Dreizehn

»Der Raum zwischen uns«

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Warthrop hatte die Überfahrt für den nächsten Morgen auf der SS City of New York gebucht, dem schnellsten Schiff der Inman-Linie. Als Erste-Klasse-Passagiere durften wir damit rechnen, die anstrengendste aller Überfahrten ertragen zu müssen – bestehend aus einer eigenen Suite, die ein Schlafzimmer und ein getrenntes Wohnzimmer umfasste, ausgeschmückt mit den protzigsten viktorianischen Ausschweifungen, mit fließend warmem und kaltem Wasser und elektrischer Beleuchtung; gezwungen zu sein, jeden Abend die Abendmahlzeiten an schäbig mit frischem weißem Leinen drapierten und mit von frischen Blumen strotzenden Kristallvasen dekorierten Tischen einzunehmen, das Ganze unter der großen Glaskuppel des Erste-Klasse-Speisesaals; stundenlang in der nussbaumvertäfelten Bibliothek mit ihren achthundert Bänden festzusitzen; oder unablässig belästigt zu werden von besessen beflissenem Personal und Besatzung, in weißen Jacken und dem Doktor zufolge immer am Ellbogen des Passagiers, stets voller Eifer, die profansten Dienste zu verrichten.

»Überleg dir das mal, Will Henry«, hatte er in unseren Zimmern im Plaza gesagt, bevor er mir zum ersten Mal Gute Nacht gewünscht hatte, bevor ich vom Verschlossenen Raum und der Schachtel geträumt hatte, bevor sein Schatten an der Wand gehangen hatte.

»Unsere Vorfahren brauchten über zwei Monate, um den Atlantik zu überqueren, zwei Monate voller Entbehrung und Krankheiten: Skorbut, Ruhr, Dehydrierung. Für uns wird es weniger als eine Woche dauern, und die in fürstlicher Pracht. Die Welt schrumpft, Will Henry, und nicht durch ein Wunder, es sei denn, wir ändern unsere Definition dessen, was ein Wunder ausmacht.«

Sein Blick war verschleiert gewesen, seine Stimme wehmütig. »Die Welt wird kleiner, und Stück für Stück vertreibt das Licht unserer Lampen die Schatten. Eines Tages wird alles erleuchtet sein, und wir werden mit einer neuen Frage aufwachen: ›Ja, dies, doch nun … was?‹ Er lachte leise. »Vielleicht sollten wir umkehren und heimgehen.«

»Sir?«

»Es wird ein zukunftsweisender Moment in der Geschichte der Wissenschaft sein, der Fund des Magnificums, und nicht ohne einen gewissen Nebennutzen für mich selbst. Wenn ich Erfolg habe, wird es mir nichts weniger als die Unsterblichkeit einbringen – na ja, das einzige Konzept der Unsterblichkeit, das ich bereit bin zu akzeptieren. Aber wenn ich tatsächlich Erfolg habe, wird der Raum zwischen uns und dem Unbeschreiblichen noch ein bisschen mehr schrumpfen. Es ist das, wonach wir als Wissenschaftler streben und was wir als Menschen fürchten. Es ist etwas in uns, das sich nach dem Unsagbaren, dem Unerreichbaren, dem Ding, das nicht zu sehen ist, sehnt.«

Und dann verfiel er in Schweigen.

* * *

Und am nächsten Morgen war er fort.

Etwas war nicht in Ordnung; ich wusste es in dem Moment, als ich wach wurde. Ich verstand sofort – nicht im trivialen Sinn, nicht intellektuell, sondern mit dem Herzen. Nichts hatte sich verändert. Da war das Bett, in dem ich lag, und der Sessel, in dem er gesessen hatte, als er mich beobachtet hatte, und die große Frisierkommode und der Schrank und sogar seine Teetasse. Nichts hatte sich verändert; alles hatte sich verändert. Ich sprang aus dem Bett und rannte durch den Flur ins leere Wohnzimmer. Nichts hatte sich verändert; alles hatte sich verändert. Ich trat zu den Fenstern hinüber und zog die Vorhänge zurück. Acht Stockwerke tiefer glitzerte der Central Park, eine weiße Landschaft, die im Sonnenlicht unter einem wolkenlosen Himmel strahlte.

