Fünfzehn

»Was du siehst, sieht mein Gott«

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Der Kurator des Monstrumariums tippte mir mit dem höhnisch grinsenden Kopf seines Gehstocks auf die Brust und sagte: »Du darfst nichts berühren. Frag vorher! Immer vorher fragen!«

Ich folgte ihm durch das Gewirr schwach erleuchteter Gänge, die vom Boden bis zur Decke vollgestopft waren mit ungeöffneten, aber noch zu katalogisierenden Kisten, vorbei an Mauern, die mit fünfzig Jahren Ruß überzogen waren und an denen die Spinnweben wie Girlanden hingen, sein Gehstock machte klack, klack, klack auf dem staubigen Boden, und dazu der Geruch nach Konservierungslösung, die Schärfe des Todes auf der Zunge, tiefe Lachen aus Schatten, schwache Halos gelben Gaslichts, und die schreckliche Einsamkeit, nur ein kleines Individuum in einem gewaltigen Raum zu sein.

»Es sieht vielleicht nicht danach aus, aber es gibt für alles einen Platz, und alles ist an seinem Platz. Wenn ein Mitglied dich zufällig um Hilfe bei der Suche nach etwas bitten sollte, hilf ihm nicht! Suche mich. Ich bin nicht schwer zu finden. Normalerweise bin ich an meinem Schreibtisch. Falls ich nicht an meinem Schreibtisch bin, sag ihm, er soll ein andermal wiederkommen. Sag ihm: ›Adolphus ist nicht an seinem Schreibtisch. Das bedeutet, dass er irgendwo im Monstrumarium, für heute nach Hause gegangen oder tot ist.‹«

Wir machten an einer unbeschrifteten Tür halt – dem Kodesh Hakodashim. Geistesabwesend schüttelte er seinen Schlüsselbund. Es war mein Traum, bis hin zum Klirren der Schlüssel.

»Niemand darf hier hinein«, sagte er. »Zutritt verboten!«

»Das weiß ich.«

»Gib keine Antworten! Noch besser, sprich gar nicht! Ich mag keine plappernden Kinder.«

Oder stille Kinder, dachte ich.

»Es ist der Nidus, nicht wahr?«, fragte Adolphus Ainsworth plötzlich. »Die ›dringende Angelegenheit‹. Ha! Warthrop hat es auf das Magnificum abgesehen. Schön, schön. Überrascht mich nicht. Der ewige Kämpfer gegen Windmühlenflügel. Aber was ist mit dir, Sancho Pansa? Wieso bist du nicht mit ihm gegangen?«

»Er hat einen anderen an meiner statt mitgenommen.«

»Einen anderen was

»Dr. von Helrungs neuen Schüler, Thomas Arkwright.«

»Arschbreit?«

»Arkwright!«, rief ich.

»Bin dem Mann nie begegnet. Sein Schüler, sagst du?«

»Er muss Sie mit ihm bekannt gemacht haben.«

»Wieso muss er das? Gestern war das erste Mal seit sechs Monaten, dass ich den alten Furz gesehen habe. Er kommt nie hier runter. Wie auch immer, was kümmert mich von Helrungs Schüler oder sonst jemandes, was das betrifft? Hier ist die Chose, Master Henry: Du solltest dich nie mit einem Monstrumologen anfreunden, und ich kann dir auch sagen warum. Willst du wissen warum?«

Ich nickte. »Ja, das würde ich gern.«

»Weil sie nicht besonders lang da sind. Sie sterben!«

»Jeder stirbt, Professor Ainsworth.«

»Nicht wie Monstrumologen, so nicht. Nun, sieh mich an. Ich hätte einer sein können. Bin mehr als einmal gefragt worden, bei einem in die Lehre zu gehen, als ich jünger war. Hab immer nein gesagt, und ich will dir auch verraten wieso. Weil sie sterben. Sie sterben in hellen Scharen! Sie sterben wie Truthähne am Thanksgiving Day! Und ihr Ableben ist nicht von der normalen vorzeitigen Art. Du weißt, was ich meine. Ein Mann fällt aus einem Boot und ertrinkt. Oder ein Pferd tritt ihm an den Kopf. Das ist ein Unfall; das ist natürlich. Von etwas in Stücke gerissen zu werden, wonach man gesucht hat, das ist unnatürlich; das ist monstrumologisch.«

Im Monstrumarium, im Flur vor dem Verschlossenen Raum, klirrten seine Schlüssel.

