Elf

»Was wissen Sie von meinen Angelegenheiten?«

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Von Helrung, der wusste, wo das wahre Monstrum horribilis der Angelegenheit lauerte, sagte: »Dann ist der Ruf also gekommen, und du musst ihm folgen, aber du darfst ihm nicht alleine folgen.«

»Nun, selbstverständlich. Will Henry kommt mit mir.«

»Selbstverständlich«, echote von Helrung. Seine strahlend blauen Augen fielen auf mich. »Will Henry.«

»Will Henry … was? Unterschätze ihn nicht, von Helrung. Ich würde ein Dutzend Pierre Lebroques für einen William James Henry eintauschen.«

»Nein, nein, du missverstehst mich, Pellinore. Der Junge hat sich als unentbehrlich für dich erwiesen, das vorzeitige Ableben seines Vaters als tragischer Segen. Aber deine rechte Hand, so will ich ihn einmal nennen, ist schwer verwundet an der linken …«

»Er hat einen Finger verloren. Einen Finger! Ha, ich hatte einmal einen Sherpa, der mich über den Himalaya geführt hat, während ihm der Dünndarm aus dem Bauch hing – im Winter!«

»Es gibt viele hervorragende Monstrumologen, die sich auf die Chance stürzen würden, mit …«

»Zweifelsohne!« Warthrop lachte harsch. »Ich bin sicher, ich hätte genug Freiwillige, um der gesamten Magnificum-Population zehn zu eins überlegen zu sein. Hältst du mich für einen ausgemachten Narren?«

»Ich schlage ja nicht vor, dass wir eine Anzeige im Journal aufgeben, Pellinore«, erwiderte von Helrung mit übertriebener Geduld, wie ein nachsichtiger Vater einem widerspenstigen Kind. »Wie ist es mit Walker? Er ist ein angesehener Wissenschaftler und Brite reinsten Wassers. Er wird niemandem ein Sterbenswörtchen davon sagen.«

»Sir Hiram … dieser Einfaltspinsel? Er war schon immer mehr damit beschäftigt, seine eigenen Interessen zu fördern als die der Wissenschaft.«

»Dann eben ein Amerikaner. Torrance hast du doch immer gemocht.«

»Das stimmt. Ich habe eine Schwäche für Jacob, aber er ist zu unbesonnen. Und ein zügelloser Mensch. Ich würde ihn nie aus den Kneipen rauskriegen.«

»Caleb Pelt. Nun komm schon, Pellinore, ich weiß, dass du Pelt respektierst!«

»Ich respektiere Pelt ja auch. Und ich weiß zufällig, dass Pelt sich in Amazonien aufhält und vor sechs Monaten nicht zurückerwartet wird.«

Von Helrung richtete sich auf, warf sich in die dicke Brust und sagte: »Dann werde ich dich begleiten.«

»Du?« Warthrop wollte schon lächeln und hielt sich gerade noch zurück, als er merkte, dass es dem alten Mann todernst war. Stattdessen nickte er ernst. »Eine perfekte Wahl, wenn der Nidus nur fünfzehn Jahre früher zu uns gekommen wäre.«

»Ich bin noch nicht so alt, dass ich im Notfall nicht meinen Mann stehen kann«, erwiderte der Österreicher heftig. »Meine Knie sind zwar nicht mehr das, was sie einmal waren, aber mein Herz ist stark …«

Der Monstrumologe legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter. »Das stärkste Herz, das ich je gekannt habe, Meister Abram, und das treueste.«

»Du kannst diese Bürde nicht alleine schultern!«, redete ihm von Helrung eindringlich zu. »Manche Bürden, lieber Pellinore, sind unmöglich wieder abzulegen, wenn man sie erst …«

Das Schrillen der Klingel unterbrach ihn und veranlasste meinen Herrn dazu, sich rasch und beunruhigt zur Tür umzudrehen.

»Du erwartest jemanden?«, wollte er wissen.

»Das tue ich, aber auf sein Drängen hin, nicht auf meine Einladung«, antwortete von Helrung unbeschwert. »Sei unbesorgt, mein Freund. Ich habe ihm nichts erzählt … nur dass ich dich heute erwarte. Er will dich unbedingt kennenlernen, und wie du weißt, habe ich ein weiches Herz; ich konnte nicht ablehnen.«

Kaum hatte unser Gastgeber die Tür einen Spalt weit geöffnet, als sein Besucher sich auch schon den Weg ins Vestibül bahnte. Er blieb nicht stehen, nicht einmal, um von Helrung Hut und Handschuhe zu übergeben, sondern raste in den Salon, um sich förmlich auf den Doktor zu stürzen.