Sein Koffer. Seine Reisetasche. Seine Instrumententasche. Ich rannte zum Wandschrank und riss die Tür auf. Leer.

Alles hatte sich verändert.

* * *

Ich zog mich gerade an, als das Klopfen kam. Ich wäre schon angezogen gewesen, aber ich hatte Schwierigkeiten mit den Knöpfen an meiner Hose. Es war mir nie klar gewesen, wie hilfreich mein Finger bei der Prozedur gewesen war. Einen irrationalen Moment lang war ich mir sicher, der Doktor wäre zurückgekehrt, um mich zu holen.

Ah, gut. Du bist auf! Ich war unten zum Frühstücken, bevor wir an Bord gehen. Was ist los, Will Henry? Hast du wirklich gedacht, ich würde ohne dich abreisen?

Oder, was wahrscheinlicher war:

Mach fix, Will Henry! Was zum Teufel treibst du da? Wieso steht dein Hosenstall offen? Komm mit, Will Henry. Ich werde nicht die wichtigste Überfahrt meines Lebens verpassen, weil ein Dreizehnjähriger nicht in der Lage ist, sich anzuziehen! Mach fix, Will Henry, mach fix!

Es war jedoch nicht der Doktor. Zu diesem Schluss sind Sie mittlerweile gekommen.

»Guten Morgen, Will! Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin, aber mein Wagen hat eine Achse verloren, und mein Kutscher – er ist ein Dummkopf. Wenn er allein gewesen wäre, hätte er sie wahrscheinlich im Fundbüro gesucht. Ich würde ihn ja feuern, aber er hat eine Familie, die dummerweise Teil meiner Familie ist, weil er ein Vetter dritten oder vierten Grades ist, ich kann mich nicht erinnern …«

»Wo ist Dr. Warthrop?«, wollte ich wissen.

»Wo Warthrop ist? Wie, hat er es dir nicht gesagt? Bestimmt hat er es dir gesagt!«

Ich schnappte mir meinen Mantel und meinen dicken Schal vom Kleiderständer und den Hut, den er mir geschenkt hatte – das Einzige, was er mir je geschenkt hatte.

»Bringen Sie mich zu ihm!«

»Das kann ich nicht, Will.«

»Ich werde mit dem Doktor gehen!«

»Er ist nicht hier …«

»Ich weiß, dass er nicht hier ist! Deshalb bringen Sie mich jetzt zu ihm!«

»Nein, nein, er ist nicht hier, Will. Sein Schiff hat vor einer Stunde abgelegt.«

Ich stierte in von Helrungs freundliches Gesicht hinauf, und dann schlug ich ihm so fest ich konnte in den runden Bauch. Der Schlag entlockte ihm ein leises Stöhnen.

»Ich dachte, er hätte es dir gesagt«, keuchte er.

»Bringen Sie mich hin«, sagte ich.

»Wohin soll ich dich bringen?«

»Zum Hafen; ich muss mit ihm gehen.«

Er beugte sich vor, legte seine vierschrötigen, pummeligen Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen.

»Er ist nach England abgereist, Will. Das Schiff ist nicht mehr da.«

»Dann werde ich eben das nächste Schiff nehmen!«, rief ich. Ich riss mich los und zwängte mich an ihm vorbei in den Flur, wo ich mir den Schal um den Hals warf, den Hut auf den Kopf quetschte und an den Knöpfen meines Mantels herumfummelte. Der Boden vibrierte unter der Schwere seines Schritts, als er mir zum Fahrstuhl folgte, wo er mich einholte.

»Komm, Kleiner. Ich bringe dich nach Hause.«

»Ich will nicht, dass Sie mich nach Hause bringen; mein Platz ist bei ihm!«

»Er würde wollen, dass du wohlbehalten …«

»Ich will nicht wohlbehalten sein!«

»Und er hat mich beauftragt, für deine Sicherheit zu sorgen, bis er zurückkehrt. Will. Pellinore ist fort, und wo er hin ist, kannst du ihm nicht folgen.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich war bis tief ins Innerste verwirrt. Binnen eines Wimpernschlags verschwindet die Sonne, und das Universum bricht zusammen; das Zentrum kann nicht standhalten. Ich suchte in seinen gütigen Augen nach der Antwort.