»’s ist schade«, sagte Adolphus nachdenklich. »Ich mochte Warthrop nicht besonders, aber ich konnte ihn ertragen. Nicht viele Menschen wissen, wo sie mit sich dran sind. Er wusste es und entschuldigte sich nicht dafür. Die meisten Menschen haben das Gesicht, das sie der Welt zeigen, und das andere Gesicht, das Gesicht, das nur Gott sieht. Warthrop war Warthrop bis ins Mark. ›Was du siehst, sieht mein Gott‹, war sein Motto.« Er seufzte und schüttelte seinen verdorrten Schädel. »’s ist schade.«

»Das sollten Sie nicht sagen, Professor Ainsworth. Wir haben zwar bisher noch nichts von ihm gehört, aber das bedeutet nicht …«

»Er ist auf die Jagd nach dem Magnificum gegangen, oder? Und er ist Pellinore Warthrop, oder? Nicht die Art Mann, die mit eingeklemmtem Schwanz heimhumpelt. Nicht die Art, die jemals aufgibt. Nein, er nicht. Nein, nein, nein. Du wirst deinen Boss nicht wiedersehen, Junge.«

Vor dem Allerheiligsten stehend, mit den Schlüsseln klirrend.

* * *

Ich traf von Helrung in seinen Büros im ersten Stock an. Das Oberhaupt der Monstrumologischen Gesellschaft schlurfte in alten Pantoffeln mit einer Gießkanne herum und kümmerte sich um seine Philodendren auf der staubigen Fensterbank.

»Ah, Master Henry, hat Adolphus dich schon an die Luft gesetzt?«

»Dr. von Helrung«, sagte ich, »haben Sie jemals Mr Arkwright hinunter ins Monstrumarium mitgenommen?«

»Habe ich was?«

»Mr Arkwright ins Monstrumarium mitgenommen.«

»Ich glaube nicht, nein. Nein, habe ich nicht.«

»Oder ihn wegen irgendetwas dorthin geschickt?«

Er schüttelte den Kopf. »Wieso fragst du, Will?«

»Professor Ainsworth ist ihm nie begegnet. Er hat noch nicht einmal von ihm gehört.«

Er stellte die Gießkanne ab, lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die dicken Arme vor der Brust. Er betrachtete mich nüchtern, während sich seine stoppeligen weißen Augenbrauen furchten.

»Ich verstehe nicht«, sagte er.

»An dem Abend, als er den Doktor kennenlernte, sagte Mr Arkwright, er wüsste wegen des Geruchs, dass wir im Monstrumarium waren. ›Der Geruch umgibt Sie wie ein übel riechendes Parfum.‹ Erinnern Sie sich?«

Von Helrung nickte. »Ja.«

»Dr. von Helrung, wie kann Mr Arkwright wissen, dass es dort nach irgendetwas riecht, wenn er nie da gewesen ist?«

Meine Frage hing eine lange Zeit in der Luft, eine andere Art übel riechendes Parfum.

»Du bezichtigst ihn der Lüge?« Sein Stirnrunzeln vertiefte sich.

»Ich weiß, dass er gelogen hat. Ich weiß, dass er gelogen hat, als er behauptet hat, er habe sich als Schüler bei Dr. Warthrop beworben, und jetzt weiß ich auch, dass er gelogen hat, als er erklärte, woher er wusste, dass wir im Monstrumarium waren.«

»Aber ihr wart ja im Monstrumarium gewesen.«

»Das spielt keine Rolle! Wichtig ist, dass er gelogen hat, Dr. von Helrung.«

»Das kannst du nicht mit Gewissheit sagen, Will. Adolphus, Gott segne ihn, ist ein alter Mann, und sein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war. Und er schläft oft an seinem Schreibtisch ein. Thomas könnte das Monstrumarium in aller Ruhe erkundet haben, und Professor Ainsworth würde nichts davon wissen.«

Er legte mir die Hand auf die Wange. »Die Sache war schwer für dich, das weiß ich. Alles, was du auf der Welt hast, alles, was du verstehst, alles, wovon du geglaubt hast, du könntest dich darauf verlassen – puff! In einem Augenblick verschwunden. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst; ich weiß, dass du das Schlimmste fürchtest; ich weiß, welche Schrecken das Vakuum der Stille füllen können!«

»Irgendetwas stimmt nicht«, flüsterte ich. »Es sind jetzt fast vier Monate.«

»Ja.« Er nickte ernst. »Und du musst dich auf das Schlimmste gefasst machen, Will. Nutze diese Tage, um deine Nerven dafür zu stählen – nicht um dich wegen Thomas Arkwright und diesen Vorstellungen von Falschheit zu quälen. Es ist einfach, in jedem Schatten Schurken zu sehen, und sehr schwierig, das Beste im Menschen anzunehmen, besonders in der Monstrumologie – denn unsere Sicht der Welt ist verdreht, aufgrund dieses unseres Studienobjekts. Aber Hoffnung ist nicht weniger sachlich als Verzweiflung. Es ist immer noch unsere Entscheidung, ob wir im Licht leben oder uns ins Dunkel niederlegen.«

Ich nickte. Seine besänftigenden Worte brachten jedoch keinen Trost. Ich war zutiefst beunruhigt.

