Fünf
»Das eine Heilmittel«
![i14-c.jpg](/epubstore/Y/R-Yancey/Der-monstrumologe-und-die-insel-des-blutes//images/00008.jpeg)
Er driftete in einen Dämmerzustand – nicht wach, nicht richtig schlafend.
Die Morgendämmerung kam. Der Doktor kam nicht mit ihr. Er erschien erst eine Stunde später. Ich fuhr in meinem Sessel zusammen, als die Tür sich öffnete; ich war erschöpft, mit den Nerven am Ende.
»Warum hast du ihn zugedeckt?«, wollte er wissen.
»Ich habe ihn nicht berührt. Ihm war kalt«, fügte ich zu meiner Verteidigung hinzu.
Warthrop zog die Tagesdecke herunter und ließ sie auf den Boden fallen.
»Die gehörte meiner Mutter. Jetzt werde ich sie verbrennen müssen.«
»Es tut mir leid, Sir.«
Er tat meine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Vorsichtshalber – die präzise Toxizität von Pwdre ser ist unbekannt. Seit wann ist er weggetreten?«
»Seit ungefähr anderthalb Stunden.«
»›Ungefähr‹? Hast du denn keine Aufzeichnungen geführt?«
»Ich – ich hatte nichts zum Schreiben, Sir.«
»Will Henry, ich dachte, ich hätte dir die Dringlichkeit dieses Falles eingeprägt, eine der wichtigsten – wenn nicht die wichtigste – Entdeckungen in der Geschichte der Biologie – anomal oder sonstig. Wir müssen peinlich genau sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere persönlichen Neigungen oder Versagen unsere Beobachtungen gefährden … Wann hat sich diese graue Verfärbung zu manifestieren begonnen?«
»Kurz nachdem Sie nach unten gingen«, antwortete ich mit vor Scham brennendem Gesicht. Ich hatte mir den Zeitpunkt nicht notiert. »Es fing mit seiner Hand an …«
»Welcher Hand?«
»Der rechten Hand, Sir.«
»Hm. Leuchtet ein. Dann breitet es sich also schnell aus.«
Das hatte es, erzählte ich ihm. Eine schieferfarbene Flut, die die Hände überschwemmte, dann die Arme, dann den Rumpf, die Leistengegend, die Beine, die Füße. Kendalls Gesicht war eine papierdünne graue Maske, die sich wie das Fell einer Trommel straff über den vorstehenden Knochen spannte.
»Was hat er berichtet?«
»Er hat gesagt, er wird Sie festnehmen und hängen lassen.«
Warthrop seufzte laut. »Über seine Symptome, Will Henry. Seine Symptome!«
Er stand übers Bett gebeugt da und hörte durch sein Stethoskop Kendalls Herz ab.
»Er hat gesagt, ihm sei kalt und dass es sich anfühle, als würde eine riesige Faust ihn ausquetschen.«
Der Doktor hieß mich die Lampe herbringen. Mit großer Vorsicht entfernte er das Tuch, das Kendalls Augen bedeckte, und zog ein Augenlid hoch. Der Augapfel zitterte in seiner Höhle, als würde ihn der heftige Angriff des Lichts wahnsinnig machen.
»Die Pupille ist extrem erweitert. Die Iris ist komplett verschwunden«, stellte er fest.
Er legte Kendall die behandschuhten Finger auf die Wange und übte leichten Druck aus. Die Haut riss unter seiner Berührung entzwei und enthüllte den dunkelgrauen Knochen darunter. Ein zähflüssiges Gemisch aus Eiter und Blut tröpfelte aus der Fissur. Der widerliche Gestank der Verwesung umschwebte unsere Köpfe.
»Sowohl epidermale als auch subkutane Schichten sind in aktiver Verwesung begriffen, das Gewebe hat begonnen, sich zu verflüssigen … Frühe Stadien unvollständiger Osteogenese im Jochbein festgestellt«, flüsterte Warthrop. »Bildung von nichtarthritischen osteophytären Strukturen …«
Er fuhr mit den Händen über das restliche Gesicht, über die Arme, die Brust und den Unterleib, hinunter zu den Beinen. Er hatte seine Lektion gelernt; er drückte nicht fest. Seine Berührung war sanft wie ein Hauch.
»Zusätzliches osteophytäres Wachstum in Ellbogen, Handgelenken, Knöcheln, Knien, Hüften festgestellt … Daran werden wir einige Messungen vornehmen müssen, Will Henry … Akute Myositis im gesamten …« Er warf einen Blick auf meine Aufzeichnungen. »M-y-o, Will Henry, nicht m-i-o … Myositis ist die Entzündung, die du hier in den Skelett- oder willkürlichen Muskeln siehst. Bei diesem Tempo wird unser Mr Kendall in ein paar Stunden einem Muskelmann im Zirkus zu ähneln beginnen – einem hautlosen, sollte ich hinzufügen.«
Er besah sich Kendalls rechte Hand, dann die linke.