»Er ist ohne mich gegangen?«, flüsterte ich.

»Mach dir keine Sorgen, lieber Will. Er wird zurückkommen und dich holen. Du bist alles, was er hat.«

»Und warum hat er mich dann zurückgelassen? Jetzt hat er niemanden!«

»Oh, nein; denkst du, Meister Abram würde so etwas zulassen? Nein! Thomas ist bei ihm.«

Ich war sprachlos. Thomas Arkwright! Das war zu viel. Ich erinnerte mich an die Worte des Doktors in der Kutsche am Abend zuvor: Ein wahrhaft bemerkenswerter junger Mann, Will Henry. Eines Tages wird er eine großartige Bereicherung für unsere Reihen sein. Dieser Tag, so hatte es den Anschein, war gekommen … auf meine Kosten. Ich war fallen gelassen worden – und weshalb? Was hatte ich getan?

Von Helrung drückte mein Gesicht an seine Brust. Seine Weste roch nach Zigarrenrauch.

»Es tut mir leid, Will«, murmelte er. »Er hätte dir wenigstens Auf Wiedersehen sagen sollen.«

Es ist nicht deine Aufgabe, dir um mich Sorgen zu machen.

»Er hat«, antwortete ich. »Aber ich habe ihn nicht gehört.«

Und danach mein Exil.

* * *

»Hier, das wird dein Zimmer sein, und wie du siehst, ist es ein sehr komfortables Bett, viel größer als das Bett, an das du gewöhnt bist, wette ich. Und schau, da ist ein schöner Sessel, in dem du neben dem Kamin sitzen kannst, sehr gemütlich, und eine Lampe, in deren Licht du lesen kannst, und da ist eine Truhe für deine Kleider. Und schau da draußen, Will. Da ist die Fifth Avenue, solch ein Treiben und Gedränge und Geschiebe! Sieh dir doch mal den Mann da auf dem Fahrrad an! Er wird gleich mit dem Gepäckwagen da zusammenstoßen! Aber jetzt bist du sicher hungrig. Was hättest du gerne? Komm, lass uns deine Tasche aufs Bett stellen. Möchtest du dich aufs Bett setzen? Es hat eine Federmatratze und Federkopfkissen; es ist ganz weich. Du bist also hungrig, ja? Mein Koch ist hervorragend, aus Frankreich – versteht kein Wort Englisch – oder Deutsch –, aber von Essen versteht er was!«

»Ich bin nicht hungrig.«

»Aber das musst du sein! Wieso stellst du deine Tasche nicht ab? Ich werde dir dein Essen hochschicken lassen. Du kannst hier essen, bei dem kleinen Feuer. Ich habe mir gedacht, später könnte ich dir die Bibliothek zeigen.«

»Ich will nichts lesen.«

»Du hast recht. Es ist ein zu schöner Tag, um drinnen zu hocken. Vielleicht später der Park, ja? Oder wir könnten …«

»Warum hat der Doktor Arkwright mitgenommen?«

»Warum? Nun, aus den offensichtlichen Gründen. Arkwright ist jung und sehr stark und ziemlich klug.« Er wechselte das Thema. »Aber komm jetzt, du musst essen! Du bist ja nur noch Haut und Knochen!«

»Ich bin nicht hungrig«, sagte ich noch einmal. »Ich will nicht essen oder lesen oder in den Park gehen oder sonst was. Wieso haben Sie ihn ohne mich gehen lassen?«

»Man ›lässt‹ Pellinore Warthrop nicht irgendetwas tun, Will. Dein Herr, er macht das ganze ›Lassen‹.«

»Sie hätten Mr Arkwright am Gehen hindern können.«

»Aber ich wollte ja, dass er mitgeht. Ich konnte Pellinore doch nicht allein gehen lassen.«

Es war das absolut Schlimmste, was er hätte sagen können, und er wusste es.

