Fünfundzwanzig

»Dvipa Sukhadhara«

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Mit schmerzgequälter Miene wandte sich von Helrung von seinem Freund ab. »Sie sollten es nicht so nennen.«

»Warum?«, fragte der Monstrumologe ehrlich verwirrt.

»Es sollte nicht so genannt werden!«, insistierte der alte Mann heftig. Aus seinem Augenwinkel quoll eine Träne hervor.

»Wo ist es?«, fragte ich. »Woher ist der Nidus gekommen?« Die zentrale Frage war zu lange unbeantwortet geblieben.

Warthrops Gesicht glühte vor Siegesfreude. »Der Nidus ex magnificum wurde auf der Insel Sokotra entdeckt.«

Von Helrung sah sich um und starrte den Doktor einen langen Moment lang an. »Sokotra!«, flüsterte er. »Die Insel des Blutes!«

»Die Insel des Blutes?«, echote ich. Ich konnte spüren, wie das fest zusammengewickelte Ding im Rhythmus meines Herzens vibrierte.

»Es ist nicht, was du denkst, Will Henry«, sagte der Monstrumologe. »Man nennt es die Insel des Blutes, weil das zufällig die Farbe des Saftes des Drachenblutbaums ist, der dort wächst – die Farbe von Blut. Sokotra hat auch andere Namen – bessere Namen, falls Namen für dich wichtig sind: Insel des Entzückens, Insel des Phönix, Insel der Ruhe, um nur einige zu nennen. Auf Sanskrit heißt sie Dvipa Sukhadhara, die Insel der Glückseligkeit. Unlängst ist sie das Galapagos des Ostens tituliert worden, denn die Insel liegt so isoliert, dass viele ihrer Spezies wie zum Beispiel der Drachenblutbaum nur dort und sonst nirgends auf der Erde zu finden sind …«

»Sokotra ist britisches Protektorat«, sagte von Helrung.

»Das ist richtig«, bestätigte Warthrop. »Und wäre es das nicht, hätte der Nidus nie den Weg ins Londoner East End und in die Fänge Dr. John Kearns’ gefunden. Seit 76, als der Vertrag mit dem Sultan der Insel unterzeichnet wurde, unterhalten die Briten dort eine kleine Präsenz, um ihre Schiffswege von Indien und Westafrika zu schützen.«

»Dann war also der Mann, der den Nidus zu Kearns brachte, ein britischer Soldat oder Seemann?«, fragte von Helrung.

»Kein Mann hat den Nidus zu Kearns gebracht. Ein Mann wurde zu Kearns gebracht, und dieser Mann brachte Kearns zum Nidus, sozusagen. Sobald ich den Mann erst einmal identifiziert hatte, hatte ich meine Antwort. Ich meine natürlich unsere Antwort.«

»Und Kearns’ Antwort – es seinem Auftraggeber weitersagen, dem Zaren von Russland! Sie werden mir diese Frage nachsehen, und ich bete, dass Sie sie mir in demselben Geist des Wohlwollens beantworten, in dem ich sie stelle, aber, sobald Sie die Unholde mit dem versorgt hatten, was sie wollten, wäre es da nicht viel einfacher für sie gewesen, Sie zu töten? Wieso durch das Arrangieren Ihres Aufenthalts in der Hanwell-Irrenanstalt alles aufs Spiel setzen?«

»Hat es Ihnen Arkwright denn nicht erzählt? Ich gehe doch davon aus, dass Sie mich so gefunden haben, durch Arkwright, weil Sie seine Geschichte über mein vorzeitiges Ableben durchschauten.«

»Er hat es nicht gesagt.«

»Sie haben ihn nicht gefragt?«

»Ich konnte nicht«, antwortete von Helrung und wich dem Blick des Doktors aus.

»Und wieso konnten Sie nicht?«, setzte der Doktor ihm zu. Dann beantwortete er sich seine Frage selbst. »Arkwright ist tot, nicht wahr?«

Von Helrung antwortete nicht, also tat ich es. »Dr. Torrance hat ihn umgebracht, Sir.«

»Ihn umgebracht?«

»Sozusagen«, antwortete ich.

»Wie macht man denn etwas Derartiges ›sozusagen‹?«

»Wird in unserem dunklen und schmutzigen Geschäft – unserer ›Wissenschaft‹ – denn nicht alles ›sozusagen‹ gemacht?«, fragte von Helrung bitter. »Pour ainsi dire  ›sozusagen‹?«

* * *

Mit einem Ruck kam unsere Kutsche an exakt derselben Stelle zum Halten, an der unsere Reise begonnen hatte, vor dem Eingang des Great Western Hotels am Bahnhof Paddington. Der Kutscher rief zu uns herunter: »Und ist dies genug für Seine Exzellenz?«

»Ein weiterer Fünfer für weitere fünf Minuten!«, rief Warthrop zurück. Er wandte sich an von Helrung, und in den Augen meines Herrn sah ich dasselbe hinterleuchtete Feuer, das vor einem ganzen Leben im Salon der Fifth Avenue gebrannt hatte – Ich bin derjenige. Ich bin derjenige! Dasselbe Feuer, das ich erst vor zwei Stunden in den Augen eines anderen Mannes brennen sehen hatte. Skrupellos. Ohne Bedenken oder Gewissensbisse.