* * *

Ich denke, es ist ein Maß für das Ausmaß meiner Besorgnis, dass ich meine größte Angst der letzten Person, von der ich glaubte, sie könnte ein Geheimnis für sich behalten, anvertraute. Es entschlüpfte mir eines Nachmittags über einer Partie Schach im Washington Square Park. Schach war eigentlich meine Idee gewesen. Wenn ich, sagte ich mir, mehr übte, dann könnte ich den Doktor, bis er zurückkam, vielleicht schlagen – und das wäre natürlich ein Ding! Lilly nahm meine Herausforderung an. Sie hatte das Spiel von ihrem Onkel Abram gelernt und war ausgesprochen wetteifernd. Lillys Spielstil war aggressiv, impulsiv und intuitiv, nicht so sehr verschieden von dem Mädchen selbst.

»Du brauchst so lang!«, beschwerte sie sich, als ich mit einer Entscheidung wegen meines Turms rang. Er saß zwischen ihrer Dame und einem Bauern in der Falle. »Kommt es auch mal vor, dass du einfach nur irgendetwas machst? Es einfach machst, ohne darüber nachzudenken? Neben dir wirkt Prinz Hamlet regelrecht impulsiv!«

»Ich denke nach«, antwortete ich.

»Oh, du denkst die ganze Zeit nach, William James Henry! Du denkst zu viel. Weißt du, was mit jemandem passiert, der zu viel nachdenkt?«

»Weißt du es denn?«

»Ha, ha. Ich nehme an, das war ein Witz. Du solltest keine Witze machen. Menschen sollten ihre Grenzen kennen.«

Ich verabschiedete mich von meinem Turm und zog den Läufer vor, um ihren Springer zu bedrohen. Sie kickte meinen Turm mit der Dame vom Brett.

»Schach!«

Ich seufzte. Ich spürte ihren Blick auf mir, während ich das Brett studierte. Ich zwang mich dazu, nicht hochzusehen. Der leichte Wind kitzelte das neue Laub der Bäume; die Frühlingsluft war sanft und roch nach ihrer Lavendelseife. Ihr Kleid war gelb, und sie trug einen weißen Hut mit einem gelben Band und einer großen gelben Schleife. Selbst mit neuer Garderobe und einem frischen Haarschnitt kam ich mir neben ihr schäbig vor.

»Immer noch keine Nachricht von deinem Doktor?«

»Ich wünschte, du würdest es nicht auf diese Weise sagen«, erwiderte ich, ohne aufzublicken. »Er ist nicht ›mein‹ Doktor.«

»Nun, wenn er nicht deiner ist, dann würde ich zu gern wissen, wessen Doktor er ist. Und versuch nicht, das Thema zu wechseln!«

»Einer der Vorteile zu vielen Nachdenkens«, sagte ich, »ist es, dass einem die Kleinigkeiten auffallen, Dinge, die anderen Leuten entgehen. Du sagst ›dein Doktor‹ absichtlich auf die Art, weil du weißt, dass es mich ärgert.«

»Und wieso sollte ich das tun?« Ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme.

»Weil du es genießt, mich zu ärgern. Und bevor du fragst, wieso du es genießt, mich zu ärgern, schlage ich vor, du stellst dir diese Frage selbst. Ich weiß es nämlich nicht.«

»Du hast ja eine Laune!«

»Ich verliere nicht gerne.«

»Du warst schon schlecht gelaunt, bevor wir anfingen zu spielen.«

Ich zog meinen König aus der Gefahrenzone. Sie warf kaum einen Blick aufs Brett, bevor sie zuschlug und meinen letzten Läufer nahm. Innerlich ächzte ich: Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.

»Du kannst dich jederzeit geschlagen geben«, regte sie an.

»Ich werde kämpfen, bis der letzte Tropfen Blut vergossen ist!«

»Oh! Wie gänzlich un-Will-Henry-ähnlich! Gerade hast du dich ganz wie ein Macher angehört. Wie Leonidas an den Thermopylen.«

Meine Wangen waren warm. Aber ich hätte es besser wissen müssen, als zu selbstzufrieden zu werden.

»Und die ganze Zeit dachte ich an dich als Penelope.«

»Penelope!« Meine Wangen wurden heißer, obgleich aus einem ganz anderen Grund.

