andere. Es ist von ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag.«

Ich rechnete es schnell aus. »Das wäre 1949 gewesen – ihr vorletzter.«

»Nein, es war ihr letzter. Sie starb vor ihrem nächsten Geburtstag.«

»Ist das Will, der da links von ihr sitzt?« Er schien ungefähr das richtige Alter zu haben.

»Oh, nein. Das ist ihr Bruder, Reggie, mein Urgroßvater. Will sitzt auf der anderen Seite.«

Das Foto war mehr als sechzig Jahre alt und nicht ganz scharf, aber der Mann zu Lillys Rechten kam mir mindestens zwanzig Jahre jünger vor als sie. Elizabeth stimmte mir zu.

»Das ist der Hauptgrund, warum meine Familie ihn nicht mochte, Papa zufolge. Lilly erzählte jedem, er sei zehn Jahre jünger, aber auf diesem Bild sieht es nach doppelt so viel aus. Alle dachten, er hätte Tante Lilly ihres Geldes wegen geheiratet.«

Ich konnte die Augen nicht von der verschwommenen Fotografie losreißen. Ein hageres Gesicht, dunkle, tief liegende Augen und ein steifes, ein bisschen rätselhaftes Lächeln. Dies sind die Geheimnisse, die ich gehütet habe.

»Kinder?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hatten nie welche. Und Papa sagte, sie hätten nie irgendwelche von Wills Verwandten kennengelernt. Er war total geheimnisumwittert. Es wusste nicht mal jemand genau, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.«

»Ich nehme an, Sie wissen, was ich als Nächstes fragen werde.«

Sie lachte hell. Vor diesem Hintergrund klang es seltsam blechern.

»Hat er je darüber gesprochen, für einen Monsterjäger zu arbeiten, als er jünger war? Hat er nicht – wenigstens in keiner der Geschichten, die ich gehört habe. Das Problem ist, jeder, der eine solche Geschichte vielleicht gehört hat, ist inzwischen tot.«

Wir schwiegen einen Moment lang. Ich hatte tausend Fragen und konnte keine einzige davon genau auf den Punkt bringen.

»Also brennt ihr Haus nieder und Will verschwindet, und niemand hat je wieder von ihm gehört«, sagte ich schließlich. »Das war dann – wann? Zwei Jahre nach ihrem Tod, also 1952?«

Sie nickte. »Ungefähr um diese Zeit, ja.«

»Und fünfundfünfzig Jahre später taucht er in einem Entwässerungsgraben tausend Meilen weiter weg wieder auf.«

»Tja«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich habe nie behauptet, alle Antworten zu haben.«

Ich betrachtete den Grabstein. »Sie war alles, was er hatte«, sagte ich. »Und vielleicht ist er, als sie starb, ein bisschen wahnsinnig geworden und hat das Haus niedergebrannt und die nächsten fünf Jahrzehnte auf der Straße gelebt?«

Ich lachte trübselig und schüttelte den Kopf. »Es ist verrückt. Jetzt bin ich der Wahrheit näher denn je, und es kommt mir so vor, als wäre ich ihr nie ferner gewesen.«

»Wenigstens wissen Sie jetzt, dass er die Wahrheit über sie gesagt hat«, versuchte sie mich zu trösten. »Es gab wirklich eine Lilly Bates, die 1888 etwa dreizehn Jahre alt gewesen ist. Und es gab wirklich einen Mann namens William James Henry.«

»Richtig. Und alles andere, worüber er schreibt, könnte immer noch ein Produkt seiner Vorstellungskraft sein.«

»Sie klingen enttäuscht. Wollen Sie denn, dass Monster real sind?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich will«, gestand ich. »Was können Sie mir sonst noch über Lilly erzählen? Außer Reggie, gab es da noch andere Brüder oder Schwestern?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich weiß, dass sie in New York aufgewachsen ist. Die Familie war ziemlich begütert. Ihr Vater – mein Ururgroßvater – war ein ganz großer Finanzmann, in einer Liga mit den Vanderbilts.«

»Sagen Sie’s nicht: Nachdem sie gestorben und das Haus abgebrannt war, stellte man fest, dass ihre Bankkonten leergeräumt waren.«

»Nein. Sie waren nicht angerührt worden.«

»Also war Will wohl doch nicht nur aufs Geld aus. Man sollte denken, die Familie hätte ihre Meinung über ihn vielleicht geändert.«

»Es war zu spät«, erwiderte sie. »Tante Lilly war tot, und Will Henry war fort.«

* * *

Das war es, dachte ich auf dem Rückflug nach Florida. Das war es, was ich wollte. Ich wusste, dass Monster nicht real waren, und war ziemlich sicher, dass es keine ernsthaften Wissenschaftler gegeben hatte, die sich Monstrumologen genannt und Jagd auf sie gemacht hatten. Es ging nicht um die Tagebücher, wenngleich ich zugeben musste, dass sie mich faszinierten; es war das Warum hinter dem Was. Es war Will Henry selbst.

Ich begab mich wieder an die Tagebücher. Monster mochten nicht real sein, aber Lilly Bates war es gewesen. In den Folianten steckten Hinweise, die mich vielleicht zu Will Henry führten, zu dem Warum, das ich so unbedingt verstehen wollte. In diesen Seiten waren nachprüfbare Fakten verstreut, ein Puzzle des Realen, vermischt mit dem Bizarren. Sein Leben – und diese sonderbare Aufzeichnung davon – verlangte eine Erklärung, und ich war entschlossener denn je, herauszufinden, welche es war.

* * *

Wir alle sind Jäger. Wir sind, wir alle, Monstrumologen, schreibt Will Henry in der Abschrift, die folgt. Ich kann sagen, dass er völlig recht hat, zumindest in meinem Fall. Und das Monster, das ich jage, ist der Kreatur nicht unähnlich, die ihn und seinen Meister fast getötet hätte. Pellinore Warthrop hatte seinen Gral – und ich habe meinen.

R.Y.

Gainesville, FL

April 2011

1 Auf ihren eigenen Wunsch hin wurde der Name geändert, um ihre Identität zu schützen.