Zweiundvierzig
»Fundamental menschlich«
![i14-c.jpg](/epubstore/Y/R-Yancey/Der-monstrumologe-und-die-insel-des-blutes//images/00008.jpeg)
Es war mir nicht möglich, ihn dazu zu bringen, dass er sich rührte. Ich bettelte, schmeichelte, appellierte an seine Vernunft – das eine, woran er sich immer klammerte, egal wie stark die dunkle Flut ihn hinunterzog. Er wollte sich nicht rühren – oder, besser gesagt, das dunkle, sich entrollende Ding in seinem Herzen wollte nicht lockerlassen. Er schien mich nicht zu hören, vielleicht klangen meine Worte auch nur nach Kauderwelsch für ihn, unzusammenhängendes Geschwafel, das nicht mehr Sinn ergab als das Schnattern eines Schimpansen. Ich sah mich nach Kearns um und dachte dabei, dass unsere Lage wirklich verzweifelt sein musste, dass ich mich an ihn um Hilfe wandte, aber Kearns war im Nebel verschwunden. Langsam und behutsam, um ihn nicht zu erschrecken, nahm ich dem Doktor den Revolver aus der zitternden Hand; ich hatte Angst, er könnte versehentlich abdrücken und sich den Fuß wegschießen.
Die wabernde weiße Wolke um uns herum war dichter geworden. Ich konnte in keine Richtung mehr als ein paar Schritte weit sehen und kein Geräusch außer dem Wind, der zwischen den zerbrochenen Zähnen des Berges pfiff, und meinem eigenen stoßartigen Atmen hören. Ich stand auf, entnervt und orientierungslos, und drehte mich langsam im Kreis, und eine panische Stimme in meinem Kopf flüsterte: Wo ist Kearns? Wo ist er hin? Wieso ist er weg?, während mein Finger den Abzug streichelte. Was war das da im Nebel? War es ein Stalagmit oder die Gestalt eines einstmals menschlichen Kindes Typhoeus’, das aus dem verschwommenen Weiß auftauchte? Ich richtete den Revolver darauf und rief Kearns’ Namen.
Etwas ein zehntausendstel Zoll außerhalb meines Gesichtsfelds schoss auf mich zu, knallte mir mitten in den Rücken und schleuderte mich kopfüber auf die flache Schale in der Mitte des zerstörten Thrones Typhoeus’ zu. Der Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen, und der Revolver des Doktors fiel mir aus der Hand. Ich landete auf dem Rücken und rollte mich herum, und als ich mich aufrichtete, sah ich mich den anzüglich grinsenden, ausgetrockneten Überresten eines lebenden Leichnams gegenüber, einem menschlichen Giftsack, dessen Bauch mit Sternenfäule gefüllt war und dessen enorme Masse dorniger Zähne im kraftlosen Licht einer erstickten Sonne funkelten. Ich krabbelte zurück, es stürzte vor, und meine Entsetzens- und seine Wutschreie bekriegten sich mit dem hohen Schleifen des Winds am zeitlosen Stein. Meine Hand fuhr in die Jackentasche auf der Suche nach Awaales Messer; der kalte Stahl schnitt mir den Handteller auf, als ich nach dem Griff umhertastete. Der Mund des Monsters klaffte weit auf, als es mein Blut roch; in seinen schwarzen, starren Augen konnte ich mein Spiegelbild gebannt sehen.
Ich wich zurück; es ging vorwärts. Das Messer lag jetzt in meiner Hand, das hölzerne Heft rutschig von meinem Blut. Ich konnte spüren, wie das Blut im Rhythmus meines galoppierenden Herzens aus der Wunde lief. Die Zeit selbst fing an zu wackeln und sich aufzulösen, und wir glitten in den Raum zwischen den Räumen, das Kind des Typhoeus und ich, balancierten auf der Klippe, während zu beiden Seiten die unergründliche Kluft lag, die Grube ohne Boden, das Ungeheuer. Sein Mund dehnte sich so weit, dass die Kiefergelenke nicht standhielten: Die Sehnen rissen mit einem nassen plopp!, und dann fiel die gesamte untere Gesichtshälfte ab und wurde unter seinen schlurfenden Füßen zertrampelt. Mit gekrümmten Fingern griff es nach mir, und die spitzen gelben Nägel klickten. Ich hieb wie wild nach dem, was von seinem Gesicht noch übrig war; das Messer, glitschig vom Blut, flog mir aus der Hand; und dann war das Ding über mir.