»Ich werde jetzt gehen«, meinte er sanft. »Aber zum Mittagessen erwarte ich dich unten. Ich werde François anweisen, etwas ganz Besonderes für dich zu zaubern, très magnifique

Von Helrung eilte aus dem Zimmer. Ich ließ meine Reisetasche auf den Boden fallen, legte mich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und wollte sterben.

* * *

Meine Erschütterung brauchte nicht lange, um der Scham Platz zu machen (Arkwright ist jung und sehr stark und ziemlich klug), und diese nicht, um der Verwirrung zu weichen (Unterschätze ihn nicht, von Helrung. Ich würde ein Dutzend Pierre Lebroques für einen William James Henry eintauschen) und sich dann zu einem weiß glühenden Zornesscheit zu verhärten. Sich derart wegzuschleichen ohne ein Wort der Erklärung, nicht einmal Lebewohl zu sagen – liebevoll oder sonst wie! Der tapferste Mann, den ich je gekannt hatte, ein Feigling! Wie konnte er es wagen, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, nachdem er mir mehr als einmal das Leben gerettet hatte. Du bist das Einzige, das mich noch Mensch bleiben lässt. Ja, ich vermute, das bin ich, Dr. Warthrop, bis Sie jemanden finden, der Sie an meiner Stelle Mensch bleiben lässt. Es machte mich sprachlos; es erschütterte mich bis in die Grundfesten meines Seins. Es spielte keine Rolle, dass er versprochen hatte, zurückzukommen, um mich zu holen. Er hatte mich verlassen; das war es, was eine Rolle spielte.

Zu viel Zeit war vergangen. Ich war zu lange bei ihm gewesen. Zwei Jahre lang hatte er mich an sich gefesselt, ein Staubkorn, gefangen in seiner Jupiterschwerkraft. Ich wusste nicht einmal, wie die Welt ohne den Blick durch die warthropschen Brillengläser aussah. Jetzt waren sie fort, und ich war blind.

»Wir werden ja sehen, wie es Mr Arkwright gefällt!«, sagte ich mir mit bitterer Befriedigung. »›Machen Sie fix, Mr Arkwright! Machen Sie fix!‹ Mal sehen, wie es ihm gefällt, ausgelacht und ausgescholten und verspottet und wie ein Kuli herumkommandiert zu werden! Leg los, Mr Arkwright, und viel Vergnügen!«

Ich weigerte mich zu essen. Ich konnte nicht schlafen. Sämtliche Bemühungen von Helrungs, mich aus dem Zimmer zu locken, scheiterten. Ich saß im Sessel am Kamin und schmollte wie Achill in seinem Zelt, während der Krieg des alltäglichen Lebens ohne mich weitertobte. Am Abend des dritten Tages kam von Helrung mit einem Tablett heißer Schokolade und Gebäck und einem Schachspiel hereingeschlurft.

»Wir werden eine nette Partie Schach spielen, ja? Na, erzähl mir nicht, Pellinore hat versäumt, es dir beizubringen! Ich kenne ihn besser.«

Er hatte es mir beigebracht. Schach war eine der liebsten Zerstreuungen des Monstrumologen. Und wie viele, die das Spiel hervorragend beherrschten, schien er es nie müde zu werden, seinen Gegner bis aufs Äußerste zu demütigen – das heißt mich. Im ersten Jahr unseres Zusammenlebens verschwendete er mehr als nur ein paar Stunden mit dem Versuch, mich in den feineren Aspekten von Strategie, Angriff, Gegenangriff und Verteidigung zu unterweisen. Ich schlug ihn nie, nicht einmal. Er hätte Großmütigkeit über Unbarmherzigkeit walten und mich ein oder zwei Partien gewinnen lassen können, um mein Selbstvertrauen aufzubauen, aber der Doktor hatte nie viel Interesse daran, irgendetwas anderes in mir aufzubauen als einen starken Magen. Außerdem, einen elfjährigen Jungen in sechs Zügen zu vernichten – in einem Spiel, das er länger gespielt hatte als der Junge lebte –, hob seine Stimmung wie ein feiner Wein beim Abendessen.