»Beachte die anormale Dicke und dunkelgelbe Farbe der Nägel«, sagte er. Er tippte einen davon mit seinem eigenen, im Handschuh steckenden Fingernagel an. »Hart wie Stahl! Dieser Zustand nennt sich Onychauxis.« In einer Anwandlung von Mitgefühl buchstabierte er es für mich.
Er sah zu mir hinüber, und in seinen Augen lag dieser zermürbende hinterleuchtete Glanz.
»Eine exakte Parallele zu den Geschichten in der Literatur, Will Henry«, flüsterte er. »Er ist … am Werden. Und es geschieht schneller, als ich anfangs angenommen hatte.«
»Und Sie denken nicht, ein Krankenhaus …«
»Selbst wenn ich das dächte, befindet sich das nächste Krankenhaus in Boston. Es wäre vorbei, bevor wir dort ankämen.«
»Er liegt im Sterben?«
Warthrop schüttelte den Kopf. Was hatte das zu bedeuten? Bedeutete es, dass Kendall im Sterben lag? Oder bedeutete es, dass der Monstrumologe es nicht mit Gewissheit wusste?
»Gibt es ein Heilmittel dafür?«, fragte ich.
»Nicht meinen Quellen zufolge, die allerdings nicht sehr verlässlich sind. Es gibt natürlich das eine Heilmittel, das allen Gebrechen ein Ende macht.«
Nur ein Monstrumologe, dachte ich, würde den Tod als Heilmittel für irgendetwas beschreiben. Ich beobachtete, wie er die mit dem Morphium geladene Spritze nahm und in der offenen Handfläche hin und her rollte. Sie würde das Leiden des armen Kerls lindern; sie würde ihm vielleicht ein ganz geringes Maß an Frieden schenken. Aber die Droge würde vielleicht auch den Fortschritt von Kendalls Werden stören und damit Warthrops wissenschaftliche Untersuchungen aufs Spiel setzen.
Sie würde, kurz gesagt, den Tempel entweihen.
Kommentarlos legte der Monstrumologe die Spritze weg. Er schien zehn Fuß über der sich windenden Gestalt im Bett aufzuragen, und sein Schatten fiel schwer über diesen locker in seinen Sack aus hauchdünner Haut eingepackten Knochenhaufen.
Er sagte mir, ich solle mich ausruhen; er würde für eine Weile Wache halten.
»Du siehst schrecklich aus«, stellte er sachlich fest. »Du brauchst Schlaf. Wahrscheinlich solltest du dir auch etwas zu essen besorgen.«
Ich warf einen raschen Blick aufs Bett. »Ich bin nicht besonders hungrig, Sir.«
Er nickte. Das ergab Sinn für ihn. »Wo ist mein Revolver? Du hast ihn doch nicht verloren, oder? Danke, Will Henry. Und jetzt ab ins Bett, aber vorher musst du dich noch hierum kümmern.«
Er gab mir einen Zettel, eine in seiner nahezu unleserlichen Klaue flüchtig zu Papier gebrachte Notiz.
»Ein Brief für Dr. von Helrung«, erklärte er. »Du möchtest ihn vielleicht zuerst in deiner eigenen Handschrift neu aufsetzen, Will Henry. Gib ihn als Eilpost mit den Vermerken ›persönlich‹ und ›vertraulich‹ auf!«
»Ja, Sir.«
Ich machte mich auf. Er rief mir hinterher: »Geradewegs hin und wieder zurück, und beeil dich, wenn du heute überhaupt noch schlafen willst!«
Er bewegte sich aufs Bett zu.
»Es scheint sich zu beschleunigen.«
Der Brief an das Oberhaupt der Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft der Monstrumologie war knapp und sachlich:
›PERSÖNLICH UND VERTRAULICH‹
Von Helrung –
Ich bin, unter den ungewöhnlichsten Umständen, in den Besitz eines authentischen Nidus ex magnificum gekommen, auf dem Weg über Dr. John Kearns, den Sie, glaube ich, kennengelernt haben. Erwarten Sie mich noch diese Woche in New York. Geben Sie inzwischen unseren Freunden in London Anweisung, diskrete Nachforschungen über Kearns’ Aufenthaltsort anzustellen. Er arbeitet – oder hat gearbeitet – im Royal London Hospital, Whitechapel, und hat im selben Viertel gewohnt, in einer Wohnung in der Dorset Street, die einem Mr Wymond Kendall, Esq. gehört.
– Warthrop
Ich ging geradewegs zum Postamt und widerstand allen Versuchungen unterwegs, insbesondere Mr Tanners Laden, wo der Wohlgeruch frischer Butterkuchen warm in der Luft hing. Der Wind war schneidend auf meinen Wangen, der Tag strahlend und erfrischend kalt, der Schnee blütenweiß – blendend weiß, makellos, rein. Mein Herz sehnte sich nach dem Schnee.