Er war jung, Anfang zwanzig, schätzte ich, groß, athletisch gebaut, modisch gekleidet (ein bisschen von einem Stutzer, war mein erster Eindruck von ihm), hatte dunkles Haar und ein hageres Gesicht. Mit seinen hohen, knochigen Wangen und der spitzen, leicht gekrümmten Nase hätte man ihn auf eine aristokratische Art für attraktiv halten können – das »Hohle-Blick«-Aussehen, das unter den privilegierten Schichten so häufig war. Er ergriff energisch die Hand meines Herrn, riss sie regelrecht an sich, wobei er so fest zudrückte, dass Warthrop zusammenzuckte.

»Dr. Warthrop, ich kann meinem tief empfundenen Entzücken, Sie endlich kennenzulernen, gar keinen Ausdruck verleihen, Sir! Es ist wahrhaftig … nun, eine Ehre, Sir! Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich mich derartig aufdränge, aber als ich hörte, dass Sie nach New York kämen, konnte ich die Gelegenheit einfach nicht verstreichen lassen!«

»Pellinore«, sagte von Helrung. »Darf ich dir meinen neuen Schüler vorstellen, Thomas Arkwright, von den Long-Island-Arkwrights.«

»Schüler?« Warthrop runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hättest dich vom Unterrichten zurückgezogen?«

»Herr Arkwright ist äußerst beharrlich.«

»Es ist alles, was mir jemals wirklich wichtig war, Dr. Warthrop«, sagte Thomas Arkwright von den Long-Island-Arkwrights, »schon als ich so alt wie Ihr Sohn hier war.«

»Will Henry ist nicht mein Sohn.«

»Nicht?«

»Er ist mein Assistent.«

Thomas riss vor Verwunderung die Augen auf. Er taxierte mich mit neuem Respekt.

»Ich glaube nicht, dass ich je von einem so jungen Assistenten gehört habe. Wie alt ist er, zehn?«

»Dreizehn.«

»Schrecklich klein für dreizehn«, stellte Thomas fest. Er warf mir ein schnelles, gönnerhaftes Lächeln zu. »Du musst sehr gescheit sein, Will.«

»Nun«, sagte der Doktor, und dann sagte er nichts mehr.

»Ich komme mir jetzt ausgesprochen alt vor, schrecklich im Rückstand mit meinem Studium«, scherzte Thomas. Er wandte sich an Warthrop. »Ich hätte mich nie beworben, wenn ich gewusst hätte, dass Sie bereits einen Lehrling haben.«

»Will Henry ist nicht direkt mein Lehrling.«

»Nein? Was ist er dann?«

»Er ist …« Der Doktor starrte auf mich herunter. Genau genommen starrten alle drei Männer mich an. Die Stille war erdrückend. Was genau war ich für Pellinore Warthrop? Ich wand mich in meinem Sessel.

Schließlich zuckte der Monstrumologe die Schultern und drehte sich wieder zu Thomas um. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie hätten sich nie beworben?«

»Nun, bei Ihnen in die Lehre zu gehen, Dr. Warthrop.«

»Es stimmt«, gab von Helrung zu. »Ich bin nicht Thomas’ erste Wahl.«

»Ich erinnere mich nicht, Ihre Bewerbung bekommen zu haben«, sagte mein Herr.

Thomas schien geknickt. »Welche? Ich habe zwölf geschickt.«

»Wirklich?« Warthrop war beeindruckt.

»Nein, nicht wirklich. Dreizehn eigentlich. Zwölf klang irgendwie weniger verzweifelt.«

Zu meinem Schrecken lachte der Monstrumologe. Das kam so selten vor, dass ich dachte, er hätte sich an einem Stück Teekuchen verschluckt.