»Die sich in deinem Brautgemach vor Kummer verzehrt, während sie darauf wartet, dass Odysseus aus dem Krieg heimkehrt.«

»Macht es dir eigentlich Freude, gemein zu sein, Lilly, oder ist es etwas, was du nicht abstellen kannst, so wie ein nervöses Zucken?«

»Du solltest nicht so mit mir sprechen, William«, sagte sie lachend. »Bald werde ich deine große Schwester sein.«

»Nicht wenn der Doktor ein Wörtchen mitzureden hat!«

»Ich würde meinen, dein Doktor wäre erleichtert. Ich war nicht viel in seiner Nähe, aber ich hatte das Gefühl, er mochte dich nicht.«

Sie war zu weit gegangen, und sie wusste es. »Das war gemein«, sagte sie. »Es tut mir leid, Will. Ich … ich weiß nicht, was manchmal in mich fährt.«

»Nein«, sagte ich und winkte mit meiner verletzten Hand ab. »Du bist am Zug, Lilly.«

Sie zog mit dem Springer, ohne die Dame vor meinem Bauern in Sicherheit zu bringen. Einem Bauern! Ich warf einen verstohlenen Blick zu ihr hoch. Tupfen von Sonnenlicht schimmerten in ihrem dunklen Haar, von dem sich eine Strähne unter ihrem Hut gelöst hatte und wie ein launenhafter schwarzer Wimpel in der sanften Frühlingsbrise flatterte.

»Was denkst du, wieso du nichts von ihm gehört hast, Will?«, fragte sie. Die Klangfarbe ihrer Stimme hatte sich verändert, war jetzt so weich wie der Wind.

»Ich glaube, dass etwas Furchtbares passiert ist«, gestand ich.

Wir blickten einander einen langen Moment in die Augen, und dann war ich von der Bank hoch und trabte durch den Park, und die Welt war wässrig grau geworden, ihres frühlingshaften Pulsschlags beraubt. Bevor ich den Ausgang in der Fifth Avenue erreicht hatte, holte sie mich ein und zog mich herum, sodass mein Gesicht ihr zugewandt war.

»Dann musst du etwas unternehmen!«, sagte sie wütend. »Nicht darüber nachdenken, wie verängstigt du bist oder wie einsam du bist oder was auch immer es ist, worüber du nachdenkst! Glaubst du denn wirklich, dass etwas Furchtbares passiert ist? Denn wenn ich glauben würde, dass jemandem, den ich liebe, etwas Furchtbares passiert ist, würde ich nicht mit einer Leichenbittermiene herumlaufen und darüber nachdenken: Ich wäre auf dem nächsten Schiff nach Europa! Und wenn ich kein Geld für eine Fahrkarte hätte, würde ich mich als blinder Passagier an Bord schleichen, und wenn ich mich nicht als blinder Passagier an Bord schleichen könnte, würde ich hinschwimmen

»Ich liebe ihn nicht. Ich hasse ihn. Ich hasse Pellinore Warthrop mehr, als ich irgendetwas anderes hasse. Mehr als ich dich hasse. Du weißt es nicht, Lilly. Du weißt nicht, wie es gewesen ist, dort in diesem Haus zu leben, und was in diesem Haus geschieht und was geschieht, weil ich in diesem Haus lebe …«

»Wie das hier?« Sie nahm meine linke Hand in ihre.

»Ja, wie das. Und das ist nicht alles, nicht das Ganze.«

»Er schlägt dich?«

»Was? Nein, er schlägt mich nicht. Er … Er sieht mich nicht. Es vergehen Tage, manchmal Wochen … Und dann kann ich ihm nicht entkommen; ich kann nicht weg. Als ob er einen Strick genommen und uns damit zusammengebunden hätte. Und es sind er und ich und dieser Strick, und da gibt es kein Losbinden. Das ist das, was du nicht verstehst, was deine Mutter nicht versteht, was niemand versteht. Er ist Tausende von Meilen weit weg – vielleicht sogar tot –, und es spielt keine Rolle. Er ist genau hier, genau hier.« Ich schlug mir mit der flachen Hand hart an die Stirn. »Und es gibt kein Entkommen. Es ist zu eng, zu eng

Meine Knie gaben unter mir nach. Sie schlang die Arme um mich und hielt mich fest. Sie hielt mich davon ab zu fallen.

»Dann versuch es nicht, Will«, flüsterte sie in mein Ohr. »Versuch nicht, zu entkommen.«

»Du verstehst es nicht, Lilly.«

»Nein«, sagte sie. »Ich verstehe es nicht. Aber ich bin auch nicht diejenige, die es verstehen muss.«