»Mir ist nicht nach Spielen.«

Er war schon dabei, das Brett aufzubauen. Es war eine Garnitur aus Jade mit in Drachenform geschnitzten Figuren. Der Drachenkönig und die Drachendame trugen Kronen; die Drachenläufer umklammerten Hirtenstäbe mit ihren Krallen.

»Oh, nein, nein! Wir werden spielen. Ich werde es dir beibringen, so wie ich es Pellinore beigebracht habe. Besser, damit du ihn besiegen kannst, wenn er zurückkommt.« Er summte fröhlich vor sich hin.

Ich schleuderte das Brett an die Wand. Von Helrung stieß einen leisen Schrei aus und wimmerte, als er den Drachenkönig aufhob, der seine Krone verloren hatte; sie war abgebrochen, als die Figur auf den Boden gefallen war.

»Dr. von Helrung … Es tut mir leid …«

»Nein, nein«, sagte er. »Das macht nichts. Ein Geschenk meiner lieben Frau, möge sie ungestört ruhen.« Er schniefte. Nicht wissend, wie ich ihn trösten sollte, und verärgert über mein kindisches Wesen, legte ich ihm verlegen die Hand auf die Schulter.

»Ich mache mir ja auch Sorgen, Will«, gestand er. »Die Tage, die vor ihm liegen, werden gefährlich sein und dunkel. Denke daran, wenn dich die Flut des Selbstmitleids unter sich zu begraben droht.«

»Das weiß ich«, erwiderte ich. »Deshalb sollte ich ja bei ihm sein. Er braucht mich nicht, um zu kochen oder sauber zu machen oder Diktate aufzunehmen oder mich um sein Pferd zu kümmern oder irgendetwas dergleichen. Diese Dinge kann jeder erledigen, Dr. von Helrung. Er braucht mich für die dunklen Orte.«

* * *

Am Morgen des siebten Tages traf ein Telegramm aus London ein:

WOHLBEHALTEN ANGEKOMMEN.
WERDE BENACHRICHTIGEN. PXW.

»Vier Wörter?«, stöhnte von Helrung. »Das ist alles, was er zu sagen hat?«

»Ein Überseetelegramm kostet einen Dollar pro Wort«, klärte ich ihn auf. »Der Doktor ist sehr knauserig.«

Von Helrung, der nicht annähernd so reich wie mein Herr oder so pfennigfuchserisch war, schickte diese Antwort zurück:

JEDEN FUND SOFORT MELDEN.
HAST DU DICH MIT WALKER GETROFFEN?
WARTE BEGIERIG AUF DEINE ANTWORT.

Diese Antwort ließ lange – sehr lange – auf sich warten.

* * *

Nachdem zwei Wochen ohne erkennbare Verbesserung meines Zustands vergangen waren, ließ von Helrung seinen Privatarzt, einen Dr. John Seward, kommen, um nach mir zu sehen. Eine Stunde lang wurde ich gestoßen und geschubst, abgeklopft und gekniffen. Ich hatte kein Fieber. Herz und Lunge hörten sich gut an. Die Augen waren klar.

»Nun, er hat Untergewicht, aber er ist klein für sein Alter«, sagte Seward zu von Helrung. »Er könnte auch einen guten Zahnarzt gebrauchen. Ich habe schon sauberere Zähne bei Ziegen gesehen.«

»Ich mache mir Sorgen, John. Seit er hierhergekommen ist, hat er nur wenig geschlafen und noch weniger gegessen.«

»Kann nicht schlafen, hm? Ich werde etwas zusammenmixen, das ihm helfen wird.« Er blickte auf meine linke Hand. »Was ist mit deinem Finger passiert?«

»Doktor Pellinore Warthrop hat ihn mir mit einem Fleischermesser abgehackt«, antwortete ich.

»Wirklich? Und weshalb sollte er das tun?«

»Das Risiko war inakzeptabel.«

»Brand?«

»Pwdre ser

Verwirrt sah Seward von Helrung an, der nervös lachte und mit der Hand eine vage Kreisbewegung machte.