»Und ich habe nie eine davon beantwortet?« Mit einem Stirnrunzeln, das eine Braue in die Nähe seines Haaransatzes brachte, wandte sich Warthrop mir zu. »Will Henry ordnet die Post für mich, und ich kann mich nicht entsinnen, auch nur eine von Ihnen bekommen zu haben.«

»Ach! Tja. Vielleicht wurden sie irgendwie verlegt.«

Wieder donnerte ein lastendes Schweigen auf mich herab. Mir wurde heiß im Gesicht. Es entsprach der Wahrheit, dass ich die Korrespondenz des Doktors ordnete, und es entsprach der Wahrheit, dass ich mich nicht an den Namen Thomas Arkwright erinnern konnte, aber zu protestieren hätte meinen Vormund nur von meiner Schuld überzeugt.

»Dann stimmt die Redensart ›Ende gut, alles gut‹ also«, warf von Helrung schließlich mit einem tröstenden Tätscheln meiner Schulter ein. »Ich habe einen neuen Schüler, und du, Pellinore, du hast deinen …« Er suchte nach der passenden Beschreibung. »Will Henry«, beendete er mit einem entschuldigenden Schulterzucken seinen Satz.

Kurz darauf bat Thomas darum, sich verabschieden zu dürfen. Er habe Dr. Warthrop nur gestört, um seiner unsterblichen Bewunderung Ausdruck zu verleihen; er wisse, dass auf den Doktor dringende Angelegenheiten warteten, und wünsche nicht, ihn aufzuhalten.

»Was wissen Sie von meinen Angelegenheiten?«, fragte der Doktor scharf mit einem anklagenden Seitenblick an von Helrungs Adresse – du hast es ihm erzählt!

»Von der gegenwärtigen Sache weiß ich nichts. Professor von Helrung war diesbezüglich ärgerlicherweise ganz wortkarg«, eilte Thomas seinem Mentor zu Hilfe. »Ich weiß, dass sie wichtig ist – ungeheuer wichtig, wenn mir dieses Wortspiel erlaubt ist. Was den Rest betrifft, so kann ich nur Vermutungen anstellen. Sie sind hier in New York, um Professor Ainsworth einen Nidus ex magnificum anzuvertrauen, der kürzlich aus Übersee in Ihren Besitz gelangt ist – England, würde ich vermuten.« Er zuckte entschuldigend die Achseln. »Aber das ist alles, was ich vermuten kann.«

Mit leicht blasierter Miene wartete Thomas Arkwright auf die Reaktion des Monstrumologen, denn er vermutete nicht, dass er recht hatte, er wusste es.

»Das ist eine bemerkenswerte ›Vermutung‹, Mr Arkwright«, sagte Warthrop mit einem wütenden Blick auf von Helrung. Es war klar, dass er glaubte, getäuscht und verraten worden zu sein.

»Gar nicht so bemerkenswert«, erwiderte Thomas. »Ich weiß, dass Sie im Monstrumarium gewesen sind – das ist einfach. Der Geruch umgibt Sie wie ein übel riechendes Parfum. Und ich weiß, dass Sie direkt vom Bahnhof aus dorthin gegangen sind, denn Sie stecken immer noch in den Reisekleidern, was darauf schließen lässt, dass Ihre Besorgung von äußerster Dringlichkeit war … kein Moment zu verlieren war.«

»So weit haben Sie recht«, räumte mein Herr ein. »Aber so viel ist, wie Sie schon sagten, einfach. Was ist mit dem Rest?«

»Nun, Sie sind nicht losgezogen, um etwas von dem alten Mann zu bekommen. Das Monstrumarium wird nicht von ungefähr Fort Adolphus genannt. Sie müssen etwas gebracht haben – und nicht einfach irgendetwas, sondern ein Etwas, das nicht einmal einen Augenblick lang unbeaufsichtigt in Ihrem Hotelzimmer bleiben durfte und ein zu großes Etwas war, als dass Sie es sicher bei sich hätten aufbewahren können. Mit anderen Worten, ein sehr spezielles Etwas, ein so seltenes und wertvolles Etwas, dass Sie es sofort in Sicherheit bringen mussten, unverzüglich.«

Der Doktor, offensichtlich beeindruckt, nickte schnell und schnalzte mit dem Finger in Arkwrights Richtung – eine Geste, die er mir gegenüber zahllose Male gemacht hatte: Weiter, weiter!