»Ich werde nach Sokotra reisen«, flüsterte er heiser. »Ich werde den Zug nach Dover nehmen und mich auf dem ersten Dampfer einschiffen. In weniger als vierzehn Tagen werde ich in Aden sein und von dort aus weiter nach Sokotra reisen – falls es mir gelingt, eine Überfahrt zu finden; und falls es mir nicht gelingt, dann schwimme ich hin. Und falls ich nicht hinschwimmen kann, dann werde ich eine Flugmaschine konstruieren und wie Ikarus zum Himmelstor emporsteigen!«

»Aber Ikarus ist nicht emporgestiegen, mein Freund«, murmelte von Helrung. »Ikarus ist gefallen.«

Zum zweiten Mal wandte der ältere Mann sich ab; dieses eigenartige, kalte Feuer in den Augen seines Freundes wollte – oder konnte – er nicht ertragen.

»Ich kann nicht mit Ihnen gehen«, sagte er.

»Ich verlange auch nicht von Ihnen, dass Sie mit mir gehen.«

»Ich werde mit Ihnen gehen!«, sagte ich.

»Nein, nein!«, rief von Helrung. »Will, du begreifst nicht …«

»Ich werde nicht noch einmal zurückbleiben«, sagte ich. Ich drehte mich um und wiederholte es für den Monstrumologen: »Ich werde nicht noch einmal zurückbleiben.«

Warthrop lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloss die Augen. »So müde. Seit Monaten habe ich keine Nacht mehr ordentlich geschlafen.«

»Pellinore, sagen Sie Will, dass er mit mir nach Hause kommt. Sagen Sie es ihm!«

»Sie hätten mich nicht verlassen dürfen«, sagte ich zu Warthrop. »Warum haben Sie mich verlassen?« Ich konnte es nicht länger kontrollieren. Es entleerte sich aus mir, und als ich erst einmal leer war, kontrollierte es mich. »Nichts hiervon wäre passiert, wenn Sie auf mich gehört hätten! Warum haben Sie nicht auf mich gehört? Warum hören Sie nie auf mich? Ich habe Ihnen gesagt, dass er ein Lügner ist. Ich habe Sie gewarnt, dass er ein falsches Spiel treibt! Aber es war einfach wie immer: ›Mach fix, Will Henry! Bring mir meine Instrumente, Will Henry! Bleib die ganze Nacht bei mir sitzen, während ich stöhne und weine und mich selbst bemitleide, Will Henry! Will Henry, sei ein guter Junge und setz dich da hin und schau zu, wie Mr Kendall in seiner eigenen Haut verfault! Halt still jetzt, Will Henry, damit ich dir den Finger mit diesem Küchenmesser abhacken kann! Mach fix, Will Henry! Will Henry! Will Henry! Will Henry!«

Er öffnete die Augen. Er sagte nichts. Er betrachtete meine Tränen. Er studierte mein Gesicht, das aufgewühlt war und brennend heiß. Er beobachtete, wie es sich streckte, das sich loswickelnde Ding, das ich war und nicht-ich, und er konnte es, mich anstarren mit der Haltung eines Menschen, der einer Ameise zusieht, die sich mit einer Last fünfmal so groß wie sie selbst abmüht, denn ich hatte geduldet, dass er lebte, denn ich hatte Jacob Torrance mittels einer monströsen Lüge in den Stand der Wahrheit versetzt.

»Wie sonderbar dann, dass du gern mit mir kommen willst.«

Meister Abram, der meinem Herrn alles beigebracht hatte, was er über Monstrumologie wusste, es aber nicht geschafft hatte, ihm beizubringen, was er, von Helrung, am besten wusste, nahm mich in die Arme und streichelte mir übers Haar. Ich presste das Gesicht in seine Wollweste und roch Zigarrenrauch, und in diesem Moment liebte ich Abram von Helrung, liebte ihn, wie ich seit dem Sturz meiner Eltern in den Abgrund niemanden mehr geliebt hatte, liebte ihn so sehr, wie ich seinen früheren Schüler hasste. Was ist los?, erinnere ich mich panisch gedacht zu haben. Was ist los? Wieso wollte ich diesem Mann folgen? Was war an dem Monstrumologen, was mich verzehrte? Welcher Dämon aus der Tiefe kaute und nagte an meiner Seele wie an der Judas’ im innersten Kreis der Hölle? Wie sah er aus? Was für ein Gesicht hatte er? Wenn ich dieses namenlose Etwas benennen könnte, wenn ich diesem gesichtslosen Ding ein Gesicht aufsetzen könnte, vielleicht könnte ich mich dann aus seiner gefräßigen Umklammerung befreien.

Wir sind alle Jäger. Wir sind, alle von uns, Monstrumologen.