»Ach, die Kinder, ja? So stark, ihre Fantasie!«

»Er hat ihn abgehackt und in ein Einmachglas getan«, sagte ich, während von Helrung, der ein wenig hinter Seward stand, heftig den Kopf schüttelte.

»Tatsächlich? Und warum hat er das gemacht?«

»Er will ihn studieren.«

»Hätte er das nicht können, als er noch fest an deiner Hand war?«

»Mein Vater war ein Bauer«, verkündete von Helrung laut. »Und eines Tages wurde eine Kuh krank; sie legte sich hin, und kein Zureden konnte sie zum Aufstehen bewegen. ›Da kann man nichts mehr tun, Abram‹, sagte mein Vater zu mir. ›Wenn ein Tier so aufgibt, dann hat es den Lebenswillen verloren.‹«

»Ist es das?«, fragte Seward mich. »Hast du deinen Lebenswillen verloren?«

»Ich lebe hier. Ich will nicht hier sein. Ist das dasselbe?«

»Es könnte sich um Melancholie handeln«, mutmaßte der junge Doktor. »Depression. Das würde die Appetit- und Schlaflosigkeit erklären.« Er wandte sich an mich. »Spielst du manchmal mit dem Gedanken, dich umzubringen?«

»Nein. Andere Menschen manchmal.«

»Wirklich?«

»Nein, nicht wirklich«, warf von Helrung ein. Nein!

»Das habe ich auch schon.«

»Du hast …«

»Andere Menschen umgebracht. Ich habe einen Mann namens John Chanler getötet. Er war der beste Freund des Doktors.«

»Was du nicht sagst!«

»Ich glaube nicht, dass er das getan hat!«, blaffte von Helrung in einem Tonfall, der kurz vor dem Schreien war. »Er hat schlimme Träume. Sehr schlimme Träume. Entsetzliche Albträume. Ach je! Er redet über die Träume. Nicht wahr, Will?«

Ich senkte den Blick und sagte nichts.

»Nun, ich kann keine körperlichen Gebrechen bei ihm feststellen, Abram. Vielleicht möchten Sie einen Nervenarzt konsultieren.«

»Offen gesagt habe ich daran gedacht, einen Experten auf dem Gebiet hinzuzuziehen.«

* * *

Der »Experte« traf am folgenden Nachmittag im von helrung’schen Haus in der Fifth Avenue ein – ein leises Klopfen an der Tür, und dann streckte von Helrung seine weiße Mähne ins Zimmer und sagte über die Schulter zu jemandem im Flur: »Gut, er ist vorzeigbar.«

Als Nächstes hörte ich eine Frauenstimme. »Na, das will ich auch hoffen! Du hast ihm doch erzählt, dass ich komme, oder?«

Er trat ein wenig zur Seite, und herein stürmte ein Energiebündel in Lavendelblau, das eine modische Damenhaube und einen dazu passenden Regenschirm trug.

»Das ist also William James Henry«, sagte sie mit kultiviertem Ostküstenakzent. »Guten Tag!«

»Will, darf ich dir meine Nichte, Mrs Nathaniel Bates, vorstellen«, sagte von Helrung.

»Bates?«, wiederholte ich. Ich kannte diesen Namen.

»Mrs Bates, wenn ich bitten darf«, sagte sie. »William, ich habe so viel von dir gehört, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, wir würden uns schon Jahre kennen. Aber steh doch mal auf und lass dich ansehen!«

Sie nahm meine Handgelenke in ihre behandschuhten Hände, streckte meine Arme seitlich aus und schürzte missbilligend die Lippen.

»Viel zu dünn – und wie alt ist er, Onkel? Zwölf?«

»Dreizehn.«

»Hm. Und klein für sein Alter. Gehemmtes Wachstum aufgrund schlechter Ernährung, würde ich sagen.« Sie schielte an ihrer Nase herunter auf mein Gesicht. Sie hatte strahlend blaue Augen wie ihr Onkel. Und wie diese schienen sie mit ihrem eigenen seelenvollen Licht zu leuchten, verständnisvoll, ein bisschen versonnen, liebenswürdig.