»Also ist er sehr selten, dieser Preis, den Sie mitgebracht haben – äußerst selten, und damit bleibt nur eine Handvoll monstrumologischer Raritäten übrig. Und von dieser Handvoll könnten nur eine oder zwei einen Wissenschaftler Ihres Formats dazu nötigen, alles stehen und liegen zu lassen und nach einer langen Reise mit Postkutsche und Eisenbahn geradewegs ins Monstrumarium zu hetzen. Nidus ex magnificum ist die offensichtliche Wahl, und weil kein Nidus je in der Neuen Welt entdeckt wurde, ist er aller Wahrscheinlichkeit nach aus Europa gekommen …«

»Ha!«, rief der Monstrumologe und hielt die Hand hoch. »Das Gerüst Ihrer Argumentation wird wackelig, Mr Arkwright! Wieso sollten Sie annehmen, mein spezielles Etwas ist aus Europa gekommen, wo doch das einzige für echt erklärte Etwas von den Lakshadweep-Inseln im Indischen Ozean stammt?«

»Weil ich Sie zu gut kenne – oder zu viel von Ihnen gehört habe, sollte ich lieber sagen. Wenn Sie den Ursprung des Etwas kennen würden, wären Sie nicht in New York. Sie hätten das Etwas Dr. von Helrung geschickt, um es im Verschlossenen Raum unterbringen zu lassen, und sich auf dem ersten Ozeandampfer eingeschifft.«

»Aber wieso ausgerechnet England?«

»England ist bloß geraten, das will ich zugeben. Frankreich konnte ich ausschließen: Das französische Kontingent der Gesellschaft hat sich noch nie viel aus uns Yanks gemacht – und erst recht nicht nach jenem unglücklichen Zwischenfall letzten Herbst mit Monsieur Gravois, an dem man, wie ich gehört habe, Ihnen die Schuld gibt, zu Unrecht meiner Meinung nach. Die Deutschen würden niemals einem Amerikaner einen Nidus anvertrauen – selbst wenn sein Name Pellinore Warthrop ist. Die Italiener – na ja, es sind halt Italiener. England war die logischste Wahl.«

»Außerordentlich«, murmelte Warthrop mit beifälligem Nicken. »Wirklich außerordentlich, Mr Arkwright! Und genau richtig in sämtlichen Einzelheiten, da will ich Sie nicht in die Irre führen.« Er wandte sich an von Helrung. »Meinen Glückwunsch, Meister Abram. Mein Verlust scheint dein Gewinn zu sein.«

Der österreichische Monstrumologe setzte ein breites Lächeln auf. »Er erinnert mich an einen anderen vielversprechenden Schüler von vor vielen Jahren. Ich gestehe, dass ich mich in meiner Senilität manchmal vergesse und ihn Pellinore nenne.«

»Oh, ich hoffe doch nicht!«, meinte mein Herr mit uncharakteristischer Bescheidenheit. »Das würde ich niemandem wünschen – oder der Welt. Einer ist genug!«

* * *

Thomas ging nicht eher, bis der Doktor und ich uns auf den Weg zum Hotel machten; ich nehme an, im Überschwang des Augenblicks vergaß er seinen demütigen Wunsch, den bedeutenden Mann nicht bei seinen wichtigen wissenschaftlichen Angelegenheiten aufzuhalten. Der bedeutende Mann selbst schien die dringenden Angelegenheiten vergessen zu haben, denn er war völlig vertieft in eine Unterhaltung, die sich ganz um ihn oder diese einzigartige Erweiterung seiner selbst namens Monstrumologie drehte.

Und Arkwright schien ein Experte für beides zu sein. Mit Bereitwilligkeit demonstrierte er ein enzyklopädisches Wissen über alles Warthrop’sche – seine kränkliche Kindheit in Neuengland; die »verlorenen Jahre« im Londoner Internat; die Vormundschaft unter von Helrung; die frühen Abenteuer in Amazonien, im Kongo und »jene Unglücksexpedition nach Sumatra«; seine unschätzbaren Beiträge zur Encyclopedia Bestia (mehr als ein Drittel der Artikel waren von Warthrop geschrieben oder mitgeschrieben); sein Eintreten für die Sache bei der allgemeineren Welt der Naturwissenschaften. Der Monstrumologe trank in vollen Zügen von dem speichelleckerischen Trank, bis er regelrecht betrunken war. Es hatte über dreißig Jahre gedauert, aber endlich sah es so aus, als hätte er jemanden kennengelernt, der Pellinore Warthrop ebenso sehr bewunderte wie er selbst.