Ich blieb nur einmal stehen und da nur für einen Moment. Dort, weiß auf weiß im wohltätigen Schnee, mein ehemaliges Schulhaus, und Kinder, die in den Verwehungen spielten. Eine Schlacht tobte um die höchste Stellung; mit gellenden Schreien ließen die Verteidiger ihre hastig zusammengeballte Kanonade über den Köpfen der Angreifer niedergehen. Etwas weiter weg hatte eine Schwadron gefallener Engel ihren Abdruck hinterlassen, und in der Nähe stand ein passables Porträt des Direktors, komplett mit Mütze und Umhang und Spazierstock.
Und ihre Schreie waren dünn, ihr Lachen hoch und hysterisch im beißenden Wind.
Da war ein Junge, den ich erkannte. Er rief etwas von der Kuppe des kleinen Hügels, geduckt hinter den Schutzwall des Forts, und verhöhnte die Stoßtruppen unten, und ich erinnerte mich an ihn. Die leichte Stupsnase. Das zottige blonde Haar. Die Sommersprossenspritzer auf den Wangen. Ich erinnerte mich an alles an ihm, seine hohe Stimme, die Zahnlücke, die Farbe seiner Augen, die Art, wie er zuerst mit diesen Augen lächelte. Man konnte das Lächeln ein Jahr vorher kommen sehen, ehe es da war. Ich erinnerte mich daran, wo er wohnte, wie seine Eltern aussahen. Er war ein Freund von mir gewesen, aber ich konnte mich nicht an seinen Namen erinnern. Wie war sein Name? Er war mein Freund gewesen, mein bester Freund, und ich konnte mich nicht an seinen Namen erinnern.
* * *
Der Doktor stand in der Küche, als ich hereinkam, und aß einen Apfel.
»Du kommst spät«, sagte er. Er klang nicht verärgert, ganz und gar nicht wie er selbst. Er sagte es beiläufig, eine automatische Reaktion auf mein Betreten des Zimmers. »Hast du irgendwo angehalten?«
»Nein, Sir. Geradewegs zum Postamt und wieder zurück.«
Da kam es mir in den Sinn, und mit einem Herzen, in dem Angst und Hoffnung sich in unanständiger Umarmung ineinander verschlangen, fragte ich: »Ist er tot?«
»Nein, aber ich musste etwas essen. Hier, solltest du auch.«
Er warf mir einen Apfel zu und hieß mich, ihm nach oben zu folgen. Ich steckte den Apfel in die Manteltasche; ich hatte keinen Appetit.
»Die sklerosierende Knochendysplasie hat sich verschlimmert«, rief er über die Schulter, während er die Stufen paarweise nahm. »Aber sein Herz ist stark wie das eines Pferdes, seine Lunge sauber, das Blut hoch angereichert mit Sauerstoff. Das Ödem des Muskelgewebes setzt sich unvermindert fort, und …« Er blieb jäh stehen und wirbelte herum, sodass ich ihm fast mit dem Gesicht voran an die Brust geklatscht wäre. »Das ist das Bemerkenswerteste, Will Henry. Obwohl seine Derma weiter nachlässt und verfällt, hat er nicht mehr als eine Teetasse Blut verloren, größtenteils um die Handgelenke und Fußknöchel herum, daher habe ich die Vorsichtsmaßnahme ergriffen, die Fesseln ein wenig zu lockern.«
Ich folgte ihm ins Zimmer. Sofort flog meine Hand hoch, um mir die Nase zuzuhalten; der Gestank war wahrhaft überwältigend. Er senkte sich sengend in meine Lunge. Warum hatte er das Fenster nicht geöffnet? Der Monstrumologe schien nichts zu bemerken; er mampfte weiter seinen Apfel, obwohl ihm gleichzeitig Tränen des Protests über die Wangen rannen.
»Was ist?«, wollte er wissen. »Warum starrst du mich so an? Schau nicht mich an; schau Mr Kendall an!«
Er schubste mich nicht zum Bett hin. Diesen Schritt machte ich selbst.
Er ergriff nicht mein Kinn und zwang mich hinzusehen.
Ich sah hin, weil ich hinsehen wollte. Ich sah hin wegen jenes sich entrollenden Etwas, dem Ungeheuer, dem Ich/Nicht-ich, Tantalus’ Weintrauben, dem Ding, das man nicht benennen kann. Das Ding, das ich kannte, aber nicht verstand. Das Ding, das Sie vielleicht verstehen, aber nicht kennen.
Ich stürzte aus dem Zimmer und schaffte ein Dutzend taumelnder Schritte durch den Flur, ehe ich zusammenbrach. Alles in mir gab nach. Ich fühlte mich leer. Ich war nichts weiter als eine Kontur, eine Hülle, ein leeres Schneckenhaus, das einmal geträumt hatte, ein Junge zu sein.