»Ich würd nie etwas Schlechtes über einen Gentleman sagen«, fuhr sie fort. »Aber von den Fähigkeiten Dr. Pellinore Warthrops, ein Kind großzuziehen, bin ich nicht beeindruckt. Onkel, wann hat dieses Kind zum letzten Mal ein Bad genommen?«

»Das weiß ich nicht. Will, wie lange ist es her, seit du das letzte Mal gebadet hast?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

»Nun, so wie ich das sehe, liegt da das Problem, William, und das heißt, wenn man sich nicht daran erinnern kann, wann man zum letzten Mal ein Bad genommen hat, dann ist es wahrscheinlich Zeit für eins. Was ist deine Meinung?«

»Ich will kein Bad nehmen.«

»Das ist ein Wunsch, keine Meinung. Wo sind deine Sachen? Onkel Abram, wo sind die Habseligkeiten des Jungen?«

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich ein bisschen flehend zu von Helrung.

»Emily hat großzügigerweise eine Einladung ausgesprochen, dass du ein paar Tage bei ihrer Familie bleibst, Will.«

»Aber ich … ich will keine paar Tage bei ihrer Familie verbringen! Ich will hier bei Ihnen bleiben!«

»Das funktioniert allerdings nicht so gut, oder?«, erkundigte sich Emily Bates.

»Ich werde essen. Ich verspreche es! Ich verspreche es zu versuchen. Und Dr. Seward, er hat mir etwas gegeben, was mir hilft zu schlafen. Bitte!«

»William, Onkel Abram ist vieles – darunter manches Wunderbare und auch manches, worüber ich lieber nicht nachdenken will –, aber wie man ein Kind großzieht, davon hat er nicht die leiseste Ahnung.«

»Aber daran bin ich doch gewöhnt«, argumentierte ich. »Und niemand wird mich großziehen. Das muss keiner. Der Doktor wird bald zurückkommen und …«

»Ja, und wenn es so weit ist, werden wir dich zurückgeben, gesund und munter und sauber. Komm jetzt, William. Nimm mit, was immer du hast; ich bin sicher, es ist nicht viel, aber auch dem kann Abhilfe geleistet werden. Ich werde unten auf dich warten. Es ist sehr warm hier drin, nicht wahr?«

»Ich werde dich hinunterbringen«, bot von Helrung an. Es schien ihm sehr daran gelegen, sich aus meiner Gegenwart zu entfernen.

»Nein, nicht nötig. Auf Wiedersehen, Onkel Abram.« Sie küsste ihn auf beide Wangen und fügte hinzu: »Du hast das Richtige getan.«

»Oh, ich bete darum«, murmelte er.

Und dann waren wir allein.

»Ich werde dir erklären …«, fing er an, und dann zuckte er die Schultern. »Sie hat recht. Ich verstehe nichts von Kindern.«

»Ich gehe nicht!«

»Deine … Situation erfordert die Hand einer Frau, Will. Du bist viel zu lang ohne eine gewesen.«

»Das ist nicht mein Fehler.«

Seine Augen blitzten: Zum ersten Mal verlor er die Geduld mit mir. »Ich rede nicht von Fehler oder Schuld. Ich rede von Abhilfe. Es stimmt, ich habe Pellinore mein Wort gegeben, dass ich in seiner Abwesenheit auf dich achtgeben würde, aber ich habe andere Verpflichtungen, die ich nicht länger vernachlässigen kann.« Er warf sich in die Brust. »Ich bin Präsident der Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft der Monstrumologie, kein Kindermädchen!«

Als er meinen Gesichtsausdruck bei dieser verletzenden Bemerkung sah, wurde seiner sofort weicher. Er legte mir die Hände auf die Schultern.

»Selbstverständlich wirst du der Erste sein, der es erfährt, wenn ich etwas aus Europa höre. Der Erste, der es erfährt, in dem Moment, wo ich es erfahre.«

»Ich will nicht gehen«, sagte ich. »Ich will Sie nicht verlassen. Ich will nicht bei der Familie Ihrer Nichte bleiben, und ich will nicht … Ich will kein Bad.«

Er lächelte. »Du wirst sie mögen, glaube ich. Sie hat ein leidenschaftliches Herz, so wie jemand anders, den du kennst.«