In der Tat, die Luft im Zimmer war so gesättigt mit Warthrop, dass mir das Atmen schwerfiel. Von Helrung bemerkte mein Unbehagen und schlug, mit gedämpfter Stimme, einen Raubzug in die Küche für einen Überfall auf den Speiseschrank vor. Freudig nahm ich den Auftrag an, und wir stürmten die Vorratskammer, wo wir zwei Platten voll süßem Gebäck und zwei dampfende Tassen heißer Schokolade eroberten.

»Er ist sehr klug«, sagte von Helrung, womit er sich auf Thomas Arkwright bezog. »Aber man kann nur einen Moment in die Sonne schauen, und dann … Blindheit! Häufige Pausen sind erforderlich, aber du musst ja wissen, was ich meine, Will. Pellinore ist ja genauso.«

Ich nickte langsam und mied dabei seinen Blick. Er begriff sofort und sagte leise und mit großem Mitgefühl: »Ihm zu dienen, das weiß ich, ist hart. Männer wie Pellinore Warthrop – man muss äußerste Vorsicht walten lassen oder sich von ihrem funkelnden Geist vereinnahmen lassen. Das Schicksal deines Vaters, fürchte ich. In der Gegenwart von Männern wie Warthrop wird das kleinere Licht vom größeren verzehrt.«

»Woher weiß Thomas so viel über ihn?«, fragte ich. In einer halben Stunde hatte ich von einem Fremden mehr über den Monstrumologen erfahren als nach zwei Jahren des Zusammenlebens mit ihm.

»In erster Linie von mir. Den Rest von allen und jedem, die über ihn reden.«

»Na ja, alles über ihn weiß er nicht«, sagte ich. »Er wusste nicht, dass der Doktor schon einen Lehrling hatte.«

»Ja, das kam mir auch sonderbar vor. Er wusste es nämlich schon; ich habe es ihm bei unserem ersten Zusammentreffen vor vierzehn Tagen erzählt. Womöglich hat er es vergessen.«

»Oder er lügt.«

»Ist das klug, Will? Wenn wir vor der Wahl stehen, sollten wir da nicht immer den guten Beweggrund dem schlechten bevorzugen? Wahrscheinlich war es ihm nicht wichtig, also hat er es vergessen.« Ihm nicht wichtig! Ich schob meinen Teller weg; mir war der Appetit vergangen.

»Nein, nein, iss, iss!«, sagte er und schob mir den Teller wieder hin. »Du bist bei Weitem zu schmächtig für einen Jungen von zehn.«

»Ich bin dreizehn«, rief ich ihm ins Gedächtnis.

»Dann bist du viel zu dünn. Ein heranwachsender Knabe ist wie ein Heer, ja? Er reist auf seinem Magen! Ich muss mit Pellinore darüber reden. Ich nehme nicht an, dass er besonders viel kocht.«

»Er kocht überhaupt nicht. Wir hatten immer eine Köchin«, fügte ich hinzu, »aber der Doktor hat sie gefeuert. Sie hat eins seiner Exemplare gekocht.«

Das war die Wahrheit. Am Abend, bevor er sie an die Luft gesetzt hatte, war eine Zustellung an der Küchentür angekommen, und die Köchin, eine liebenswürdige alte Frau namens Paulina, die nahezu blind war (Warthrop betrachtete das als eindeutiges Plus), hatte sie fälschlich für eine Bestellung gehalten, die sie beim Fleischer, Mr Noonan, aufgegeben hatte. An jenem Abend aßen wir den Kadaver des seltenen Hallux turpis aus Kappadokien, den Paulina in ein herzhaftes Schmorgericht verwandelt hatte. Als dem Doktor zu seinem Entsetzen klar wurde, dass er einen der meistbegehrten Preise der Monstrumologie verzehrt hatte, feuerte er sie selbstverständlich auf der Stelle. Anschließend, nachdem er sich beruhigt hatte, räumte er ein, dass es kein kompletter Verlust für die Wissenschaft war: Wir hatten herausgefunden, dass Hallux turpis Hühnchen im Geschmack bemerkenswert ähnlich war.

»Ich mache alles für ihn«, sagte ich mit einem unbequemen Knoten aus Stolz und Unmut im Herzen. »Alles Kochen und Saubermachen und das Waschen, und ich schreibe seine Briefe und mache die Besorgungen und führe seine Akten und kümmere mich um die Pferde, und natürlich assistiere ich ihm im Laboratorium – das auch. Ganz besonders das.«

»Ja nun! Ich staune, dass du noch Zeit für deine Studien hast!«

»Meine Studien, Sir?«

»Gehst du denn nicht zur Schule?«

»Nicht, seitdem ich zu ihm gekommen bin.«

»Dann gibt er dir Privatunterricht, richtig? Er muss dir Privatunterricht geben. Nein?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

»Du glaubst nicht!« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge.

»Er setzt mich nicht mit Büchern und Stiften hin und erteilt mir Lektionen – so was nicht. Aber er versucht schon, mir Sachen beizubringen.«

»Sachen? Was für Sachen versucht er dir beizubringen, Will? Was hast du von ihm gelernt?«

»Ich habe gelernt …« Was hatte ich gelernt? Plötzlich konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Was hatte der Monstrumologe mir beigebracht? »Ich habe gelernt, dass die halbe Welt betet, dass sie bekommt, was sie verdient, und die andere Hälfte, dass sie es nicht bekommt.«

»Mein Gott!«, rief der einstige Lehrer meines Lehrers laut aus. »Ich weiß nicht, ob ich über diese Antwort lachen oder weinen soll! Aber so ist es mit der Wahrheit.«

Er ging zum Herd, kehrte mit der Kanne heißer Schokolade zurück und schenkte mir randvoll ein; dann verfuhr er mit seiner Tasse genauso und brachte die Nase dicht an die schlammfarbene Oberfläche, um den Duft einzuatmen; der Dampf färbte seine Wangen rosig. Er sah mich durch den Dampf an und lächelte.

»Ich liebe Schokolade! Du nicht auch?«

Einen winzigen Moment lang wollte ich die Arme um ihn schlingen und ihn drücken.

»Dr. von Helrung, Sir?«

»Ja

Ich senkte die Stimme. Ich dachte nicht darüber nach; es schien irgendwie angemessen. »Was ist Typhoeus magnificum

Sein Lächeln verschwand. Er schob die Tasse weg und verschränkte die Hände auf dem Tisch. Es kam mir vor, als schrumpfte der Raum zwischen uns, bis ich nur noch eine Haaresbreite von seinem transzendenten Antlitz entfernt war.

»Das ist schwer zu sagen – ganz schwer. Nur seine Opfer haben ihn gesehen, und die, für immer stumm, bewahren seine Geheimnisse.

Wir wissen, dass er existiert, denn wir haben den Nidus in Händen gehalten und wir haben – wie du ja zu deinem Unglück auch – die Opfer seines entsetzlichen Giftes gesehen. Aber seine Gestalt ist vor uns verborgen. Es gibt Geschichten … dass er zwanzig Fuß groß ist, dass seine Zähne, die er benutzt, um sein gottloses Nest zu bauen, beweglich wie die einer Spinne sind, dass er vom schwärzesten Himmel herabstößt, getragen von zehn Fuß breiten Flügeln, um seine Beute zu packen und sie in die höchsten Wolken zu tragen, wo er sie in Stücke reißt, und die Reste fallen in einem Regen aus Blut und Speichel wieder auf die Erde, welcher Pwdre ser genannt wird, die Sternenfäule.« Er schauderte heftig und atmete tief den beruhigenden Duft ein, der von seiner Tasse aufstieg.

»Das klingt nach einem Drachen«, sagte ich.

»Ja, das ist eins seiner Gesichter; er hat noch zahlreiche andere, so zahlreich wie diejenigen, die seinen Zorn erlitten haben. Und daher nennen wir ihn ›der Gesichtslose‹ und ›der mit den tausend Gesichtern‹.

Wir sind die Söhne Adams. Es liegt in unserer Natur, uns umzudrehen und dem Gesichtslosen ins Gesicht zu sehen, das Namenlose zu benennen. Das treibt uns zu Größe an; das lockt uns ins Verderben. Ich kann nur beten, dass Pellinore das begreift. Viele tapfere Männer haben ihn gesucht, alle sind gescheitert, und jetzt weiß ich nicht, was ich mehr fürchte – dass der Drache auch weiterhin ungesehen bleibt oder dass Pellinore ihn findet.«

»Aber wieso ist er denn so schwer zu finden?«, fragte ich.

»Vielleicht ist er wie der Teufel selbst – nie gesehen, immer da!« Er lachte leise und brach damit den düsteren Zauber. »Die Welt ist groß, lieber Will, und wir, ganz gleich wie gern wir auch anderes vorgeben würden, wir sind ganz klein.«